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Wahlen in der Slowakei: Eine Geschichte der Gewalt

Schlägereien zwischen Politikern, Hetze in den sozialen Medien, Mobilisierung gegen Minderheiten: Der Wahlkampf in der Slowakei ist zum Gewaltakt verkommen. Was ist los in unserem Nachbarland?

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Wenn Spitzenpolitiker im Wahlkampf öffentlich aufeinander eindreschen, läuft etwas schief im Land. Vergangene Woche ging in der Slowakei ein Video viral, in dem genau das zu sehen ist. Gefilmt wurde es ausgerechnet vom Auto eines der beiden Beteiligten aus – Ex-Premier Igor Matovič von der konservativ-nationalistischen OĽaNO übertrug die Szene live auf Facebook. Matovič war zu einer Wahlkampfveranstaltung der sozialdemokratischen Partei Smer von Ex-Ministerpräsident Robert Fico angereist, um die Reden der Smer-Politiker mit einem Megafon zu übertönen und über Ex-Innenminister Robert Kaliňák zu schimpfen. Als dieser dann durch das offene Autofenster greift und versucht, Matovič das Mikrofon zu entreißen, kommt es zum Handgemenge, Schläge werden ausgetauscht. Am Ende wehrt Matovič seinen Kontrahenten mit Fußtritten ab, die Polizei schreitet ein.

Es ist nicht die erste Eskalation im Wahlkampf vor den Parlamentswahlen in der Slowakei am kommenden Samstag. Mehrere Politiker mussten ihre Kandidatur wegen Fehlverhaltens zurückziehen, darunter Robert Dohál von der konservativen KDH. In einer SMS an Studenten hatte er davon fantasiert, jeden zu köpfen, der Kinder über „Ungeheuerlichkeiten“ wie Geschlechtsumwandlungen informiert. Zwar sind Gewalt und Hetze im Wahlkampf nichts Neues. „Solche Angriffe waren vor allem in den 1990er-Jahren Teil der slowakischen Politik“, sagt der Politologe Erik Láštic von der Comenius Universität Bratislava. Im aktuellen Wahlkampf gehörten Provokationen wie die Störung von Pressekonferenzen politischer Gegner zur Strategie. Doch diesmal komme hinzu, dass die Gesellschaft nach den Krisen der vergangenen Jahre tief gespalten sei. Und: „Einige Parteien haben sich von Donald Trump inspirieren lassen und dulden politische Gewalt.“ Das trifft vor allem Präsidentin Zuzana Čaputová, die im Juni vorgezogene Neuwahlen ausrief.

Laut Umfragen dürften prorussische, autoritäre Kräfte die Wahlen gewinnen – und zwar nicht rechte, sondern linke. Die besten Chancen auf den ersten Platz ha die sozialdemokratische, linkspopulistische Smer von Ex-Premier Robert Fico. Zuletzt führte Fico die Regierung in Bratislava von 2012 bis 2018 – bis zum Mord am Investigativjournalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová.

Der Anschlag auf das junge Paar rüttelte das Land wach, Zehntausende gingen damals auf die Straße. Weil die Ermittlungen Verbindungen der slowakischen Politik mit mafiösen Gruppen offenbarten, musste Premier Fico schließlich gehen. An seine Stelle trat nach den Wahlen von 2020 der Quereinsteiger Igor Matovič von der konservativen Protestpartei OĽaNO. Die Regierung versprach, Korruption zu bekämpfen, doch sie währte nicht lange. Nach einem Jahr voller Krisen, Chaos und etlichen Rücktritten ernannte Präsidentin Čaputová schließlich eine Experten-Regierung und setzte vorzeitige Neuwahlen an. Bei den Wahlen am 30. September könnte Fico zum vierten Mal ins Amt gewählt werden. Der Chef der slowakischen Sozialdemokraten punktet auch am rechten Rand mit Nationalismus und prorussischer Haltung, mit Hetze und Beschimpfungen. Das geht so weit, dass Čaputová ihn verklagt hat – wegen „grober Lügen und erfundenen Anschuldigungen“.

Zur Präsidentin gewählt wurde die Bürgerrechtlerin 2019, beim Volk ist sie nach wie vor beliebt, noch einmal kandidieren will sie aber nicht. Ihr fehle dazu die Kraft, sagte Čaputová bei einer Pressekonferenz im Juni, die Anfeindungen gegen sie und ihre Familie hätten sie zermürbt. Die 50-Jährige setzte sich für die Unterstützung der Ukraine ein, für Minderheiten wie Roma, für Alleinerziehende und LGBTQ-Personen. Damit verkörpert sie alles, wogegen Fico antritt.

Schluss mit Ukraine-Hilfen

In den Jahren als Oppositionsführer scheint sich der 59-Jährige radikalisiert und bis zu einem gewissen Grad neu erfunden zu haben. Er hebt nun das traditionelle Familienbild hervor, die Ehe zwischen Mann und Frau, und spricht davon, lieber auf die „eigenen Leute“ zu schauen als auf die Ukraine. „Smer ist zwar immer noch eine sozialdemokratische Partei, aber anders als die liberal gesinnten Schwesterparteien in Österreich oder Deutschland“, sagt Politologe Láštic. „Sie präsentieren sich als Oldschool-Sozialisten, für Arbeiter und gegen Reiche.“ Als Vorbilder dienten Che Guevara und Hugo Chávez.

