Shaked Haran biegt mit einem Kinderwagen im fünften Geschoß des Gebäudes der profil-Redaktion um die Ecke. Sie hält ein Baby am Arm: Ora, ein Mädchen, ist sechs Monate alt. Im Dezember des vergangenen Jahres, als Shaked mit Ora hochschwanger war, blickte die werdende Mutter vom Cover der profil-Ausgabe Nummer 49. Shaked Haran und ihre Familie waren „Menschen des Jahres“ dieses Magazins. Der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 hatte sie auf unbeschreiblich grausame Weise getroffen. Drei Familienmitglieder waren getötet worden: Shakeds Vater Avshalom, ihre Tante Lilach und ihr Onkel Eviatar. Sieben weitere wurden in den Gazastreifen verschleppt.
Shaked Haran war als Mensch des Jahres 2023 auf dem Cover des profil. Damals, im Dezember 2023, war sie mit ihrer Tochter schwanger.
Das Cover
Shaked Haran war als Mensch des Jahres 2023 auf dem Cover des profil. Damals war sie mit ihrer Tochter schwanger.
Das Cover-Foto von Shaked wurde im Gang des Sheba-Krankenhauses in Tel Aviv aufgenommen. An diesem Ort konnte Shaked in den frühen Morgenstunden des 26. November ihre Angehörigen (siehe Stammbaum weiter unten) in die Arme nehmen, die nach 52 Tagen in Geiselhaft der Hamas im Rahmen eines Deals freigelassen worden waren:
Ihre Mutter Shoshan Haran, 68.
Ihre Schwester Adi Shoham, 38.
Ihre Nichte Yahel, 4 und ihr Neffe Naveh, 8.
Ihre Tante Sharon Avigdori, 52, und deren Tochter Noam, 12.
Nur einer kam nicht nach Hause
Einer wird bis heute als Geisel festgehalten: Tal Shoham, 39. Er ist der Ehemann von Shakeds Schwester Adi Shoham und der Vater von Yahel und Naveh. Seit mehr als acht Monaten gibt es keine Nachricht von ihm, kein Lebenszeichen.
„Solange Tal nicht zurück ist, können wir nicht verarbeiten, was passiert ist. Wir können nicht heilen“, sagt Shaked. Und: „Wir wollen einfach nur die Tür hinter uns schließen und Luft holen.“ Ihre Familie könne es sich nicht leisten, jetzt zusammenzubrechen. So schildern es auch Menschen, die sie in dieser schweren Zeit begleiten und mit denen profil gesprochen hat: Tals Angehörige funktionieren, weil sie müssen.
Solange Tal nicht zurück ist, können wir nicht verarbeiten, was passiert ist. Wir können nicht heilen
Shaked Haran
Shaked und ihre Familie sprechen mit Medien, treffen Regierungspolitiker aus Österreich, Vertreter der katholischen Kirche, Diplomaten aus Katar und den USA, telefonieren mit ihrer Kontaktperson in der israelischen Armee. Tals achtjähriger Sohn Naveh schrieb sogar einen Brief an den Vatikan. Darin heißt es: „Ich hoffe, die Welt vergisst nicht, dass er (sein Vater, Anm.) immer noch gefangen ist. Wir haben einen kleinen Tisch in unserem Haus, den wir unseren ‚Tisch der Hoffnung‘ nennen. Hier zünden wir Kerzen an und beten für das Wohl und die Freilassung unseres Vaters.“ Naveh schreibt in seinem Brief auch, dass er oft an die Kinder in Gaza denke und sich wünscht, dass sie wieder in Frieden leben können.
Naveh hat von Papst Franziskus tatsächlich eine Antwort bekommen: „Ich bete mit dir, speziell für deinen Vater Tal, und hoffe aufrichtig, dass du ihn bald wieder umarmen kannst.“
An diesem Montag Mitte Juni sitzt Naveh mit seiner vier Jahre alten Schwester Yahel mit am Besprechungstisch in der profil-Redaktion. Die Geschwister malen, während ihre Tante spricht. Es ist schwer in Worte zu fassen, was diese Kinder am 7. Oktober und in über 50 Tagen Geiselhaft erlebt haben. Alles hatte mit einer harmlosen Frage begonnen, die sich viele Jungfamilien über die Feiertage stellen: Fahren wir am Wochenende zu den Großeltern oder nicht?
