Warum Erdoğans Bündnispartner sogar seine eigene Partei spalten
Auch wenn er es nicht zugeben würde, Recep Tayyip Erdoğan zittert weiter. Der türkische Präsident muss sich am 18. Mai einer Sichtwahl stellen, da er bei der Wahl am Sonntag nicht die absolute Mehrheit erlangte - und das trotz der Unterstützung eines breiten Parteienbündnisses.
Schon jetzt gilt diese Wahl als richtungsweisend. Es wird befürchtet, dass das NATO-Land Türkei weitere fünf Jahre unter Erdogan noch autokratischer werden könnte. Sein stärkster Herausforderer Kemal Kilicdaroglu tritt als Kandidat für ein breites Bündnis aus sechs Parteien an. Er verspricht die Rückkehr zu einem parlamentarischen System, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit; Prinzipien, die unter Präsident Erdogan stark gelitten haben.
Auch wenn Erdoğans in zwei Wochen noch immer gewinnen kann - für den 69-Jährigen ist das Ergebnis ein Rückschlag. Seit er 2003 zunächst zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, hat er jede landesweite Wahl gewonnen. Seit 2014 ist er Staatspräsident. Noch in seiner ersten Amtszeit hat er den Umbau der Türkei zu einem Präsidialsystem auf den Weg gebracht und die Macht auf seine Person konzentriert. Die Aura des Unbesiegbaren geht ihm nun durch die Stichwahl verloren.
Erdogan hat sich daher für diese Wahl Bündnispartner gesucht - und damit für Kritik aus den eigenen Reihen gesorgt. Bereits 2018 war er zusammen mit der ultranationalistischen MHP angetreten. Nun wird er unter anderem auch von der islamistischen Neuen Wohlfahrtspartei (Yeniden Refah) und der kurdisch-islamistischen Hüda Par unterstützt.
Antifeministisch und Nähe zur Hisbollah
Die beiden neuen Bündnispartner der AKP traten bei der Wahl am Sonntag mit einem antifeministischen Programm an. So will die Hüda Par den Schutz der „traditionellen“ Familie vor „abweichenden Ideologien“ durchsetzen. Konkret heißt das: Mädchen und Buben sollen getrennt unterrichtet und Frauen Arbeitsbedingungen angeboten werden, die ihrer „Natur“ entsprechen.
Die islamistische Neue Wohlfahrtspartei machte Wahlwerbung mit einem Bus, auf dem männliche Parlamentskandidaten mit Bild gezeigt wurden, von der weiblichen Kandidatin hingegen nur ein Schatten.
Der deutsche Verfassungsschutz bescheinigt der Hüda Par eine ideologische Nähe zur zerschlagenen islamistischen Gruppierung Hisbollah. So heißt es in einem Verfassungsschutzbericht des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2019: „Sie weist deutliche Bezüge zur türkischen Hisbollah auf und kann deren Anhängern eine neue Organisationsform bieten.“
Die türkische Hisbollah wird mit zahlreichen politischen Morden verbunden, darunter auch am Journalisten Halit Güngen. Als die Hüda Par bereits 2018 ihre Unterstützung für Erdoğan zusicherte, wurden nach und nach Hunderte Hisbollah-Terroristen aus der lebenslangen Haft entlassen – auf Befehl des Präsidenten.
Erdoğans Partei AKP sowie ihre (neuen) Bündnispartner tragen frauen-, homo- und transfeindliche Gesinnungen offen zur Schau und finden damit vor allem in ultrakonservativen Wählerkreisen Anklang. „Wir werden aktiv gegen perverse Tendenzen wie LGBT vorgehen, die bedrohen unsere Familienstruktur“, behauptete der Präsident im aktuellen Wahlkampf. Das Oppositionsbündnis rund um Kemal Kilicdaroglu, der beim ersten Wahldurchgang am Sonntag zweiter wurde, beschuldigt er der Unterstützung von Homosexuellen – und befeuert damit die homophobe Stimmung in weiten Teilen der Türkei.
Tausende gingen bereits 2022 auf die Straße, um ihre Ablehnung der LGBTIQ-Community zu demonstrieren. Den Austritt aus der Istanbul-Konvention zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen 2021 rechtfertigte die Regierung Erdogans unter anderem damit, dass das Abkommen Homosexualität normalisiere.
Menschenrechtler und Aktivisten kritisieren seit Jahren ein zunehmend feindliches Klima und Unterdrückung von LGBTIQ-Personen in der Türkei. Ein Sieg Erdoğans bei der Stichwahl am 18. Mai könnte den Kulturkampf zwischen Tradition und weltoffener Moderne weiter entflammen – und laut Kritikern zu massiven Einschränkungen für Frauen, Homosexuelle und Transpersonen führen.