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„Die Kinder fragen jeden Tag“

Zehn Familienmitglieder von Shaked Haran wurden am 7. Oktober von der Hamas verschleppt. Ein Teil von ihnen ist zurück in Freiheit. Aber einer fehlt.

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Shaked Haran biegt mit einem Kinderwagen im fünften Geschoß des Gebäudes der profil-Redaktion um die Ecke. Sie hält ein Baby am Arm: Ora, ein Mädchen, ist sechs Monate alt. Im Dezember des vergangenen Jahres, als Shaked mit Ora hochschwanger war, blickte die werdende Mutter vom Cover der profil-Ausgabe Nummer 49. Shaked Haran und ihre Familie waren „Menschen des Jahres“ dieses Magazins. Der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 hatte sie auf unbeschreiblich grausame Weise getroffen. Drei Familienmitglieder waren getötet worden: Shakeds Vater Avshalom, ihre Tante Lilach und ihr Onkel Eviatar. Sieben weitere wurden in den Gazastreifen verschleppt.

Das Cover

Shaked Haran war als Mensch des Jahres 2023 auf dem Cover des profil. Damals war sie mit ihrer Tochter schwanger. 

Das Cover-Foto von Shaked wurde im Gang des Sheba-Krankenhauses in Tel Aviv aufgenommen. An diesem Ort konnte Shaked in den frühen Morgenstunden des 26. November ihre Angehörigen (siehe Stammbaum weiter unten) in die Arme nehmen, die nach 52 Tagen in Geiselhaft der Hamas im Rahmen eines Deals freigelassen worden waren:

Ihre Mutter Shoshan Haran, 68.

Ihre Schwester Adi Shoham, 38.

Ihre Nichte Yahel, 4 und ihr Neffe Naveh, 8.

Ihre Tante Sharon Avigdori, 52, und deren Tochter Noam, 12.

Nur einer kam nicht nach Hause 

Einer wird bis heute als Geisel festgehalten: Tal Shoham, 39. Er ist der Ehemann von Shakeds Schwester Adi Shoham und der Vater von Yahel und Naveh. Seit mehr als acht Monaten gibt es keine Nachricht von ihm, kein Lebenszeichen.

„Solange Tal nicht zurück ist, können wir nicht verarbeiten, was passiert ist. Wir können nicht heilen“, sagt Shaked. Und: „Wir wollen einfach nur die Tür hinter uns schließen und Luft holen.“ Ihre Familie könne es sich nicht leisten, jetzt zusammenzubrechen. So schildern es auch Menschen, die sie in dieser schweren Zeit begleiten und mit denen profil gesprochen hat: Tals Angehörige funktionieren, weil sie müssen.

Solange Tal nicht zurück ist, können wir nicht verarbeiten, was passiert ist. Wir können nicht heilen

Shaked Haran

Shaked und ihre Familie sprechen mit Medien, treffen Regierungspolitiker aus Österreich, Vertreter der katholischen Kirche, Diplomaten aus Katar und den USA, telefonieren mit ihrer Kontaktperson in der israelischen Armee. Tals achtjähriger Sohn Naveh schrieb sogar einen Brief an den Vatikan. Darin heißt es: „Ich hoffe, die Welt vergisst nicht, dass er (sein Vater, Anm.) immer noch gefangen ist. Wir haben einen kleinen Tisch in unserem Haus, den wir unseren ‚Tisch der Hoffnung‘ nennen. Hier zünden wir Kerzen an und beten für das Wohl und die Freilassung unseres Vaters.“ Naveh schreibt in seinem Brief auch, dass er oft an die Kinder in Gaza denke und sich wünscht, dass sie wieder in Frieden leben können.

Naveh hat von Papst Franziskus tatsächlich eine Antwort bekommen: „Ich bete mit dir, speziell für deinen Vater Tal, und hoffe aufrichtig, dass du ihn bald wieder umarmen kannst.“

An diesem Montag Mitte Juni sitzt Naveh mit seiner vier Jahre alten Schwester Yahel mit am Besprechungstisch in der profil-Redaktion. Die Geschwister malen, während ihre Tante spricht. Es ist schwer in Worte zu fassen, was diese Kinder am 7. Oktober und in über 50 Tagen Geiselhaft erlebt haben. Alles hatte mit einer harmlosen Frage begonnen, die sich viele Jungfamilien über die Feiertage stellen: Fahren wir am Wochenende zu den Großeltern oder nicht?

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.