Von ganz rechts nach ganz oben
Von Robert Treichler
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Das ist nicht die Geschichte eines kometenhaften Aufstiegs. Im Gegenteil. Wer verstehen möchte, wie der Rassemblement National, die Partei, die mit großer Wahrscheinlichkeit an diesem Sonntag im zweiten Durchgang der französischen Parlamentswahlen auf Platz eins landen wird, so erfolgreich werden konnte, muss ein halbes Jahrhundert zurückblicken, in das Jahr 1972. Damals rief eine obskure rechtsextreme Gruppierung namens „Ordre Nouveau“ in einer Resolution zur Gründung einer neuen Partei auf. Diese sollte alle rechtsnationalistischen Kräfte des Landes versammeln, sich den demokratischen Spielregeln unterwerfen und bei den Parlamentswahlen im Jahr darauf antreten. Man einigte sich auf den Namen „Front National“ (Nationale Front), und nun brauchte es nur noch jemanden, der die Partei als Spitzenkandidat öffentlich repräsentieren konnte. Rasch kristallisierte sich ein Mann heraus, der Credibility in rechtsextremen Kreisen genoss und auch politische Erfahrung mitbrachte. Er war 44 Jahre alt, hatte bereits mit 27 Jahren ein Mandat als Parlamentsabgeordneter einer populistischen Protestpartei innegehabt, und er hatte im Algerienkrieg gedient. Sein Name: Jean-Marie Le Pen.
Der Name Le Pen sollte in Frankreich bald zum Synonym für Rechtsextremismus und Provokation werden – und in den Augen vieler ist er es bis heute. Doch damals galt es, die neue Partei und ihren Vorsitzenden bekannt zu machen. Jean-Marie Le Pen positionierte sich als politischer Außenseiter und Rabauke. Reden trug er in aggressivem Brüllton vor, eine Klappe, die er über dem linken Auge trug, verlieh ihm die Optik eines Kriegsveteranen. Erst Jahrzehnte später lüftete er das Geheimnis der Verletzung: ein banaler Arbeitsunfall.
Der Front National (FN) versammelte in seinen Reihen Antisemiten und Ultranationalisten, und entsprach somit dem gängigen Bild einer rechtsextremen Partei. Das Ergebnis bei der Parlamentswahl 1973 fiel dementsprechend mager aus: 0,52 Prozent. Doch in seinem Pariser Wahlkreis erzielte Le Pen mit knapp über fünf Prozent das beste Resultat des FN. Bei der Präsidentschaftswahl im Jahr darauf erreichte er 0,75 Prozent, und auch wenn dies mickrig erscheint, so hatte sich Le Pen damit als Anführer der extremen Rechten in Frankreich etabliert.
„Eine Million Arbeitslose ist eine
Million
Einwanderer zu viel!“
Und noch etwas ist im Rückblick bemerkenswert:
Le Pen und der Front National hatten ein Thema gefunden, das ihnen ein Alleinstellungsmerkmal verschaffte. Keine andere Partei griff so offen und harsch Immigranten an. Bei den Parlamentswahlen 1978 stand auf den Wahlplakaten des FN: „Eine Million Arbeitslose ist eine Million Einwanderer zu viel! Frankreich und die Franzosen zuerst!“ Zwei Jahre später lautete der Slogan: „Zwei Millionen Arbeitslose sind zwei Millionen Einwanderer zu viel! Frankreich und die Franzosen zuerst!“ Und wieder zwei Jahre später: „Drei Millionen Arbeitslose sind drei Millionen Einwanderer zu viel! Frankreich und die Franzosen zuerst!“
Die Franzosen wussten, mit wem sie es zu tun hatten, und zunächst schien es, als wären der Rechtsextremismus und der Rassismus des FN politisch gänzlich unerwünscht. Die Wahlergebnisse blieben im Mikro-Bereich. Zudem war der FN Ziel mutmaßlich politisch motivierter Gewalt. Am 2. November 1976 zerstörte eine Bombe einen Teil des fünfstöckigen Gebäudes im 15. Pariser Arrondissement, in dem die Familie Le Pen wohnte. Niemand wurde verletzt, die Täter nie gefasst.
