Warum die NATO zögert, die Ukraine aufzunehmen
Warum tagt heute der Ukraine-Rat der NATO?
Russland schoss vergangene Woche eine neuartige Mittelstreckenrakete auf die ukrainische Großstadt Dnipro ab, die auch theoretisch mit Atomsprengköpfen bestückt werden kann. Der Ukraine-Rat berät nun, wie man auf die neue Technologie reagieren soll. Das NATO-Gremium regelt die Zusammenarbeit zwischen Kyiw und dem Militärbündnis, solange die Ukraine noch nicht NATO-Vollmitglied ist.
Kann man mit einem NATO-Beitritt der Ukraine rechnen?
Die Ukraine pocht aktuell auf schnelle Fortschritte beim Beitrittsprozess, doch die NATO bremst. „Bisher ist das Bündnis noch nicht so weit, der Ukraine eine Mitgliedschaft anzubieten“, sagte Julianne Smith, die ehemalige ständige Vertreterin der USA bei der NATO, dem US-Medium „POLITICO" im Oktober. Die meisten Experten sehen einen Beitritt davon abhängig, wie der Ukraine-Krieg endet. Doch auch die Ukraine möchte der NATO erst beitreten, wenn Frieden herrscht. Ein NATO-Beitritt sei „eine Frage der Zukunft ist, nicht der Gegenwart“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kürzlich.
Wie wird man Teil der NATO?
Meist verlangt die NATO vorab Reformen im Verteidigungs- und Militärsektor. Sind die erfüllt, lädt das Militärbündnis zu Beitrittsgesprächen ein, an deren Ende eine Ratifizierung und damit der endgültige Beitritt, steht. Sowohl die Einladung als auch die Ratifizierung müssen von allen NATO-Staaten abgesegnet werden. Stellt sich ein Mitgliedsland quer, kann das den Prozess massiv verlängern oder ihn gar sprengen. So verzögerte die Türkei Schwedens NATO-Beitritt, der Anfang 2024 erfolgreich durchging, um mehr als ein Jahr. Auslöser war, dass die Türkei Schweden vorwarf „kurdische Terroristen“ zu schützen.
Welche NATO-Länder wollen einen ukrainischen Beitritt und welche nicht?
Selenskyj beschuldigt besonders Deutschland den Beitrittsprozess zu bremsen, doch auch das vom Rechtspopulisten Viktor Orbán regierte Ungarn und die Slowakei, zwei Länder, die noch gute Beziehungen zu Russland unterhalten, gelten als Gegner eines Beitrittes. Der slowakische Premier, der rechtsnationale Robert Fico, sprach im Oktober davon, dass er einen NATO-Beitritt der Ukraine verhindern würde, solange er Staatschef sei. Rückenwind für Kyiw kommt hingegen von Polen und den baltischen Staaten, Estland, Lettland und Litauen.
Was erhofft sich die Ukraine von einem NATO-Beitritt?
Eine NATO-Mitgliedschaft soll eine friedliche Nachkriegsordnung garantieren, so die Rechnung der Ukraine: Russland würde sich in so einer Situation nicht trauen, erneut zu attackieren, da man eine folgenreiche NATO-Reaktion provozieren würde.
Was passiert, wenn Russland ein NATO-Land angreift?
Das löst den sogenannten Bündnisfall aus: Alle anderen NATO-Länder müssen das angegriffene Land unterstützen. Voraussetzung ist jedoch, dass alle NATO-Länder den Angriff als solchen anerkennen und der Nordatlantikrat, das höchste Gremium der NATO, muss den Bündnisfall ausruft. De-facto bedeutet ein russischer Angriff auf ein NATO-Land also, dass sich alle Länder des Militärpaktes in einem direkten Konflikt mit Russland befänden.
Warum bremst die NATO den Beitritt der Ukraine?
Besonders Deutschland und die USA fürchten, dass ein NATO-Beitritt der Ukraine vor Kriegsende den Militärpakt in einen offenen Konflikt mit Russland hineinziehen könnte. Große Teile der Süd- und Ost-Ukraine sind von russischen Truppen besetzt. Ohne Sonderregelung würde das die Beistandspflicht auslösen und die NATO offiziell zur Kriegspartei machen, was höchstwahrscheinlich russische Angriffe auf NATO-Länder nach sich ziehen würde. Auch die Gefahr eines Atomschlages würde steigen.
Kann man sich von der Beistandspflicht drücken?
Artikel 5 des NATO-Vertrags, der den Bündnisfall regelt, ist recht offen formuliert: Mitgliedsstaaten müssen das angegriffene Land unterstützen, jedoch nicht zwingend militärisch. Staaten mit ambivalenten Beziehungen zu Russland, wie zum Beispiel Ungarn, könnten auf einen russischen Angriff also auch lediglich mit Hilfsgüterlieferungen oder Sanktionen reagieren. Der völlige Verzicht auf Unterstützung für die angegriffene Nation wäre jedoch ein Vertragsbruch und könnte theoretisch mit einem Ausschluss aus der NATO geahndet werden.
