Ukraine-Krieg

Vor der Mobilmachung in Russland geflohen, gestrandet in Wien

Vlad ist einer von Zigtausenden Russen, die der Mobilmachung in ihrer Heimat entkommen sind. Hier erzählt er, wieso er sich ausgerechnet in der Ukraine ein neues Leben aufbauen will.

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Wie nennt man jemanden wie Vlad? Einen Dissidenten, einen Flüchtling? Das trifft auf den 61-jährigen Russen nicht recht zu. 

Vlad hat beschlossen, aus dem Urlaub nicht mehr heimzukehren. Er war an der Ostsee segeln und besuchte danach seine Halbschwester in Wien. Als Wladimir Putin in Moskau die Teilmobilmachung verkündete, entschied Vlad, nicht zurückzukehren. In einem Wiener Kaffeehaus erzählt er, wie es dazu kam. In Moskau habe er alles, was man sich wünschen könne: Einen guten Job, Geld, eine schöne Wohnung, dazu noch ein Gartenhaus, eine große Familie. Nur mit seiner politischen Haltung eckte Vlad stets an.

Als die russischen Truppen am 24. Februar in der Ukraine einmarschieren, geht er nach der Arbeit auf die Straße. „Der Krieg muss gestoppt werden!“, rufen die Menschen im Chor. Als die Polizei kommt, laufen sie weg. Vlad entkommt – vorerst. Doch das ist erst der Anfang.

Angst vor Gefängnis

Geboren wurde Vlad in der Ukraine. Seine Mutter ist Russin, sein Vater Ukrainer. Mit 16 zieht er nach Moskau, absolviert den Wehrdienst, studiert Psychologie. Die Ukraine ist zu dieser Zeit noch Teil der Sowjetunion. Einen ukrainischen Pass hat Vlad nie besessen.

Während des Studiums absolviert er wie viele andere eine zusätzliche Militärausbildung und wird zum Oberleutnant ernannt. Damit erfüllt Vlad genau das Profil, das in Russland gerade gesucht wird: Er hat Militärerfahrung und ist unter 65 Jahre alt. Dass er einberufen würde, glaubt er dennoch nicht: „Sie wissen genau, dass ich gegen das Regime bin und mich weigern würde, einzurücken.“ Angst hat er trotzdem. Die Behörden würden die Gelegenheit nutzen, um ihn einzusperren, da ist sich Vlad sicher. Also bleibt er in Wien. 

Zu Hause in Moskau warten seine Frau, eine erwachsene Tochter und ein 16-jähriger Sohn. Der ältere Sohn, 28 Jahre alt, hat den Einberufungsbefehl erhalten und ist, wie Hunderttausende weitere Männer, ins benachbarte Ausland geflohen.

Die Ukraine will ihn nicht

Und Vlad?

Am liebsten würde er in die Ukraine ziehen und mit der Familie ein neues Leben aufbauen. Verwandte hat er dort viele, er könnte bei einem Cousin in Kiew wohnen. Doch die Ukraine will ihn nicht. Vor einer Woche war er bei der Botschaft in Wien, hat seine Situation erklärt. „Sie meinen, ich müsste in meiner Heimat Russland um ein Visum ansuchen“, sagt Vlad und schüttelt den Kopf. Er versteht nicht, wieso sie ihn nicht ins Land lassen wollen. Sein Ansuchen um die ukrainische Staatsbürgerschaft hat das Außenministerium in Kiew schon im April abgelehnt.

Vorerst kann der 61-Jährige in Europa bleiben, er hat er ein französisches Touristenvisum für ein Jahr. Er überlegt, in Frankreich oder in Österreich Asyl zu beantragen.

Sieht sich Vlad als Russe oder als Ukrainer? „Die Frage hat sich nie gestellt – bis zum 24. Februar“, sagt er. Er sei immer beides gewesen, doch damit sei jetzt Schluss: „Ich fühle mich seit dem Krieg nicht mehr als Russe.“ Vlad ist, wenn man so will, doppelt heimatlos. In die Ukraine darf er nicht. Und nach Russland kann er nicht zurück. Er sei bereit, in Moskau alles zu verkaufen, um hier in Österreich ein neues Leben anzufangen. 

Eine Stunde lang hat Vlad aus seinem Leben erzählt. Sein Kaffee steht unberührt vor ihm. Nach Russland, sagt Vlad schließlich, will er nie wieder.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.