Vranitzky: "Am liebsten erzählte er Gorbatschow-Witze"
profil: Wer war Michail Sergejewitsch Gorbatschow? Im Westen wird der letzte Präsident der Sowjetunion geehrt, in Russland gilt er als Totengräber der Sowjetunion, in Osteuropa ist er höchst umstritten. Wer war er für Sie?
Vranitzky: Ich habe die KPdSU-Zeit in Erinnerung, die Generalsekretäre Breschnew, Andropow, Tschernenko und so weiter – lauter ältere Herren. Die KPdSU schien überlebt, und Gorbatschow war dann eine seltsame Mischung aus Überraschung und Selbstverständlichkeit. Das klingt widersprüchlich, aber es war so. In seiner Anfangszeit schritt Gorbatschow aus westlicher Perspektive betrachtet recht unbekümmert in der Sowjetunion voran. Immer wieder erklärte er den Menschen Glasnost („Transparenz“) und Perestroika („Umbau“). Russische Kollegen sagten mir, dass viele gar nicht wüssten, was Glasnost und Perestroika bedeuten. Dieses System war ihnen wesensfremd.
profil: Sie haben Gorbatschow erstmals 1988 in Moskau besucht, im Jahr vor dem Fall der Berliner Mauer. Woran erinnern Sie sich?
Vranitzky: Das war unglaublich spannend. Ich bin mit einer riesigen Delegation nach Moskau gereist. Etliche hatten die Befürchtung, dass Ministerpräsident Nikolai Ryschkow nicht goutieren würde, dass Österreich der Europäischen Gemeinschaft (EG) beitreten will. Wir kamen in einen riesigen Raum, mehr als 40 Personen nahmen Platz, und Ryschkow sagte, in aller Freundlichkeit: „Ich lese, ihr wollt der EG beitreten, das geht natürlich nicht.“ Meine Wirtschaftsvertreter sind bildlich unter den Tisch gefallen. Ich sagte: „Ja, wir haben dieses Vorhaben, aber ein Beitritt Österreichs wird nicht hier entschieden, das ist die Angelegenheit der Mitgliedstaaten.“ Er sagte: „Nein, das stimmt nicht, ihr müsst den Staatsvertrag einhalten, und der bindet euch an die Neutralität. Ein Beitritt wäre eine Verletzung der Neutralität!“ Das war gut für mich, denn: Die Neutralität steht eben nicht im Staatsvertrag, sondern ist in einem österreichischen Verfassungsgesetz verankert.
profil: Am Ende wurde Ihr Argument gehört.
Vranitzky: Ich war vier Tage dort, traf Ryschkow immer wieder und brachte mein Argument vor. Nach den paar Tagen gab er der staatlichen Nachrichtenagentur TASS ein Interview und sagte, ich hätte versichert, dass Österreich alle internationalen Verpflichtungen einhalten würde. Das war der Durchbruch. Am vierten Tag kam ich zu Gorbatschow. Das Gespräch dauerte eine Stunde, wir sprachen über alles, nur nicht über den geplanten EG-Beitritt.
profil: Das Thema war also erledigt?
Vranitzky: Er hat gescherzt. Ob ich Frau Thatcher kenne. Ich sagte ja. Ob ich sie gut kenne? Ja, schon, meinte ich. Und er meinte: Und trotzdem willst du der EU beitreten? In Wahrheit hat Gorbatschow Thatcher sehr geschätzt und stets gut von ihr gesprochen. Als ich einmal in London war, sprach auch Thatcher gut über Gorbatschow. Die beiden haben einander imponiert.
profil: Gorbatschow hat gern gescherzt?
Vranitzky: Er war ein humorvoller Mensch. Er hat über jedes Thema eine Schnurre gewusst.
profil: Sie waren noch einmal Ende September 1991 bei Gorbatschow in Moskau. Das war sechs Wochen nach dem versuchten Putsch. Ihr Besuch kam in einer bewegten Zeit, drei Monate später trat Gorbatschow zurück. „Jede Art von Euphorie ist verfehlt“, sagten Sie danach. Wie haben Sie ihn damals erlebt?
Vranitzky: Gorbatschow löste die Sowjetunion auf, am Ende waren die 15 Sowjet-Republiken selbstständig. Das konnten wir damals aber so noch nicht wissen. Ich bin anlässlich des Austromir-Starts, an dem der österreichische Kosmonaut Franz Viehböck teilnahm, nach Kasachstan gereist. Fast alle Präsidenten der Sowjet-Republiken waren dort. Gorbatschow war quasi schon weg von der Bühne. Er hat aber in Moskau nicht resigniert gewirkt, sondern hat munter erzählt, wie immer. Drei Monate danach kam Jelzin. In Moskau war es spannend, ich eilte von einem Ministerium zum anderen. Es gilt bei solchen Besuchen, möglichst viel Informationen aufzusaugen und den eigenen Standpunkt deutlich zu machen. Es war ein Durcheinander.
profil: Wie wirkte Gorbatschow damals auf Sie? War er gestresst?
