Verfolgte Richterin in Afghanistan: Ist da jemand?
Shalima ist eine mutige Frau, aber was bedeutet das in diesen Tagen? Vor zwei Wochen wurde ihre beste Freundin, die als Kanzleikraft an ihrem Gericht arbeitete, tot aufgefunden.
Shalima ist 42 Jahre alt und Richterin am Supreme Court in Kabul. Seit Tagen lebt sie in einem Keller irgendwo in der molochartig gewachsenen Hauptstadt des Landes, in einem aufgelassenen Lager, das schon lange niemand mehr benutzt hat. Ein blasses, müdes Gesicht erscheint auf dem Handy. Unter den Augen tiefe Schatten. Im Hintergrund Stellagen mit Dingen, die man im Alltag braucht. Überall Tücher, Decken, Polster. Ein junges Mädchen huscht durch das Bild wie ein Geist, das Gesicht abgewandt – die kleine Schwester, die an der Universität von Kabul studiert hat. Eine andere Frau faltet die Decken der vergangenen Nacht. Sie ist Ärztin. Die dritte Schwester hat bis vor wenigen Tagen noch an einer Schule unterrichtet. Der einzige Mann in diesem Versteck, ihr Bruder, ist halb blind. Er verlor 2009 bei einem Anschlag der Taliban ein Auge und seine Zuversicht.
Der Vater der Familie, einst eine anerkannte Autorität im afghanischen Justizministerium, war damals im Fond seines Dienstwagens mit vier Schüssen exekutiert worden. Die Mutter, die Dame des Hauses, gebildet, eine Frauenrechtlerin, war mit Leidenschaft Lehrerin gewesen. Sie ist heute eine gebrechliche Greisin, 81 Jahre alt. Mit der Geschichte und dem Wissen dieser Familie könnte ein Staatswesen gebaut werden. Aber das ist gerade wie ein Kartenhaus zusammengefallen.
„Ich habe Angst. Ich kann nicht schlafen. Ich vermisse – alles“, sagt die Richterin. Ihre Stimme klingt müde und monoton. Das Reden fällt ihr schwer.
Die Frauen haben einen Plan. Sie werden im Keller einen Schlupfwinkel mauern oder einen Holzverschlag bauen, in den sie hineinkriechen können, wenn es draußen laut wird.
Die verlassenen Räume hat lang keiner mehr betreten. Kommt jemand, bedeutet das nichts Gutes. Ihre Zuflucht wirke von außen wie ein Abbruchgebäude, sagt Shalima. Irgendwann werden die Lebensmittel ausgehen, und früher schon wird das Handy-Guthaben aufgebraucht sein. Dann wird sich die Mutter allein auf die Straße wagen, weil eine alte Frau, die schwer geht, nicht auffällt. Und sie werden beten, dass niemand der alten Frau folgt. Und sie werden erst wieder aus ihrem geheimsten Versteck hervorkommen, wenn die Mutter nach der Rückkehr ein Zeichen gibt, dass keine Gefahr droht. Größere Pläne gibt es nicht. Alles darüber hinaus sind Träume. Alpträume.
Frauen des öffentlichen Lebens sind in Afghanistan in diesen Tagen in Lebensgefahr. Auf Richterinnen zielt der besondere Hass der neuen Herrscher. Dafür gibt es Hinweise.
Im Jänner 2021 waren zwei Richterinnen, Kolleginnen von Shalima, in Kabul auf offener Straße erschossen worden.
Von Anfang Februar 2021 datiert ein Schreiben aus dem Gerichtsstand Herat: Eine Gruppe des Islamischen Staats (IS) plane, 30 Richterinnen in Kabul, sechs in Herat, sechs in Mazar-i-Sharif zu exekutieren. Kaum vier Wochen später gab die Justizbehörde eine weitere Warnung heraus: Richterinnen mögen sich nicht allein auf der Straße zeigen, sie sollten dem Gericht Uhrzeit und Ort melden, wenn ihnen etwas auffalle.
Am 3. Juni 2021 die Meldung: Neun Männer eines Kommandos seien unterwegs. Sie würden die Autos der Richterinnen ausspähen, Farbe, Kennzeichen und Zeitpunkt ihres Kommens und Gehens notieren. Es werde dringend empfohlen, das Telefon nicht abzuheben, wenn man die Nummer nicht kenne, und nie allein auf die Straße zu gehen.