Plötzlich, im Jahr 1986, erzielte der Front National seinen ersten Erfolg. Ein Grund dafür war die hohe Arbeitslosigkeit von mehr als zehn Prozent. Die jahrelange Strategie des FN, die Einwanderer dafür verantwortlich zu machen, fruchtete. Und noch etwas beförderte den Wahlerfolg: Der sozialistische Staatspräsident François Mitterrand ließ aus taktischen Gründen ein Verhältniswahlrecht anstelle des Mehrheitswahlrechts einführen. Der FN erhielt landesweit 2,7 Millionen Stimmen und zog mit 35 (von 577) Abgeordneten zum ersten Mal ins Parlament ein.
Weil gleich bei der nächsten Wahl wieder das Mehrheitswahlrecht galt, sollte der FN drei Jahrzehnte lang maximal einen einzigen Abgeordneten stellen, aber dennoch hatte sich die Partei als Kraft am rechten Rand etabliert. In den 1980er und 1990er-Jahren kam der FN konstant auf zwei bis dreieinhalb Millionen Wählerstimmen.
Nun war alle Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit, Medien und politischen Gegnern auf den polternden Jean-Marie Le Pen gerichtet, und der Provokateur dachte nicht daran, sich um ein moderates Image zu bemühen. Im September 1987 nannte er in einem Radio-Interview die Gaskammern der NS-Konzentrationslager ein „Detail der Geschichte des Zweiten Weltkrieges“. Die Empörung war gewaltig. Le Pen hatte sich mit diesem Satz aus dem Kreis politischer Zurechnungsfähigkeit katapultiert, zumal er ihn in den folgenden Jahren noch zweimal wiederholte und dafür auch strafrechtlich verurteilt wurde.
Le Pen und der FN standen nach Ansicht aller anderen Parteien außerhalb des Wertekanons der Republik. Kam ein FN-Kandidat in eine Stichwahl, unterstützten einander Konservative, Sozialisten, Grüne, Kommunisten und Liberale, indem sich alle hinter dem jeweils bestplatzierten Gegenkandidaten versammelten. Auch Medien, die sich um objektive Berichterstattung bemühten, behandelten den FN als Fremdkörper im demokratischen System.
So blieb Jean-Marie Le Pen – selbst verschuldet – dazu verurteilt, nie in die Nähe realer politischer Macht zu gelangen. Nur einmal noch gelang ihm ein Coup, als er 2002 als Zweitplatzierter in den zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahl kam. Doch auch da scheiterte er kolossal, weil praktisch alle politischen Kräfte dazu aufriefen, den konservativen Kandidaten Jacques Chirac zu wählen, der schließlich mit 82 Prozent gewann.
Hier könnte das Porträt des rechtsextremen Front National enden, einer Partei, die wegen ihrer ideologischen Jenseitigkeit und ihrer Tabubrüche und dank des Konsenses aller anderen Parteien zur Aussichtslosigkeit verdammt war. Doch die Geschichte nahm eine unerwartete Wendung.
Vater und Tochter
Im Jahr 2011 trat Jean-Marie Le Pen nach 39 Jahren als Vorsitzender des Front National zurück. In einer Kampfabstimmung wurde seine Tochter Marine Le Pen zu seiner Nachfolgerin gewählt. Sie war 42 Jahre alt, Juristin, saß jahrelang als Abgeordnete im EU-Parlament und galt ihrem Vater gegenüber als loyal. Doch bald stellte sich heraus, dass sie sehr konkrete Pläne hatte, den FN neu zu positionieren – sehr zum Ärger ihres Vaters und vieler Altgedienter in der Partei.
Marine Le Pen gab bekannt, dass sie das Image des Front National „entteufeln“ wolle, weil man es in ihren Augen all die Jahre verteufelt hatte. Als Zeichen der Veränderung ließ sie die Partei 2018 von „Front National“ in „Rassemblement National“ (Nationale Versammlung) umbenennen. Der Antisemitismus habe ab sofort in der Partei keinen Platz mehr, so ihr Credo, und als Vater Jean-Marie erneut – und wie zum Trotz – auf seiner Aussage beharrte, die Gaskammern seien ein Detail der Geschichte gewesen, wurde er 2015 aus der Partei ausgeschlossen. Marine Le Pen hatte aus politischen Gründen mit ihrem Vater gebrochen.