Vranitzky: Überhaupt nicht. Wir haben freundschaftlich miteinander geredet, wie immer. Gorbatschow war Gorbatschow, er hat sich nicht verändert im Vergleich zu unserem Treffen 1988.
profil: Sie haben damals den Westen für einen Mangel an Unterstützung der Sowjetunion kritisiert: Man verlange von Gorbatschow die Einführung der Marktwirtschaft, ohne entsprechende Hilfe anzubieten – und hungere ihn ökonomisch wie politisch aus. Trägt der Westen Mitschuld an seinem Fall?
Vranitzky: Mit Schuldzuweisungen bin ich vorsichtig. Allerdings stellte ich fest, dass Jelzin international ziemlich rasch als neue Nummer eins in Russland anerkannt wurde. Auch aus Washington hieß es, man könne gut mit ihm arbeiten. Unter Jelzin entstand das Oligarchenwesen, er hat die staatlichen Unternehmen günstig an Investoren verscherbelt. Diese setzten sich in den Industrie- und Energiebereichen fest. Für unsere Wirtschaftsbeziehungen war damit alles neu. In der
KP-Zeit lief alles holprig, aber mit einer gewissen Verlässlichkeit ab. Die österreichischen Exporteure wussten, sie mussten mit dem zuständigen Wirtschaftsminister reden. Das lief nicht über die Generaldirektoren der jeweiligen Unternehmen, sondern über ihn. Als es den Minister plötzlich nicht mehr gab, wurde alles schwieriger.
profil: Sie und Ihre Regierung wurden von Opposition und Medien heftig kritisiert, weil Sie den versuchten Augustputsch gegen Gorbatschow in Moskau nicht eindeutig und früh genug verurteilt hätten. In der Presse war die Rede von der „peinlichsten Episode in Vranitzkys Außenpolitik“. Verstehen Sie diese Kritik im Nachhinein?
Vranitzky: Außenminister Alois Mock, Generalsekretär Thomas Klestil und ich machten einen Fehler, als wir sinngemäß sagten, dass die neue Führung die Politik Gorbatschows weiterführen müsse. Das war ein dummer diplomatischer Fehlgriff. Wir hätten natürlich fordern müssen, Gorbatschow sofort freizulassen.
profil: Sie bezeichneten Gorbatschows Rolle schon 1991 als „historisch“. Damit haben Sie recht behalten. Heute sehen wir aber, dass sein Erbe nicht aufgegangen ist: Russland ist nicht demokratischer geworden, sondern hat sich von einer Autokratie in eine Diktatur verwandelt. Liegt das auch an Fehlern Gorbatschows?
Vranitzky: Es kann sein, dass er nicht stark genug war – als Person und als Machtpolitiker –, um die neuen Grundlagen der russischen Politik und Gesellschaft in sein Segel zu bekommen, damit sein Boot weiterfährt. Das ist ihm nicht gelungen. Den Beweis dafür erleben wir bis heute. Die russische Politik ist aufgebaut auf Kontrolle, Überwachung und Tyrannei. Diese Kräfte waren am Ende stärker als der liberale, westlich orientierte, demokratiebegeisterte Michail Gorbatschow. Die russische Grundphilosophie besteht darin, dem Volk und dem Staat eine Rolle zuzuschreiben, die weit über das Heute hinausreicht. Da werden die Russen als großes auserwähltes Volk gesehen, das einen Erlöser bräuchte. Das ist unter anderem der Hintergrund für den Ukraine-Krieg. Diesen Kräften war Gorbatschow nicht gewachsen. Er ist in und an Russland gescheitert.
profil: Gorbatschow hat sich Putin gegenüber kritisch geäußert, schon vor zehn Jahren meinte er, Putin solle zurücktreten. Für den Krieg in Georgien 2008 und die Annexion der Krim 2014 zeigte er aber Verständnis. War Gorbatschow also doch für
Putins Politik oder wollte er am Ende einfach seine Ruhe, immerhin lebte er bis zuletzt in Russland?
Vranitzky: Ich kann das nicht im Detail beurteilen, aber: Putin wurde in den Nullerjahren auch im Westen positiv betrachtet. Viele sagten: Mit dem kann man reden. Das schätzte auch Gorbatschow so ein. Als dann, mit Beginn der Zehnerjahre, Putin immer deutlicher sein wahres Gesicht zeigte, hat Gorbatschow sich zurückgezogen. Warum er den Einmarsch in Georgien unterstützt hat, kann ich nicht beurteilen. Möglicherweise wollte er mit seinen Nachfolgern gut auskommen.
profil: Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesprochen?
Vranitzky: Vor etwa fünf Jahren lud ich ihn zu einem Vortrag hier in Wien ein. Zuvor hatte er mir gesagt: Wenn du meinst, ich soll kommen, dann mache ich das. Doch dann schrieb er, er könne nicht kommen, denn er verlasse Russland nicht mehr. Ich weiß nicht, wieso, ob er dachte, es ginge gesundheitlich nicht mehr oder ob man ihn auf irgendeine Art und Weise festhielt.
profil: Hatten Sie zuvor regelmäßig Kontakt?