Rückblende: Das Wochenende in Beeri
Anfang Oktober wird ein wichtiger jüdischer Feiertag begangen. Shaked Haran und ihre Schwester Adi gehen mit ihren Ehemännern und den kleinen Kindern zum Zelten in die Natur. Noch ist unklar, ob sie im Anschluss alle zu Shakeds Eltern in den Süden Israels fahren. Deren Haus liegt in einem Kibbuz namens Beeri, wenige Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Die Vorfahren von Haran – deutsche Juden, – waren 1946 an der Gründung des Dorfes beteiligt.
Shaked ist schwanger und müde. Sie sagt das Essen schließlich ab, während ihre Schwester in den Süden fährt. Es ist der 7. Oktober 2023.
Im Morgengrauen, um 5.55 Uhr, dringen bewaffnete Kämpfer der Hamas in den Kibbuz ein. 17 Stunden lang ziehen die Männer von Haus zu Haus und begehen unbeschreibliche Verbrechen. Sie werfen brennende Reifen in Häuser, um die Menschen zu zwingen herauszukommen. Sie töten Eltern vor ihren Kindern, Schwangere, Babys. Sie filmen das Massaker und schicken die Videos an Familienmitglieder, um diese zusätzlich zu quälen. Am Ende ist jeder Zehnte in Beeri tot. Das Haus von Shakeds Familie ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt.
Insgesamt zehn Familienmitglieder von Shaked Haran wurden am 7. Oktober aus ihren Häusern entführt. Von dreien findet man Wochen später die Leichen, darunter auch Shakeds Vater. Die Tochter muss ihn ohne Beisein ihrer Mutter begraben. Sie weiß nicht, ob ihre Angehörigen jemals zurückkommen, um ihre jüngste Enkeltochter im Arm zu halten.
In den ersten zwei Tagen nach dem Überfall ist Shaked Haran ein „Wrack“, wie sie profil damals erzählt. Sie kann nicht essen, schläft kaum und wird von Weinkrämpfen geschüttelt. Eine gute Freundin sagt schließlich zu ihr: „Du kannst nicht beeinflussen, ob deine Familie überlebt. Aber worauf du sehr wohl Einfluss hast, ist die Gesundheit deines Babys.“ Haran bleibt stark – für ihre zwei kleinen Kinder und für ihre Tochter Ora, damals noch ungeboren.
Wie viele Geiseln leben noch?
Am 7. Oktober 2023 tötete die Hamas insgesamt 1200 Menschen und verschleppte zusätzlich 250 Männer, Frauen und Kinder. Israel reagierte mit einer militärischen Großoffensive und bombardiert seither Ziele in Gaza. Es herrscht Krieg. Der Küstenstreifen gleicht mittlerweile einer Ruinenlandschaft, mehr als die Hälfte der Gebäude gelten als beschädigt oder zerstört. Die Vereinten Nationen sprechen in einem Bericht vom 8. Mai von 7700 getöteten Kindern und 4959 getöteten Frauen. Es könnten noch mehr sein, weil Hunderte Körper noch nicht identifiziert sind und laufend mehr Menschen sterben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das Welternährungsprogramm (WFP) warnen vor einem Mangel an Lebensmitteln, Unterernährung und der raschen Ausbreitung von Krankheiten.
Es schmerzt mich sehr, das Leid in Gaza zu sehen. Wir wollen, dass all das aufhört. Wir wollen ein friedliches und sicheres Leben für alle. So sind wir erzogen worden, und daran glauben wir. Die Freilassung der Geiseln ist der Schlüssel zum Frieden. Wenn die Hamas heute Abend beschließt, alle Geiseln freizulassen, dann wäre der Krieg vorbei.
