Interview
„Die USA sind keine funktionierende Demokratie“
Das politische System in den USA funktioniert nicht mehr, sagt der USA-Experte Reinhard Heinisch. Machtpolitisch gingen die Republikaner deutlich smarter vor als die Demokraten.
Von Siobhán Geets
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Der US Supreme Court hat entschieden, dass Präsidenten für Amtshandlungen Immunität zusteht – auch nachdem sie aus dem Amt ausgeschieden sind. Welche Folgen könnte das Urteil haben?
Heinisch
Damit kann der Präsident umsetzen, was er in seinem Machtbereich für politisch richtig hält, auch wenn es ungesetzlich ist. Die Frage, ob der Präsident ein gewählter König ist oder das erste Exekutivorgan, war in der Verfassung nie wirklich geklärt, doch bisher gingen alle von Letzterem aus. Nun hat der Supreme Court den Präsidenten zum gewählten König gemacht. Er steht eindeutig über dem Gesetz.
Die Präsidentschaftswahlen in den USA seien „ein Kampf darum, wer wir als Nation sind“, schreibt die „New York Times“. Ist die Warnung angebracht?
Nach dem Urteil des Supreme Court könnten Trumps Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Volkswahl Früchte tragen.
Heinisch
Ja, weil die Demokratie auf dem Spiel steht wie nie zuvor. Auch weil die alte Verfassung undemokratischen Vorhaben viel Spielraum gibt. Vieles ist Auslegungssache, die meisten Spielregeln der US-Politik sind Konventionen, aber rechtlich nicht genau geregelt. Den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass etwa die Volkswahl des Präsidenten nicht in der Verfassung steht. Es muss nicht zwingend eine Wahl geben. Nach dem Urteil des Supreme Court könnten Trumps Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Volkswahl Früchte tragen. In Artikel 2 der Verfassung steht nur, dass die Bundesstaaten entscheiden, wer Präsident wird. Wie sie das tun, liegt bei ihnen. Das könnte auch der Gouverneur mit einer Mehrheit im Parlament seines Bundesstaates tun.
Könnte Trump diese Lücke in der Verfassung nutzen?
Heinisch
Ja. Die Wahlmänner aus den Bundesstaaten treffen sich Mitte Dezember, um den Präsidenten zu wählen, der Kongress bestätigt diese Wahl im Jänner. Die jeweiligen Delegationen werden von der Mehrheitspartei der Bundesstaaten zusammengestellt. Es genügt, dass ein Trump-treuer Gouverneur in einem Bundesstaat nach einem knappen Erfolg für die Gegenseite die Wahl infrage stellt. Dann beschließt die dortige Regierung mit ihrer Mehrheit im lokalen Repräsentantenhaus, das Ergebnis wegen Ungereimtheiten aufzuheben und eine Wahldelegation der „wahren Mehrheit“ zur Abstimmung nach Washington zu schicken. Wenn es knapp wird, dann fehlen Präsident Biden damit die entscheidenden Stimmen im Wahlkollegium. Schon nach den letzten Wahlen wollte Trump verhindern, dass die Demokraten auf die nötigen 270 Wahlmänner kommen. Es ging um traditionell konservative Staaten, in denen Biden gewonnen hatte: Nevada, Arizona und Georgia.
Wird sich das alles wiederholen?
Heinisch
Der Plan ist wohl, alle bestehenden Freiräume auszureizen. Als amtierender Präsident könnte sich Trump in die Wahlen einmischen und für eine ihm genehme Nachfolge sorgen. Eine juristische Anfechtung ginge wahrscheinlich in seinem Sinn aus. Das letzte Mal verlangte Trump von seinem Vizepräsidenten Mike Pence, die Verifizierung der Wahlergebnisse im Kongress nicht zuzulassen. Das wurde damals als ungesetzlich angesehen, und Pence weigerte sich. Aber jetzt, mit dem Urteil des Supreme Court, ist das Vorgehen insofern rechtlich gedeckt, als der Präsident politische Ziele in seinem Sinne verfolgen darf und die Behörden ihm gegenüber zur Loyalität verpflichtet sind. Theoretisch bedeutet dies, dass der Präsident einen Untergebenen anweisen könnte, eine rechtswidrige Handlung zu setzen, und dies rechtlich gedeckt wäre.
Sind die USA überhaupt noch eine funktionierende Demokratie?
Heinisch
Die USA sind keine funktionierende, sondern eine dysfunktionale Demokratie. Die Gründerväter haben die Macht im Sinne einer Dezentralisierung so verteilt, dass sich die verschiedenen Instanzen permanent gegenseitig blockieren können. Das Land hat dennoch gut funktioniert, weil sich über die Parteigrenzen hinweg genug Politiker in der Mitte gefunden und gemeinsam politische Projekte vorangetrieben haben. Durch die Polarisierung funktioniert das nicht mehr.
Wann hat diese Misere angefangen?
Das System ist dysfunktional. Der Kongress verabschiedet immer weniger Gesetze.
Heinisch
Begonnen hat es in den frühen 1990er-Jahren. Als der Republikaner Newt Gingrich 1995 Sprecher des Repräsentantenhauses wurde, ist die Polarisierung stärker geworden. Damals wurde zunehmend unterbunden, dass Politiker über Parteigrenzen hinweg Freundschaften pflegen und gemeinsam Gesetze vorantreiben. Diese Polarisierung hat dazu geführt, dass Politiker alle Blockademechanismen ausnutzen, bis hin zum Impeachment, dem Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidenten. Das System ist dysfunktional. Der Kongress verabschiedet immer weniger Gesetze. Diese Unfähigkeit regt die Leute auf, was wiederum den Republikanern nutzt, die gegen die Regierung hetzen. So schaukelt sich das permanent hoch.
Wie kommt man da wieder raus?
Heinisch
Schwierig. Trump lebt nicht ewig und er wird kein weiteres Mal antreten, alles geht einmal zu Ende. Rechtspopulisten erreichen ihre Schallmauer in der Regel bei rund 30 Prozent, das gilt auch für Trump. Er hat 2016 mit knapp über 26 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten gewonnen und 2020 mit einem ebenso großen Anteil verloren. Rechtspopulisten sind sehr gut darin, die begrenzte Unterstützung, die sie haben, maximal zu mobilisieren und auszuschöpfen. Was Machtpolitik betrifft, sind die Republikaner stets auch smarter als die etwas weniger machtbewussten Demokraten. Vielen republikanischen Politikern und Wählern sind die Schwächen Trumps egal, da sie sich selektive Vorteile versprechen. Evangelikale Wähler interessieren sich nicht für seine Affären, sie wählen ihn, weil er den Supreme Court mit Richtern nach ihrem Geschmack besetzt. Die anderen wählen ihn, weil er die Steuern niedrig hält. Doch die Demokraten suchen oft nach dem perfekten Kandidaten – er oder sie muss dann allen alles recht machen. Das erklärt, warum an Biden so lange festhielt, er stellt den kleinsten gemeinsamen Nenner dar. Bei der Pragmatik der Macht können die Demokraten von den Republikanern eine Menge lernen.
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Siobhán Geets
ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.