Victor Orban: In Putins Schatten
Von Gregor Mayer/Budapest
Nach zwölf Jahren der Herrschaft des Rechtspopulisten Viktor Orbán ist der Wahlkampf in Ungarn eine einseitige Sache. Auf Großplakaten prangen landauf, landab fast ausschließlich die Botschaften des Regierungschefs und seiner FIDESZ-Partei. Eines der Motive zeigt den Regierungschef mit seiner Ansage zu Russlands Krieg gegen die Ukraine, Ungarns östliches Nachbarland: "Bewahren wir Ungarns Frieden und Sicherheit". Auf einem anderen sind die blassgelb kolorierten, finster blickenden Gesichter zweier Oppositionspolitiker zu sehen: das des konservativen Spitzenkandidaten Péter Márki-Zay und das des ehemaligen sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány. "Sie sind gefährlich!", steht darunter. Die Firmen, denen die Plakatflächen gehören, sind fast alle in der Hand von regierungsabhängigen Geschäftsleuten.
Die Parlamentswahl am kommenden Sonntag, dem 3. April, ist umkämpfter denn je. Orbáns Kritiker sehen darin die letzte Chance, den Populisten daran zu hindern, den Umbau des von ihm propagierten, halbautoritären "illiberalen Staates" zur Despotie zu vollenden. Aber auch für Europa steht viel auf dem Spiel: In Orbán hat der russische Präsident Wladimir Putin einen engen Verbündeten unter den Regierungschefs der EU.
In den letzten Jahren traf Orbán den Kremlherrn nicht nur jährlich, sondern schloss mit ihm folgenschwere Geschäfte. Russlands Rosatom soll im ungarischen AKW Paks zwei neue Reaktorblöcke errichten. 80 Prozent der Kosten in Höhe von 12 Milliarden Euro soll ein russischer Kredit decken, den Ungarn aufnimmt. Orbáns Oligarchen schielen auf lukrative Anschluss- und Nebengeschäfte, etwa beim Ausbau der Infrastruktur. Auf Orbáns Einladung verlegte die russisch geführte Internationale Investitionsbank (IIB) ihren Sitz von Moskau nach Budapest. Das als Entwicklungsbank auftretende Institut hat russisches Führungspersonal mit diplomatischer Immunität - mitten in der EU. Im Volksmund heißt das Haus am Budaer Brückenkopf der Kettenbrücke deshalb schlicht die "Spionagebank".
In seiner ersten Regierungszeit von 1998 bis 2002 und als Oppositionspolitiker in der Zeit danach hatte Orbán Putins Russland noch heftig kritisiert. Seit er wieder regiert, "hat er sich Putin als Vorbild genommen", sagt der Budapester Soziologe und Filmregisseur András Vágvölgyi. "Er hat viel von ihm kopiert: die Knebelung der Medien, die Hetzkampagnen gegen Zivilorganisationen und sexuelle Minderheiten, die Marginalisierung der Opposition, die Aushöhlung der Demokratie zur bloßen Fassade." Vágvölgyi kennt Orbán aus den Frühzeiten des FIDESZ, er gründete die damals FIDESZ-nahe Wochenzeitung "Magyar Narancs" (Ungarische Orange) - die Wege trennten sich aber schon in den frühen 1990er-Jahren, als sich Orbán zwar noch zum Liberalismus bekannte, seine autoritären Züge als Parteichef jedoch bereits zutage traten.
Doch seit einem Monat führt Putins Armee einen brutalen Krieg gegen die Ukraine. Orbán hatte bis dahin darauf gebaut, mit gigantischen Wahlgeschenken und mit "dirty campaigning" gegen die Opposition zu reüssieren. Die Propagandisten seiner Leitmedien verbreiten bis heute das Narrativ Putins, wonach der Westen die Sicherheitsbedürfnisse Moskaus ignoriert habe. Nach dem russischen Überfall musste sich Orbán dem Druck der EU beugen. Wenn auch halbherzig, so trug er immerhin die EU-Beschlüsse mit, die den russischen Angriff verurteilten und sich für Waffenlieferungen an die Ukraine aussprachen - nur aus Ungarn sollten diese nicht kommen.
Im Westen ist der unsichere Kantonist dennoch isolierter denn je. Während hohe Staatsbesucher in Polen, Rumänien, in den baltischen Republiken einander die Klinke in die Hand geben, machen sie um Ungarn einen großen Bogen. Als die Ministerpräsidenten Polens, Tschechiens und Sloweniens mit dem Zug zum ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj fuhren, kam niemand auf die Idee, dass Orbán unter ihnen hätte sein können. Im Wahlkampf bei sich zu Hause macht er dafür auf "Neutralität". Er werde Ungarn - seit 1999 NATO-Mitglied- "aus dem Krieg heraushalten", predigt er. "Strategische Ruhe" sei angesagt.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass er sich damit das fünfte Regierungsmandat (und das vierte in Folge) sichert. "Unsere Erhebungen zeigen, dass die ungarische Gesellschaft für den Frieden ist", sagt Ágoston Mráz, der Leiter des regierungsfinanzierten Instituts "Nezöpont" (Standpunkt). "Die FIDESZ-Partei beobachtet sehr genau die Stimmungen in der Bevölkerung und passt ihre Botschaften entsprechend an." Tatsächlich - und das ist auch Teil der einseitigen Verhältnisse in Ungarn - liefern neben "Nezöpont" zahlreiche weitere, großzügig mit Geldmitteln ausgestattete Thinktanks Daten und Analysen, die Orbáns Machterhalt dienen sollen.