Shaked Haran
Die Hälfte der insgesamt 250 Geiseln, darunter auch Shakeds Angehörige, kam Ende November im Zuge einer einwöchigen Feuerpause und im Austausch gegen palästinensische Gefangene frei. Die israelische Regierung geht inzwischen davon aus, dass ein Drittel der rund 120 verbleibenden Geiseln tot sein könnte. Wie viele es sind, wissen wohl nicht einmal die Terroristen selbst. Im Juni gab ein Sprecher der Hamas in einem Interview mit dem US-Sender CNN zu: „Ich weiß nicht, wie viele noch am Leben sind. Niemand weiß es.“
„Wir warten auf dich“
Gilad Korngold, der Vater von Tal Shoham, klammert sich an die Hoffnung, dass sein Sohn noch lebt.
„Mein Leben fühlt sich an wie eine Achterbahnfahrt in einem Freizeitpark. Nur dass unser Freizeitpark die absolute Hölle ist“, sagt er zu profil. Der 62-Jährige hat ein Amulett anfertigen lassen, in das Tals Namen eingraviert ist. Damit sein Sohn symbolisch immer bei ihm ist. Wenn er zurückkommt, will er es wegwerfen. Am frühen Morgen des 7. Oktober hat Korngold zum letzten Mal mit Tal telefoniert. Seine letzten Worte: „Papa, da sind Eindringlinge im Haus!“
Tals Kinder fragen jeden Tag, wann ihr Vater zurückkommt. Am Anfang haben wir noch gesagt: Vielleicht in einer Woche oder einem Monat. Mittlerweile sagen wir nur noch, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun.
Gilad Korngold
Wir sagen den Kindern die Wahrheit. Wir können ihnen keine Lügen auftischen. Bevor wir nach Österreich gekommen sind, haben wir Ihnen gesagt: Wir reisen dorthin, weil wir hoffen, dass uns das hilft.
Shaked Haran
Shaked erzählt, dass ihre Familie nicht gerne in der Öffentlichkeit stehe. Doch nun müssen sie Hunderte Male ihre Geschichte erzählen, werden in Botschaften und Parlamente eingeladen. „Wir treffen jeden, der Einfluss nehmen kann. Wir glauben, dass es einen Unterschied macht, wenn wir Politikern in die Augen schauen. Wir sagen ihnen, dass diese Leben gerettet werden können“, sagt Shaked.
Adi Shoham, ihre Schwester, reiste zur Sicherheitskonferenz nach München. Der acht Jahre alte Naveh war auf dem Cover der „Kronen Zeitung“, seine Schwester Yahel in einem Beitrag der „ZIB 1“ zu sehen. Ihre Großmutter Shoshan Haran hielt eine Rede vor dem UN-Sicherheitsrat. Bei seinem letzten Besuch in Wien vor zwei Wochen traf Gilad Korngold Innenminister Gerhard Karner, SPÖ-Chef Andreas Babler und Außenminister Alexander Schallenberg. Die Nummer von Kanzler Karl Nehammer hat er sogar in seinem Smartphone gespeichert. Er könne immer anrufen, erklärte er dem ORF in einem Interview: „Ich vertraue ihm mehr als meiner eigenen Regierung in Israel.“
Shakeds Vorfahren stammen aus Deutschland. Auch sie wurden einst von den Nazis vertrieben. In Österreich war sie im Juni zum ersten Mal: „In Wien müssten wir niemanden davon überzeugen, dass Tals Geiselhaft kein rein israelisches, sondern auch ein österreichisches Problem ist.“
profil hat Shaked Haran in Wien getroffen und steht weiterhin mit ihr sowie weiteren Familienmitgliedern telefonisch in Kontakt.
Was ist seit der Geiselbefreiung im November passiert? Wie geht es den Freigelassenen und ihren Angehörigen heute? Zumal in einer Welt, die der Krieg in Gaza zunehmend polarisiert hat? All das hat den Kampf der Familie um ihren Liebsten schwieriger gemacht.