Die öffentliche Abkehr vom Antisemitismus geriet in der Folge zum wahren PR-Coup. Als im November des vergangenen Jahres als Reaktion auf die Hamas-Terrorangriffe des 7. Oktober in Paris ein „Marsch gegen den Antisemitismus“ stattfand, nahm Marine Le Pen zusammen mit 100.000 Bürgern daran teil und wurde dafür von Serge Klarsfeld, dem Holocaust-Überlebenden und legendären „Nazi-Jäger“, gelobt. Er werde im Fall eines Duells zwischen Le Pens Partei und der linken – aus seiner Sicht antisemitischen – Partei „Unbeugsames Frankreich“ (La France Insoumise, LFI) von Jean-Luc Mélenchon für Erstere stimmen, sagte Klarsfeld.
Hat Le Pen ihre Partei völlig umgekrempelt? Was den Antisemitismus betrifft, ja. Le Pen gab dem Rassemblement National (RN) zudem ein freundlicheres Gesicht – das einer selbstbewussten, starken Frau. Und sie nahm etwas von der verbalen und inhaltlichen Radikalität zurück, wo immer ihr das opportun erschien. Während unter ihrem Vater der Plan bestand, Millionen Immigranten einfach des Landes zu verweisen, fordert Marine Le Pen ein Ende muslimischer Einwanderung. Geblieben ist der ideologische, rechtsradikale Kern der Partei: eine „nationale Priorität“ soll legal im Land lebende Ausländer benachteiligen, indem ihnen zum Beispiel Sozialleistungen gestrichen werden. Dazu bräuchte es eine Verfassungsänderung, und darauf will der RN hinarbeiten.
Auch die antieuropäische Haltung des RN variiert über die Jahre. 2016, als Großbritannien beschloss, die EU zu verlassen, befürwortete die Partei einen Austritt Frankreichs aus der Union, später einen Austritt aus dem Euro und eine Rückkehr zum Franc, und mittlerweile ist auch diese Forderung verstummt. Allerdings lehnt der RN die europäische Souveränität in vielen Bereichen ab und verlangt eine Rückkehr der Kompetenzen an die nationalen Parlamente.
Fixer Bestandteil der Ideologie ist eine feindselige, teils offen, teils verkappt rassistische Haltung gegenüber Migranten, insbesondere Muslimen. Spektakuläre islamistische Attentate – der Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ im Jänner 2015, die Anschläge auf das Bataclan und andere Orte im November 2015, die Enthauptung eines Lehrers im Oktober 2020 – haben die Bevölkerung in den vergangenen Jahren empfänglicher für antimuslimischen Rassismus werden lassen.
Ist die Partei noch rechtsextrem?
Die Partei hat sich verändert, die Einstellungen der Bevölkerung in Bezug auf Migration auch – und so gaben nach und nach immer mehr Franzosen in Umfragen an, von Marine Le Pen und dem RN Lösungen für das Land zu erwarten, und immer weniger sahen in dem RN eine Gefahr. Bei den Präsidentschaftswahlen von 2012, 2017 und 2022 legte Le Pen stetig zu, bei den letzten beiden kam sie in die Stichwahl.
Ist der Rassemblement National des Jahres 2024 eine rechtsextreme Partei? Marine Le Pen ist in einigen Punkten weniger radikal als etwa FPÖ-Chef Herbert Kickl. Sie distanziert sich im Gegensatz zu Kickl von der rechtsextremen Identitären Bewegung und vermeidet Begriffe wie den verschwörungsmythischen „Bevölkerungsaustausch“. In Frankreich wird der RN dennoch „rechtsextrem“ genannt, etwa auch von Präsident Macron, der allerdings auch die Linkspartei „Unbeugsames Frankreich“ als „linksextrem“ bezeichnet. Le Pen hat gegen die Bezeichnung „rechtsextrem“, die auch vom französischen Innenministerium verwendet wird, geklagt – und verloren.