Dabei ist die Opposition besser aufgestellt denn je. Erstmals seit zwölf Jahren tritt sie geeint an: mit gemeinsamen Kandidaten in den Direktwahlkreisen, mit einer gemeinsamen Liste für die Listenmandate. Der Kandidat für das Ministerpräsidentenamt, Péter Márki-Zay, wurde ebenso in einer selbst organisierten Vorwahl ermittelt wie die Direktkandidaten.
Márki-Zay, der mehrere Jahre in den USA lebte, gewann die Vorwahl überraschend und als krasser Außenseiter (siehe profil Nr. 42/2021). In die Politik katapultierte es den Marketing-Fachmann, als er 2018 zum Bürgermeister in der südostungarischen Kleinstadt Hódmezövásárhely gewählt wurde, die bis dahin eine FIDESZ-Hochburg war. Erstmals hatte man damals im Kleinen das Modell der einheitlich antretenden Opposition erprobt. Heute gehören ihr sechs Parteien an: die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP),die ehemals rechtsradikale und heute rechtskonservative Jobbik, die linksgrüne Dialog-Partei, die linksliberale Demokratische Koalition (DK) von Ferenc Gyurcsány, der chaotisch von 2004 bis 2009 regiert hatte, die Grün-Partei LMP und die liberale Momentum-Partei. Ihr gemeinsames Programm lautet: Wiederherstellung der Demokratie und Rückkehr in die europäische Wertegemeinschaft.
Mit seiner Geradlinigkeit und seiner Ferne zu den eingesessenen Oppositionsparteien kommt ihr Spitzenkandidat auch im ländlichen Raum gut an - bisher eine Schwachstelle der urban geprägten Opposition und eine Bastion des Orbán-Lagers. Zu einer Wahlveranstaltung im Kultursaal des 1600-Seelen-Ortes Pitvaros im Südosten Ungarns kamen neulich 200 Interessierte, die Márki-Zay sehen wollten. Die Sympathie, die ihm entgegenschlug, war groß, als er die Klientel-Verhältnisse anprangerte, über die die Orbán-Partei ihre Macht bis ins letzte Dorf durchsetzt. In der Diskussion musste er sich aber auch Kritik anhören - über manche seiner unbedachten Äußerungen; über seine Verplapperer, die einer gewissen Unerfahrenheit geschuldet sein mögen, aber von der FIDESZ-Propaganda genüsslich ausgeschlachtet werden; über das Gefeilsche der Oppositionsparteien um begehrte Listenplätze. "Parteien vertreten eben auch Parteiinteressen, das ist nur natürlich", meinte er, der selbst keiner dieser Parteien angehört.
Wer in diesen Tagen durch Ungarn fährt, merkt aber auch, wie sehr die Menschen der Ukraine-Krieg und seine Folgen beschäftigen. Auf den Marktplätzen, in den Gaststuben, in den Thermalbädern schwirren Fragen durch den Raum: Warum wird das den Ukrainern angetan? Kommt es zum Dritten Weltkrieg? Wie teuer wird das Getreide? Die Flüchtlinge aus der Ukraine stoßen in Ungarn auf große Hilfsbereitschaft und Empathie. Die Hauptlast ihrer Aufnahme und Versorgung tragen allerdings die Gemeinden in der Grenzregion und die viel gescholtenen Zivilorganisationen - der Staat ist weitgehend absent.
Ob und wie all das die Bürger am Wahltag beeinflusst, könnte wahlentscheidend sein. "Schafft es die Opposition, die Botschaft zu transportieren, dass Orbán Rechenschaft über seine bisher moskaufreundliche Politik ablegen müsste?", fragt sich Endre Hann, der Leiter des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts "Medián". "Oder überwiegt das Sicherheitsbedürfnis der Menschen, das in erster Linie die schon an der Macht Befindlichen befriedigen können?" Man könne es nicht wissen, meint Hann. "Es gibt kaum Umfragen, weil das Geld dafür fehlt."
Sollte Orbán am Ende doch abgewählt werden, dann "würde sich das in den internationalen Trend einfügen", meint Soziologe Vágvölgyi. Er verweist auf die jüngsten Machtverluste von Donald Trump in den USA, Benjamin Netanjahu in Israel und Andrej Babiš in Tschechien. Mit ihnen allen pflegt Orbán ein partnerschaftliches Verhältnis, sie und Orbán betrachten einander als Verbündete und Brüder im Geiste. Und wenn nicht? "Es wäre ein Sieg für Putin, ein schlechtes Omen für die Welt."