November 2023: Die Freilassung
Am 26. November 2023 kommt Shakeds Familie endlich frei. Es ist weit nach Mitternacht, als ihre Mutter in einem Jeep des Roten Kreuzes die Grenze zu Israel überquert. Im Krankenhaus ist für die zurückgekehrten Kinder eine Spielecke aufgebaut. Yahel wird fotografiert, wie sie lachend einen Teddybären in den Armen hält. Naveh bekommt ein Trikot des Fußballclubs Bayern München geschenkt. „Bilder der Freude gingen damals um die Welt. Aber für uns war das der Anfang eines komplizierten und zum Teil unaushaltbaren Weges“, sagt Shaked.
Nach ihrer Freilassung verständigt sich die kleine Yahel wochenlang nur flüsternd, macht ins Bett, traut sich nicht nach draußen. „Es hat einen Monat gedauert, bis sie wieder normal gesprochen hat“, sagt Korngold. Das kleine Mädchen mit den blonden Locken hat Alpträume und Angst, erneut gekidnappt zu werden. Sie fragt: „Sind die bösen Männer vor dem Haus?“ Ihre Mutter nimmt sie regelmäßig mit zum Einkaufen, um ihr zu zeigen, dass es ungefährlich ist. Adi Shoham ist Psychologin, spezialisiert auf Traumabewältigung. Jetzt braucht sie selbst Therapie.
Naveh und Yahel werden von einer Psychotherapeutin betreut. Sie arbeitet seit 30 Jahren mit Kindern, die Traumata erlebt haben. Nach zwei oder drei Sitzungen hat sie uns gesagt, dass sie so einen Fall noch nie hatte. Er ist beispiellos.
Shaked Haran
Das Begräbnis
Shaked wiederum muss ihrer Mutter nach der Rückkehr die Schlimmste aller Nachrichten überbringen: Ihr Ehemann Avshalom, mit dem sie 40 Jahre lang verheiratet war, ist tot und liegt in Israel begraben. Am Abend vor dem Überfall der Hamas saß Shoshan gemeinsam mit ihm beim Abendessen. Jetzt, nach ihrer Rückkehr, fährt sie an sein Grab.
„Es fühlte sich an, als ob die Familie ein zweites Mal auseinandergerissen wird“, sagt Shira Havron, Shakeds Cousine.
Was hat die Familie in der Geiselhaft erlebt? Wo waren sie? Die Familie ist noch nicht in der Lage, darüber zu sprechen, das Trauma ist zu gegenwärtig.
Shoshan Haran soll in Gefangenschaft besonders stark gewesen sein.
So erzählt es Amnon Tamir, ein Verwandter aus Paris, der in engem Austausch mit Shoshan steht. Er arbeitet für ihre Nichtregierungsorganisation „Fair Planet“, die sich dafür einsetzt, dass Bauern in Äthiopien und anderen afrikanischen Ländern Zugang zu modernem Saatgut haben. Nach Harans Rückkehr kam die Familie in Tamirs Haus in Herzlia unter, einer Küstenstadt nicht weit von Tel Aviv.
Ein kleiner Lichtblick
Am letzten Tag des Jahres 2023 bekommt Shaked ihr Kind. „Ein Mädchen, endlich“, sagt sie lächelnd. Sie nennt ihre Tochter Ora, was auf Deutsch übersetzt „Licht“ bedeutet. Der Name ist an ein Gebet angelehnt, das Shaked jeden Abend mit ihren Kindern singt. Gemeinsam zu beten, gebe ihnen Kraft, sagt sie.
„Ich hoffe, dass der Name des Mädchens für unsere Zukunft steht“, sagt Shira Havron, Shakeds Cousine. Eigentlich war der Geburtstermin früher, aber das Baby lässt sich Zeit. Fast so, als hätte es darauf gewartet, dass ihre Großmutter und ihre Tante zurück sind. „Ein Wunder“, sagt Havron.