Vranitzky: Ab und zu schrieben wir uns Briefe, schickten einander Weihnachtsgrüße oder Wünsche zu anderen Anlässen. Das war in den letzten Jahren kein
intensiver Meinungsaustausch mehr. Er war materiell nicht gut ausgestattet. Wenn er zu Vorträgen eingeladen war, musste er ein Honorar verlangen. Das ist für Staatsoberhäupter dieser Dimension äußerst ungewöhnlich.
profil: Sie waren im März 1992 noch einmal in Moskau, diesmal bei Boris Jelzin, es war der erste Besuch nach dem Zerfall der Sowjetunion. Was unterschied Jelzin von Gorbatschow?
Vranitzky: Zunächst das Wesen: Gorbatschow war ein munterer, aufgeschlossener Mensch, der auch zur Erheiterung beitragen konnte. Das gab es bei Jelzin nicht. Der war höflich und freundlich, blieb aber stets innerhalb der Formalitäten.
Man hat das Gespräch nur überlebt, wenn man ab und zu auch ihn unterbrach. Es war ein ständiges Unterbrechen und Unterbrochenwerden. Der Leidtragende war der Dolmetscher.
profil: Und Gorbatschow war charmant?
Vranitzky: Ja, absolut. Er war ein notorischer Witze-Erzähler, wobei die Witze immer ihn zum Gegenstand hatten. Am liebsten hat er Gorbatschow-Witze erzählt.
profil: Er soll aber auch endlos monologisiert haben.
Vranitzky: Da haben Sie recht. Er war insofern ein anstrengender Gesprächspartner, als er seinen Monolog mit Eifer gepflegt und seinen Gesprächspartner oft unterbrochen hat. Man hat das Gespräch nur überlebt, wenn man ab und zu auch ihn unterbrach. Es war ein ständiges Unterbrechen und Unterbrochenwerden. Der Leidtragende war der Dolmetscher.
profil: Haben Sie auch Spannungen zwischen Gorbatschow und anderen erlebt?
Vranitzky: Ich war einmal bei einer Preisverleihung in Berlin und unterhielt mich mit Gorbatschow. Da kam Polens Präsident Lech Wałęsa vorbei. Ich fragte die beiden, ob sie einander schon getroffen hätten. Sie verneinten, also stellte ich sie einander vor. Sie reichten sich umständlich die Hände. Als ich Wałęsa später fragte, ob er Gorbatschow nicht gekannt hatte, meinte er: Wenn du nicht dabei gewesen wärst, hätte ich dem nicht die Hand gegeben. Als ich Gorbatschow später fragte, ob er mit Wałęsa verfeindet sei, sagte er: Feindschaft ist das keine, aber der existiert für mich nicht.
profil: Warum?
Vranitzky: Ich weiß es nicht. Ich könnte bloß spekulieren, aber das tue ich nicht.
profil: Gorbatschow hat 1990 den Friedensnobelpreis erhalten. Seine Kritiker sehen das als Skandal, immerhin hat er den GAU in Tschernobyl tagelang verheimlicht, schickte seine Truppen nach Kasachstan, Georgien, Aserbaidschan, Litauen und Lettland. Können Sie dieser Kritik etwas abgewinnen?
Vranitzky: Das sind objektive Fakten, die nicht zu widerlegen und daher kritisierbar sind. Er war halt der Chef in Moskau, und als solcher konnte er jederzeit Truppen irgendwohin in der Union schicken, das haben seine Vorgänger alle mit großer Selbstverständlichkeit auch getan. Möglicherweise hat er Druck empfunden, sich so verhalten zu müssen, wie man sich in Moskau in solchen Situationen eben verhält. Vielleicht ist er diesen habituellen Zwängen nicht entkommen. Immerhin war er Vorsitzender der KPdSU. Er war Russe und Kommunist. Gigantische politische Realitäten wie diese lassen sich eben nicht in zwei, drei Jahren in eine westliche Demokratie umwandeln.
profil: Was bleibt von Gorbatschows Erbe?
Vranitzky: In den äußeren Erscheinungsbildern das Ende des Kalten Krieges, die Deutsche Einigung, die Befreiung der sogenannten Satellitenstaaten vom Moskau-Joch. Es wäre nicht gerecht, ein Urteil über sein Erbe in Russland zu fällen. Der Gärtner pflegt den Garten und dann, nachdem man ihn verjagt hat, wächst eben
alles wieder nach. Dafür kann man den Gärtner nicht verantwortlich machen. Ich habe Respekt vor Gorbatschow, der in einem knochenharten System aufgestanden ist und sich mit dem Aufruf, wir müssen so viel anders machen, mit seiner ganzen Persönlichkeit exponiert hat. Das spricht ebenso für ihn wie das Verhalten derer, die ihm heute die Steine nachwerfen.
profil: Haben Sie das Bedürfnis, ihm die letzte Ehre zu erweisen, etwa im Rahmen eines Trauerakts in Berlin?
Vranitzky: Das könnte ich mir vorstellen. Übrigens habe ich soeben ein Kondolenzschreiben an seine Tochter abgeschickt. Bei der alles übertreffenden Politik soll Gorbatschow auch als Familienmensch nicht vergessen werden.