Und: Ein bekannter Taliban sei aus dem Gefängnis entlassen worden. Dessen Leute wüssten, „wo unsere Richterinnen wohnen“. Sie sollten nachts in ihren Häusern wachsam sein. Auch Familienmitglieder seien in Gefahr. „Wir schützen unsere Richterinnen“, wird in dem Rundmail versichert. (profil hat sich die Dokumente kursorisch übersetzen lassen.)
„Ich habe vier Schwestern, einen Bruder und meine Mutter im Keller“, sagt Omar K. mit gepresster Stimme, übernächtigt, in seiner kleinen Wohnung in Salzburg. Gemeinsam starren wir auf das Handy. „Wenn eine von uns rausgeht, sind alle anderen dran“, sagt Shalima und senkt den Blick. Auch der Bruder tut sich schwer, seiner Schwester in die Augen zu schauen. Er fühlt sich hilflos. Er kann nichts tun. Als sie vergangene Woche miteinander telefonierten, hatte Shalima eine Giftkapsel in der Hand und meinte, wenn die Taliban uns entdecken, ist es sowieso aus.
WhatsApp ist ihr einziges Fenster zur Welt draußen. Das ist derzeit Österreich, der Bruder in Salzburg, weit entfernte afghanische Verwandte in Wien.
Omar K. quält sich mit sinnlosen Überlegungen. Hätte es ihn nicht schon vor Jahren aus privaten Gründen nach Österreich verschlagen, könnte er heute seine Familie retten. Vielleicht wären sie schon in Sicherheit, wären Teil des Menschengewimmels im Bauch der US-Transportmaschine gewesen. Bis 2013 hatte Omar K. für Befehlshaber der US-Kräfte, der NATO und der afghanischen Regierung gedolmetscht, er war bei Kampfeinsätzen dabei, er wurde verwundet. Jetzt muss er auf das Herz der Österreicher hoffen.
An jenem Sonntag, als Kabul in die Hände der Taliban fiel, um 10.30 Uhr vormittags Ortszeit, stürzten Männer des Sicherheitsdiensts in das Hochhaus, in dem der Supreme Court untergebracht ist, und schrien: Frauen raus, sofort. Präsident Aschraf Ghani sei nicht mehr in seinen Amtsräumen. Shalima entledigte sich ihres Talars, packte ihre Handtasche und schlich stundenlang auf Umwegen zu ihrem Versteck, das sie schon eine Woche zuvor eingerichtet hatten.
Zwei Stunden später waren die Taliban im Gericht. Und am selben Tag vor dem Haus der bekannten Familie der Richterin. Vor dem fünfstöckigen Wohnhaus im Villenviertel von Kabul, mit seinen 21 Zimmern und kostbarem Interieur. Nach Angaben der Nachbarn, so Omar K., schütteten die Männer Benzin rund ums Haus und zündeten es an. Heute soll dort eine ausgeräucherte Ruine stehen. Sagen die Nachbarn, sagt Omar K.
Die afghanische Familie, gebildet, religiös und polyglott, hat keine Kontakte zu europäischen oder amerikanischen Militärdienststellen, Politikern oder Diplomaten.
Shalima spricht manchmal über WhatsApp mit ihren Kolleginnen. Sie haben eine Gruppe eingerichtet. Alle halten sich versteckt. Jede Familie versucht auf eigenen Wegen der Todesgefahr zu begegnen.
Shalima war am Supreme Court für die Bereiche Familie – Scheidungen, Sorgerecht – und wirtschaftsrechtliche Fälle zuständig. Sie leitete eine Abteilung. Sie hat Recht gesprochen und so manchen Taliban oder Talibansympathisanten ins Gefängnis gebracht. Einige von ihnen wurden in den vergangenen Wochen entlassen. Sie kennen das Gesicht der Richterin. Sie hat Urteile unterschrieben.
300 Richterinnen gibt es in Afghanistan. Es ist eines der angesehensten Ämter, das Frauen in der islamischen Republik bekleiden konnten. Dass eine Frau Richterin ist, widerspricht der Scharia, wie sie von den Taliban ausgelegt und durchgesetzt wird. Aber auch für andere Berufsgruppen wird es eng. In nationalen TV-Sendern dürfen einige Journalistinnen nicht mehr arbeiten. Vielleicht bald keine mehr, befürchtet Shalima.
Für die Frauen im Keller und ihren Bruder in Österreich ist die Rettung so nah und doch so fern. Das Versteck ist gerade einmal 15 Minuten vom Flughafen in Kabul entfernt. profil hat die Kontaktdaten der Richterin auf ihren Wunsch an das österreichische Außenministerium und an das österreichische Justizministerium geschickt. Ist da jemand?