Zwei Monate später wird Gilad Korngold Opa. Seine Tochter, Tals Schwester, bekommt einen Buben. Das Baby hat, ebenso wie Tal, die österreichische Staatsbürgerschaft. Tals Großmutter wurde 1933 in Wien geboren, ihre Familie von den Nazis vertrieben. Während eines Gesprächs mit Österreichs Kanzler Karl Nehammer sagt Korngold: „Ihr habt jetzt einen Bürger mehr.“ Kurz darauf ist Außenminister Schallenberg zu Besuch in Tel Aviv. Er besucht mit Korngold den „Hostage Square“, jenen Platz, an dem die Familien der Geiseln Tag für Tag demonstrieren. Korngold trägt ein schwarzes T-Shirt mit dem Bild seines Sohnes. Eine große Uhr zeigt die Zahl 143. So viele Tage ist Tal damals bereits in Hamas-Gefangenschaft.
Die Familie hofft auf einen Geiseldeal, ähnlich wie jenem im November. Doch die Verhandlungen ziehen sich in die Länge. Kanzler Karl Nehammer, der mit den politischen Entscheidungsträgern in der Nahostregion in laufendem Kontakt steht, ernennt mit Peter Launsky-Tieffenthal einen Sonderbeauftragten für die Geiselfrage. Der Spitzendiplomat war zuletzt Generalsekretär im Außenministerium. „Mein Auftrag ist es, mit den wesentlichen Akteuren im Austausch zu sein. Das sind neben den USA, Israel auch Katar und Ägypten sowie andere Staaten, die derzeit noch Geiseln in Gaza haben. Alle Akteure sollen spüren, dass uns die Geiselthematik ein großes Anliegen ist und wir nichts unversucht lassen, bis Tal freikommt“, sagt Launsky-Tieffenthal im Gespräch mit profil. Länder wie USA, Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Österreich bilden eine eigene „hostage task force“, in der sie sich regelmäßig austauschen. Wenn nötig, werden Gespräche auch um Mitternacht geführt, erzählt Launsky-Tieffenthal. Aber eine schnelle Lösung zeichnet sich nicht ab. Von Monat zu Monat steigt die Verzweiflung bei der Familie.
Adi Shoham zieht zurück in ihr Dorf in Misgav, einer Region im Norden Israels, nahe der Grenze zum Libanon. „Sie versuchen, eine Routine zu bekommen. Die Hälfte der Woche sind sie im Norden, die andere Hälfte in Tel Aviv“, sagt Shira Havron, ihre Cousine. Sie erzählt, dass sie jeden Tag ein weißes Klebeband an ihre Brust heftet. Darauf sind mit Filzstift die Tage seit dem 7. Oktober festgehalten.
Das Bangen um den Deal
Doch für viele in Israel geht das Leben weiter. „Früher waren überall Plakate von den Geiseln. Jetzt werden es immer weniger“, sagt Havron. Sie erzählt, wie sich Angehörige von Geiseln mit den Sendungsverantwortlichen der populären Realityshow „Big Brother“ trafen. Ob sie Bilder der Verschleppten in der Show zeigen könnten? „Sie haben abgelehnt. Vielleicht, weil das Thema zu deprimierend und schlecht für die Quote ist“, sagt Havron.
Im Rest der Welt werden die Proteste gegen das Vorgehen der israelischen Armee lauter. Vor allem, als Israel eine Bodenoffensive in Rafah ankündigt, einer Stadt im Süden des Gazastreifens, in der bis Anfang Mai 1,5 Millionen Menschen Schutz suchten.
Im schwedischen Malmö gehen Tausende propalästinensische Demonstranten gegen die Teilnahme Israels am Eurovision Song Contest auf die Straße. Israels Kandidatin Eden Golan muss ihren Song „October Rain“ in „Hurricane“ umbenennen, weil der Text zu politisch ist. „Ich habe mir dieses Lied nie angehört“, sagt Shaked, „mein Leben ist schon dramatisch genug.“
Amnon Tamir, ein Verwandter aus Paris, sagt: „Wenn es um die Solidarität geht, dann haben wir diesen Krieg längst verloren. Nach dem 7. Oktober war die Welt auf unserer Seite, jetzt steht sie auf der anderen.“ In Paris vermeidet er es, im Taxi Hebräisch zu sprechen, bleibt mit seiner Frau am liebsten unter Freunden.
Shira Havron, Shakeds Cousine, ist Mitte 20 und Filmstudentin. Sie bewegt sich in einem linken Künstlermilieu, wie sie selbst sagt. Auf Social Media sieht sie, wie sich Schauspieler und Studentinnen auf der ganzen Welt mit Gaza solidarisieren. Zum Teil, sagt Havron, könne sie das verstehen. „Auch ich will, dass die Regierung Netanjahu abtritt. Auch ich will, dass es einen palästinensischen Staat gibt und dass Frieden herrscht“, sagt sie. Was sie nicht versteht: Warum kann man im selben Atemzug nicht auch mit unschuldigen israelischen Opfern mitfühlen? Warum soll man sich für eine Seite entscheiden müssen?
Haran sagt im profil-Interview, dass sie sich vor dem 7. Oktober politisch links der Mitte verortete. Jetzt spiele das keine Rolle mehr, weil sie und ihre Familie sich im Überlebensmodus befinden. Die Rückkehr von Tal ist das einzige Ziel.
Meine Schwester weiß nicht, ob ihre Kinder einen Vater haben werden. Er könnte heute am Leben und morgen tot sein. Als sie in Gaza waren, wussten sie vor dem Einschlafen nicht, ob sie den nächsten Tag überleben. Jede Minute fühlte sich für sie wie eine Ewigkeit an. Noch immer sind wir wie benommen und versuchen, all das zu überleben. Wir haben nicht das Privileg, uns über die politische Lage Gedanken zu machen.
Shaked Haran
Nicht alle Angehörigen von Verschleppten sehen das so. Die Bewegung ist gespalten. Die einen glauben, dass man keinen Deal mit dem Teufel, also der Hamas, schließen könne und nur militärischer Druck helfe. Das andere Lager ist überzeugt, dass ihre Liebsten nur mit Diplomatie überleben können. Shaked Haran steckt in der Mitte: „Wir wissen, was unser Ziel ist, nämlich dass Tal und die übrigen Geiseln freikommen. Aber wir sind eine einfache Familie und keine Polit-Strategen.“
Gegenwärtig habe man das Gefühl, dass ein Deal „der aussichtsreichste Weg“ sein könnte. „Es ist gut, wenn das Militär einzelne Menschen rettet, aber das kann nicht die Lösung für alle Geiseln sein“, sagt Shaked. Ihre Cousine Shira Havron wird noch deutlicher: „Dieser Krieg führt nirgendwohin. Beendet den Krieg, und macht einen Deal, damit die Geiseln freikommen.“
Shoshan spricht vor dem UN-Sicherheitsrat
Am 16. Mai sitzt Shoshan Haran neben Linda Thomas-Greenfield, der UN-Botschafterin der USA. Shakeds Mutter hält eine lange Rede, die man sich auf YouTube anhören kann.
Sie erzählt, wie sie ihren Enkelkindern heiße Schokolade machte, bevor die Hamas-Kämpfer einfielen. Wie die Terroristen „Dschihad! Dschihad!“ riefen, ihr Handschellen anlegten und sie, im Pyjama und barfuß, auf einen Pick-up warfen. „Ich habe in meinem Leben viele Bücher von Holocaust-Überlebenden gelesen. Ich habe ihre Weisheiten genutzt, um diese schrecklichen Tage zu überstehen“, sagt sie.
Vier Tage später geht eine Meldung um die Welt: Karim Khan, Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, hat einen Haftbefehl gegen Israels Regierungschef Netanjahu und Verteidigungsminister Joaw Galant sowie gegen drei Hamas-Anführer beantragt. Khan will beweisen, dass sie Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Kriegsverbrechen begangen haben.