Doch diese Debatte hat eher akademischen Charakter. Zerfallen ist der gesamtgesellschaftliche Konsens, der besagte, dass eine rechtsextreme Partei niemals regieren dürfe. Der galt zur Zeit von Jean-Marie Le Pen uneingeschränkt, doch die Entteufelungs-Strategie hat auch hier Erfolge gezeitigt. Teile der konservativen Partei „Die Republikaner“ kooperieren mit dem RN bei den Parlamentswahlen, und auch ein Editorial der konservativen Tageszeitung „Le Figaro“ sorgte vergangene Woche für Aufsehen: Der Chefredakteur hatte darin ein wenig verklausuliert dazu aufgerufen, bei der Stichwahl an diesem Sonntag für den RN und nicht für das Linksbündnis zu stimmen.
Auch das Mehrheitswahlrecht, das lange Zeit als unüberwindliche Hürde für eine extreme Partei galt, kann den RN nicht mehr stoppen. Unter den Französinnen und Franzosen ist der RN trotz seiner Vergangenheit, trotz seiner antieuropäischen Einstellung, trotz seiner Russland-Nähe und trotz seiner Ausländerfeindlichkeit offensichtlich zur beliebtesten Partei des Landes geworden. Wer sind seine Wähler? Die besten Werte verzeichnet der RN nach wie vor bei Arbeitern, Angestellten und Personen ohne Matura. Aber die Partei hat beim ersten Wahlgang der Parlamentswahlen am 30. Juni auch bei Gruppen gut abgeschnitten, bei denen sie noch bei den letzten Parlamentswahlen 2022 schwach war: 32 Prozent der Frauen wählten RN (gegenüber 17 Prozent 2022), ebenfalls 32 Prozent der unter 35-Jährigen (2022: 18 Prozent) und auch 32 Prozent der Besserverdiener (2022: 15 Prozent).
„Ich mache uns zum Teil verantwortlich, uns, die Linken.“
Marine Le Pen, mittlerweile 55, und Jordan Bardella, 28 Jahre alt und RN-Kandidat für das Amt des Premierministers, bilden ein attraktives Duo. Die starke Frau und der junge Mann aus der Pariser Banlieue, ein Einwandererkind italienischer und ein klein wenig algerischer Abstammung, entsprechen so gar nicht dem Klischee einer rechtsextremen Parteiführung, wie Jean-Marie Le Pen sie verkörperte. Auch deshalb ist ungewiss, ob die Warnungen vor einem Wahlsieg des RN die Bevölkerung noch beeindrucken können. Die linke Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux etwa ruft dazu auf, den RN „zu blockieren“, doch diese Haltung, die einst gar nicht hinterfragt zu werden brauchte, empfinden viele nicht mehr als einleuchtend. Wenn sogar Serge Klarsfeld lieber den RN wählt als das Linksbündnis, wie groß ist dann noch das moralische Gewicht des Slogans „Keine Stimme für die Rechtsextremen“?
Die Aussicht auf den Sieg des Rassemblement National an diesem Sonntag und eine mögliche absolute Mehrheit im Parlament und vielleicht einen Sieg von Marine Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen 2027 weckt in manchen Intellektuellen Selbstzweifel, in den Jahrzehnten des Aufstiegs des Front National und des Rassemblement National versagt zu haben. Die Theaterregisseurin Ariane Mnouchkine, 85 und bekannt für das von ihr gegründete Theaterkollektiv „Théâtre du Soleil“, schreibt in der Tageszeitung „Libération“: „Ich mache uns zum Teil verantwortlich, uns, die Linken, uns, die Leute aus der Kultur. Wir haben das Volk fallen lassen, wir wollten ihren Ängsten nicht zuhören, ihren Sorgen.“
Am Sonntag ab 20 Uhr werden die Ergebnisse der Parlamentswahl bekannt gegeben. Und die Frage beantwortet, ob die rechtsextreme 0,52-Prozent-Partei des Jahres 1973 demnächst den Premierminister stellen wird.
Robert Treichler
Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur