Wer dieser Tage durch Serbien fährt, könnte meinen, dass das Land einen neuen Präsidenten wählt. Aleksandar Vučić ist auf Wahlplakaten zu sehen und gefühlt rund um die Uhr im Fernsehen. Er hält Wahlkampfreden, und die Parteien-Liste mit den größten Erfolgsaussichten trägt seinen Namen im Titel.
Nur: Aleksandar Vučić tritt bei den Parlamentswahlen am 17. Dezember gar nicht an. Er ist der Präsident des Landes und sein Amt ein rein repräsentatives, ähnlich wie das von Alexander Van der Bellen in Österreich. So zumindest sieht es die Verfassung vor. In der Realität ist Vučić der starke Mann Serbiens. Er wirbt ganz offen für seine Fortschrittspartei SNS, und diese kann im Wahlkampf auf die Unterstützung staatlicher Institutionen bauten. Dazu zählen neben der gekaperten Medienlandschaft auch die Kommunen. Wer im öffentlichen Dienst arbeitet, soll dem Druck ausgesetzt sein, für Vučićs Partei zu stimmen.
Vučić bestimmt seit zehn Jahren in verschiedenen Funktionen die Geschicke Serbiens. Seit dem Jahr 2017 ist er Präsident und hat dabei einen Vorteil, von dem viele Politiker in Europa nur träumen könnten: Er ist populärer als seine Serbische Fortschrittspartei (SNS). Diese kam bei den letzten Wahlen im April 2022 auf 43 Prozent. Aleksandar Vučić wiederum wurde bei derselben Wahl mit über 60 Prozent im Amt bestätigt. In Serbien sind Staat, Regierungspartei und Präsident nicht mehr voneinander zu trennen. Die SNS hat dadurch einen strategischen Vorteil. Ihre Abwahl gilt als ausgeschlossen.
Und dennoch: Die proeuropäische Opposition ist diesmal so geeint und stark wie seit Jahren nicht mehr. Seit Monaten demonstrieren Bürgerinnen und Bürger gegen Vučićs Regierung. Ihr Slogan „Serbien gegen die Gewalt“ richtet sich gegen ein zunehmend hasserfülltes Narrativ. Verschiebt sich etwas in Serbien? Hier steht, was man zur Wahl wissen sollte.
Wahlen – schon wieder?
Gab es nicht gerade erst Wahlen in Serbien? Richtig. Im April 2022. Aber: Vorgezogene Neuwahlen sind in Serbien nichts Neues. „Seit Vučić an der Macht ist, also seit 2012, gab es vier vorgezogene Neuwahlen. Das Land befindet sich in einem permanenten Wahlkampf. Das erschwert eine Konsolidierung der Opposition“, sagt Florian Bieber, Direktor des Zentrums für Südosteuropastudien an der Universität Graz.
Es gibt mehrere Gründe, warum Vučić das Parlament aufgelöst hat und jetzt neu wählen lässt.
Trotz seiner Machtfülle ist er innen- sowie außenpolitisch unter Druck geraten. Seit zwei Amokläufen im Mai mit 19 Toten kam es in Serbien zu den größten Protesten seit 20 Jahren. Die Menschen demonstrieren nicht nur gegen die gekaperten Institutionen, sondern auch gegen eine Verrohung der Sprache in TV-Diskussionen sowie im Parlament. Außenpolitisch ist Vučić im Dialog mit dem Kosovo in Schwierigkeiten. Die EU will, dass die beiden Nachbarn ihre territorialen Streitigkeiten lösen. Vučić weiß, dass weite Teile seiner Bevölkerung die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkennen, und inszeniert sich jetzt als Hüter serbischer Interessen. „Bei dieser Wahl schwingt die Atmosphäre eines Referendums mit“, sagt Tamara Branković. Die serbische Politikwissenschafterin hat in Österreich studiert und beobachtet die Wahl für die Nichtregierungsorganisation „CRTA“ in Belgrad. Vučić spreche häufig von „wir“ und „die anderen.“ Sein Narrativ: Wer gegen die Regierung ist, der stelle sich automatisch gegen die Interessen Serbiens. Vučić hat aber auch etwas Handfestes vorzuweisen. „Die SNS baut ihren Wahlkampf auf wirtschaftlicher Entwicklung auf. Für den durchschnittlichen Arbeiter ist genau das ausschlaggebend. Sie interessieren sich dafür, ob ihre Pension steigt oder ob europäische Unternehmen Fabriken in Serbien eröffnen“, sagt Jakov Devčić, Direktor der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Belgrad. Vergangene Woche kündigte Vučić nach einem Besuch der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni an, dass der Autohersteller „Fiat“ ab 2024 ein neues Elektroauto in Serbien bauen werde. Auch infrastrukturell gehört Serbien zu den Vorreitern in der Region.
Die SNS baut ihren Wahlkampf auf wirtschaftlicher Entwicklung auf. Für den durchschnittlichen Arbeiter ist genau das ausschlaggebend.
Jakov Devčić, Direktor Konrad-Adenauer-Stiftung in Belgrad
Wird die Regierung abgewählt?
Wohl kaum. Die SNS soll rund 700.000 Mitglieder haben – mehr als die Kommunisten zur Zeit Jugoslawiens. „Viele Jobs im öffentlichen Dienst hängen von der Partei ab. Es gibt ein ganzes Netzwerk der Kontrolle über staatliche Institutionen bis in das kleinste Dorf und in die Schulen. Deswegen ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Opposition gewinnt, gering“, sagt Florian Bieber.
Vučić schickt einen loyalen Gefolgsmann ins Rennen, der einen ähnlichen Nachnamen trägt: Miloš Vučević, Serbiens Verteidigungsminister. Im Mai hat er Vučić an der Parteispitze abgelöst. Realpolitisch ändert das wenig. Miloš Vučević ist zwar Spitzenkandidat in dieser Wahl, aber die Kampagne ist auf den Präsidenten zugeschnitten und wird auch von diesem getragen. „Es ist offensichtlich, dass Miloš Vučević keine eigene Hausmacht hat und die Dominanz von Vučić nicht in Frage stellen wird“, sagt Florian Bieber.
Sicher ist: Um weiterregieren zu können, braucht die SNS Koalitionspartner. Im Jahr 2020 hatte sie eine absolute Mehrheit erlangt, weil weite Teile der Opposition den Urnengang boykottierten. Sie sahen die Voraussetzungen für freie und faire Wahlen nicht gegeben. Zuletzt musste die SNS aber mit Minderheitenparteien sowie dem Juniorpartner, der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS), regieren. Die Sozialisten werden vom amtierenden Außenministers Ivica Dačić angeführt. Dieser war in den Neunzigerjahren, ebenso wie Vučić, für den Kriegstreiber Slobodan Milošević tätig. Die Sozialisten gelten heute als russlandfreundlich und unterhalten enge Verbindungen zum Kreml. Bei der letzten Wahl kamen sie auf rund 11 Prozent, was sie zum Zünglein an der Waage für Vučićs Regierungskoalition macht. „Ein Fortführen dieser Koalition ist wahrscheinlich. Die Frage ist nur, wie der Kuchen verteilt wird. Gut möglich, dass Ivica Dačić auch das Amt des Ministerpräsidenten einfordert “, sagt Jakov Devčić von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Belgrad.
Die Sozialistischen Partei Serbiens (SPS) ist das Zünglein an der Waage
Was bedeuten die Wahlen für Europa?
Serbien führt seit dem Jahr 2014 Beitrittsgespräche mit der EU. Diese Annäherung hat allerdings nicht dazu geführt, dass Serbien freier beziehungsweise demokratischer wurde. Von einer EU-Euphorie kann man ebensowenig sprechen. Die Mehrheit der Bevölkerung sieht nicht die EU, sondern Russland als ihren wichtigsten strategischen Partner an. Serbien hat deswegen auch keine Sanktionen gegen Moskau verhängt. Vučić laviert seit Jahren erfolgreich zwischen West und Ost. Als die EU-Spitzen im Oktober zum Westbalkan-Gipfel in Tirana zusammenkamen, reiste er demonstrativ nach Peking, um an einem Wirtschaftsforum zur Neuen Seidenstraße teilzunehmen. Auch Wladimir Putin und Viktor Orbán waren zugegen. Aleksandar Vučić liebäugelt ganz offen mit autoritären Staaten, was Serbiens Weg in die EU ad absurdum führt. Gleichzeitig ist Vučić weit davon entfernt, isoliert zu sein. Der Westen, also die USA und die EU, sehen in ihm einen Stabilitätsanker, den man nicht verprellen darf.
Einer der Hauptgründe dafür ist der seit bald einem Vierteljahrhundert schwelende Konflikt mit dem Kosovo, dessen Unabhängigkeit Serbien nie anerkannt hat. Seit über zehn Jahren versucht die EU im Rahmen eines Dialogs eine Lösung zu finden. Vučić hält die westlichen Unterhändler geschickt hin. Solange er den Konflikt am Köcheln hält, kann er die Nationalisten in Serbien mobilisieren und dem Westen gleichzeitig Hoffnungen machen, dass es nur mit ihm eine Lösung geben könne.