Netanjahu spricht von einer „skandalösen Entscheidung von historischem Ausmaß“ und einem „Frontalangriff“ auf die Opfer des 7. Oktober.
Ende Mai eskaliert die Situation in Rafah. Nach israelischen Schlägen bricht in einem Zeltlager in Rafah ein Brand aus. Die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde in Gaza spricht von 45 Toten, die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen von 28.
Bidens Friedensplan
Wenige Tage später, am 31. Mai, hält US-Präsident Joe Biden eine Rede, die bei den Familien der Geiseln neue Hoffnungen weckt. Er präsentiert einen Drei-Phasen-Plan.
Phase eins sieht eine „vollständige und uneingeschränkte Waffenruhe“ von sechs Wochen und einen Rückzug der israelischen Streitkräfte „aus allen bewohnten Gebieten des Gazastreifens“ vor. Freikommen sollen zunächst Frauen, Alte und Verletzte. Im Gegenzug sollen Hunderte Palästinenser aus israelischer Haft entlassen werden. Phase zwei zielt auf ein dauerhaftes Ende der Kämpfe ab, als dessen Folge alle verbliebenen Geiseln freikommen. Phase drei ist die mit Abstand ambitionierteste: der Wiederaufbau des Gazastreifens. Biden beendet seine Rede mit den Worten: „Es ist Zeit, dass dieser Krieg zu Ende geht.“
Bis Redaktionsschluss am Donnerstagabend gab es weder vonseiten der Hamas noch aus dem Kabinett Netanjahus eine Zusage, den Deal umzusetzen. Ein vager Hoffnungsschimmer: Der UN-Sicherheitsrat hat sich für den Plan für eine Waffenruhe in Gaza ausgesprochen.
„Der Plan, der auf dem Tisch liegt, wird von Israel, den USA, von Ägypten und von Katar zumindest als realistisch angesehen“, sagt der österreichische Spitzendiplomat Peter Launsky-Tieffenthal. Aber: Die Hamas hat offenbar Änderungen verlangt. „Und da stecken wir gerade fest“, so Launsky-Tieffenthal. „Alle hofften auf einen Durchbruch nach dem Biden-Plan. Jetzt ist das in den Hintergrund gerückt“, sagt auch eine weitere diplomatische Quelle, mit der profil gesprochen hat. Aus Sicht der Familie sei das eine weitere Enttäuschung. „Jetzt müssen sie sich wieder versuchen zu motivieren. Es ist ein endloser Kampf. Ich bewundere sie für ihre mentale Stärke“, sagt die Quelle.
Shaked Haran befürchtet jedoch, dass die Freilassung der Geiseln an eine Zweistaaten-Lösung gekoppelt wird.
Dieser Konflikt ist Jahrzehnte alt. Meine Familie und ich wollen eine friedliche Lösung. Wir wollen unsere Kinder nicht in einem Kriegsgebiet großziehen. Aber die Freilassung der Geiseln kann nicht mit der langfristigen Frage verknüpft werden, ob es eine Zweistaaten-Lösung gibt und ob der Nahostkonflikt gelöst wird. Tal ist keine Partei in diesem Konflikt. Er ist ein Mensch, der über die Feiertage seine Familie besucht hat und gekidnappt wurde. Wir dürfen in diesem Konflikt nicht zur Verhandlungsmasse werden.
Shaked Haran
Am 8. Juni, um 11.00 Uhr, befreit die israelische Armee in einer wochenlang geplanten Sonderaktion vier Geiseln. Sie wurden am 7. Oktober am Gelände des Musikfestivals Supernova entführt.
Gilad Korngold kennt ihre Verwandten. „Ich weiß nicht, wie sie befreit wurden und wo. Aber ich freue mich sehr für ihre Familien“, sagt er. Korngold hofft, dass Tal Shoham in Gefangenschaft Radio hören darf. Er gibt Sendern im Süden des Landes Interviews, um seinem Sohn eine Botschaft zu schicken.
„Ich sage ihm: Tal, deine Frau ist sicher. Deine Kinder sind sicher. Wir warten auf dich.“