Was verbindet Smer noch mit der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten, ihrer Fraktion auf EU-Ebene? „Wenig“, sagt Andreas Schieder, Delegationsleiter der SPÖ im Europaparlament. Ein Ausschluss aus der Fraktion stehe derzeit nicht zur Debatte, doch das könnte sich ändern. „Sollten sie die europäische Ukrainepolitik blockieren oder Maßnahmen für Frauen- und Minderheitenrechte, dann würde es Konsequenzen geben, die am Ende auch zum Ausschluss aus der Fraktion führen könnten.“

Sollte Fico die Wahlen gewinnen, wird es nicht nur für die sozialdemokratische Fraktion schwieriger. Die bisherige Regierung in Bratislava hat die Sanktionen gegen Russland mitgetragen; nach dem Beginn des Angriffskrieges war die Slowakei das erste Land, das Kampfjets und Flugabwehrraketen an die Ukraine schickte. Damit will Fico nun schlussmachen. Er setzt auf den prorussischen Teil der Bevölkerung, der auf etwa ein Drittel geschätzt wird. Laut einer Umfrage sind 51 Prozent der Slowaken der Meinung, dass in erster Linie der Westen und die Ukraine für den Krieg verantwortlich wären; Russland nannten nur rund 40 Prozent.

Sollte die künftige Regierung in der Slowakei die europäische Ukrainepolitik blockieren oder Maßnahmen für Frauen- und Minderheitenrechte, dann würde es Konsequenzen geben, die am Ende auch zum Ausschluss aus der Fraktion führen könnten

Andreas Schieder

Delegationsleiter der SPÖ im EU-Parlament

Mit seiner prorussischen, antiamerikanischen Haltung punktet Fico vor allem bei Älteren. Der Krieg, so Robert Fico in einem Interview mit der konservativen Online-Plattform „Postoj“, „hat nichts mit uns zu tun“: „Sie wissen ganz genau, dass die Amerikaner und die Russen dort kämpfen, und die Ukraine ist ihr Waterloo.“

Ficos Kollege, Vize-Parteichef Ľuboš Blaha, geht noch einen Schritt weiter. Auf Facebook agitierte der Abgeordnete gegen NATO, Amerika und die Corona-Impfung, bevor die Plattform ihn im Juni 2022 sperrte. Zuvor war er mit rund 174.000 Followern der mit Abstand beliebteste slowakische Politiker in den sozialen Medien gewesen. Der Medienanalytiker Jakub Goda hat zusammengerechnet, dass Blaha Wladimir Putin von 2018 bis zu seiner Sperre rund 300 Mal positiv erwähnte. Seine Hassparolen gegen Präsidentin Čaputová wurden vergangenes Jahr per Gerichtsentscheid unterbunden.

Vorbild „illiberale Demokratie“

Heute hetzt Blaha auf Telegram, mehr als 39.000 Menschen folgen ihm auf dem Messenger-Dienst. Der 43-Jährige will die Slowakei von der „euro-amerikanischen Okkupation“ befreien und vom „Faschismus in Regenbogenfarben“. Zuletzt lobte er etwa die Drohung Warschaus, die Waffenlieferungen an die Ukraine zu stoppen, und gelobte den Kampf gegen das „reine Böse“ – Transsexuelle, Drogen, Migranten, Waffen und Diebstahl.

In der Slowakei ist der Populismus zum Mainstream geworden. Im Jahr 2016 zog die rechtsextreme Partei „Unsere Slowakei“ (ĽSNS) das erste Mal ins Parlament ein. Parteichef Marian Kotleba war schon zuvor mit antisemitischen Parolen aufgefallen und in von der NS-Zeit inspirierten Uniformen aufgetreten. Aus der ĽSNS spaltete sich die Partei „Republik“ ab, mit der Fico nach den Wahlen paktieren könnte. Möglich wäre etwa eine Koalition aus Smer, ĽSNS und ein bis zwei anderen kleinen Parteien.

„Fico kämpft um seine politische Zukunft“, sagt Politologe Láštic. Bei einem Wahlsieg könnte er versuchen, was in Ländern wie Ungarn und Polen bereits gelungen ist: die Schwächung des Rechtsstaates und der freien Medien, die politische Umfärbung wichtiger Positionen zugunsten der Smer – eine Systemänderung, wie Viktor Orbán sie vorgemacht hat.

„Die Frage ist“, sagt Láštic, „wie weit er dabei gehen wird.“ Für den Zusammenhalt Europas gegen Russland würde ein Wahlsieg Ficos nichts Gutes bedeuten. Zwar ist die Slowakei mit nicht einmal sechs Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern nicht gerade ein Schwergewicht in Europa. Doch bei einem Sieg Ficos gäbe es neben Ungarn ein weiteres Land in der Europäischen Union, das sich gegen die Unterstützung Kyivs (Kiews) ausspricht. Die ohnehin schon brüchige Solidarität mit der Ukraine könnte dann tiefe Risse bekommen.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.