Doch Vučić entpuppt sich immer mehr als Unsicherheitsfaktor in einer fragilen Region, die vor 30 Jahren von blutigen Kriegen erschüttert wurde. Im September tauchte im Norden des Kosovo eine schwer bewaffnete serbische Kampftruppe auf und stürmte ein Kloster. Der Anführer der Paramilitärs, Milan Radoičić, gilt als enger Gefolgsmann Vučićs. Er war der Vizechef der „Srpska Lista“, dem Ableger der SNS im Kosovo. Der Vorfall ist bis heute ungeklärt, wirft aber viele Fragen auf. Die drängendste: Was wusste Vučić von dem Anschlag? Zwar dementiert er, in die Aktion verwickelt gewesen zu sein, aber viele bezweifeln das. Das Waffenarsenal der Paramilitärs stammte aus serbischen Beständen. Dazu kommt, dass Vučić regelmäßig seine Anhänger mit dem Thema Kosovo mobilisiert und sich als Beschützer der dort verbleibenden Serbinnen und Serben inszeniert.
Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine steigt in Prishtina, wo die kosovarische Regierung ihren Sitz hat, die Angst, dass es zu einem Krim-Szenario auf dem Balkan kommen könnte. Zwar sind im Norden des Kosovo NATO-Soldaten stationiert. Doch ist unklar, wie diese reagieren würden, wenn „grüne Männchen“, also Soldaten ohne Hoheitsabzeichen, Gemeindeämter einnehmen oder – wie im September – Dörfer stürmen. Und so geht es bei der Wahl am 17. Dezember nicht nur um den Zustand der Demokratie in Serbien, sondern auch um Geopolitik. Vučićs Schaukel-Politik zwischen Ost und West hat die Region unsicherer gemacht und alte Ängste vor neuen Kriegen beschworen.
Und die Opposition?
In Serbien gibt es nicht eine, sondern zwei Oppositionsflügel. Am rechten Rand erstarken pro-russische und rechtsradikale Parteien. Drei von ihnen schafften bei der vergangenen Wahl den Sprung ins Parlament und kamen zusammen auf über zwölf Prozent der Stimmen. Am anderen Ende des Spektrums steht eine pro-europäische Opposition, die sich aus Mitte-Links-Parteien zusammensetzt und Umfragen zufolge rund 20 Prozent der Stimmen erhalten könnte.
Dieses Bündnis ist etwas Neues, meint Florian Bieber: „Erstmals seit zehn Jahren tritt eine gemeinsame Opposition der pro-europäischen Kräfte an.“ Dass das Bündnis mit dem Slogan der Proteste (Serbien gegen die Gewalt) antritt, dürfte ihm in großen Städten und nicht zuletzt in Belgrad Zugewinne verschaffen. Doch die Opposition hat nicht dieselben Voraussetzungen wie die SNS. Die Forschungsstelle „CRTA“ misst die Mediendominanz von Präsident Vučić in regelmäßigen Abständen. Das Ergebnis: In den vergangenen zwölf Monaten wandte er sich durchschnittlich einmal pro Tag mit einer Rede an die Nation. „In einem regierungsnahen TV-Sender gibt es sogar eine Sendung, in der Menschen aus verschiedenen Berufen erzählen, warum sie dem Präsidenten dankbar sind“, sagt Tamara Branković, die für „CRTA“ als Wahlbeobachterin arbeitet. Eine Mehrheit, rund 70 Prozent der Serbinnen und Serben, hätten nur Zugang zu diesem regierungsnahen Programm. „Die Opposition ist geeint“, sagt Branković, „aber es fehlt ihnen an Möglichkeiten, über ihr Programm zu sprechen.“ Jakov Devčić, der Direktor der Konrad-Adenauer-Stiftung bestätigt, dass es in Serbien ein gekapertes Mediensystem gibt. Um dem entgegenzuwirken, müsse die Opposition allerdings damit beginnen, klassische Pateiarbeit zu machen und Verbände auf der lokalen Ebene aufbauen, um nicht nur das Bildungsbürgertum in den Ballungsräumen zu erreichen. Die Proteste waren ein erster Schritt in diese Richtung. Sie fanden überfall in Serbien und nicht nur in Belgrad statt.