Was ist, wenn ein NATO-Land ein anderes NATO-Land angreift?
Die NATO-Statuen regeln eine solche Situation nicht explizit. Jedoch unterscheidet Vertragsartikel 5 nicht zwischen NATO-Mitgliedern und Nichtmitgliedern. Also könnte auch hier der Bündnisfall greifen, was bedeuten würde, dass sich die NATO in einem direkten Konflikt mit einem eigenen Mitgliedsstaat befindet. Das Szenario ist dadurch gefährlich, da sowohl die Türkei als auch Griechenland Teil der NATO sind: Die beiden Mittelmeerstaaten liegen im Clinch um Zugang zu Rohstoffen im ägäischen Meer und in der Zypern-Frage, wo die Türkei eine Separatistenrepublik der türkischen Minderheit unterstützt.
Wie viele Länder sind Teil der NATO?
Die NATO besteht aus 32 Vollmitgliedern und drei Beobachtern (Bosnien, Georgien und die Ukraine). Die drei Beobachter, die zumindest formell der NATO beitreten wollen, haben nur sehr begrenzte Rechte und Pflichten innerhalb des Bündnisses: So gilt für sie der Bündnisfall nicht. Sie müssen Mitgliedsstaaten bei einem Angriff nicht zur Hilfe eilen, wiederum ist die NATO ist nicht zur Unterstützung bei Attacken auf die drei Beobachter verpflichtet. Neben den fünf großen tonangebenden Militärmächten in Nordamerika und Westeuropa (USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich und Deutschland) sind auch kleinere Länder wie Luxemburg, Nordmazedonien oder Estland Teil des Bündnisses.
Gab es schon einmal einen Bündnisfall?
Ja. Nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center 2001 lösten die anderen NATO-Staaten den Bündnisfall aus Solidarität mit den USA aus. Die darauffolgenden NATO-Operationen waren jedoch hauptsächlich symbolischer Natur: Die Militärpartner sicherten den US-Luftraum und überwachten verstärkt den Schiffsverkehr im Mittelmeer.
Hat die NATO schon einmal Krieg geführt?
Ja. Die NATO führte auch abseits eines Bündnisfalles mehrmals Kriegseinsätze durch. NATO-Kampfjets flogen 1991 Einsätze gegen irakische Truppen, die in das Golfemirat Kuwait einmarschiert waren. Auch im Bosnien- und Kosovo-Krieg bombardierten NATO-Luftkräfte serbische Bodenziele und blockierten den Schiffsverkehr in der Adria. Besonders der Einsatz gegen Serbien 1999 gilt als kontrovers: Hauptsächlich, weil er ohne Mandat der Vereinten Nationen erfolgte, bei Bombardierungen Zivilisten starben und ein Luftschlag die chinesische Botschaft in Belgrad traf. Weiters bekämpfte die NATO im Afghanistan-Krieg Aufständische der Taliban und bombardierte im libyschen Bürgerkrieg 2011 Stellungen des Diktator Muammar al-Gaddafi.
Kritiker sagen die NATO sei „imperialistisch“. Wieso?
Der Vorwurf stammt aus dem Kalten Krieg: Die NATO würde verhindern, dass die Bevölkerung in ihren Mitgliedsstaaten demokratisch über ihre Regierungsform entscheidet. Tatsächlich orchestrierte die NATO in Italien eine Kampagne, um die beliebte Kommunistische Partei Italiens (KPI) zu diskreditieren. Mehrere Diktaturen, Portugal, Türkei und Griechenland, waren Teil des Bündnisses. Jedoch fanden im Rest der NATO-Mitglieder großteils freie Wahlen statt. Auch soll der Atlantikpakt laut Kritikern aus dem linken Lager ihre Machtposition nutzen, um „kapitalistische Interessen“ durchzusetzen. NATO-Länder verfolgten ihre finanziellen Interessen meist jedoch auf eigene Hand und nur selten als geeinter Block.
Wie arbeitet Österreich mit der NATO zusammen?
Österreich ist offiziell neutral, arbeitet jedoch eng mit dem Militärbündnis zusammen. Seit den Neunzigern ist Österreich Teil zweier NATO-Partnerschaftsprogramme, der Partnerschaft für den Frieden (PfP) und der Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat (EAPC). Neben Militärübungen mit Nordatlantikpakt-Truppen stellt die Republik auch über 400 Soldaten für die Friedenstruppe im Kosovo (KFOR), die von der NATO geleitet wird. Im Dezember 2023 richteten sich österreichische Diplomaten, zusammen mit anderen neutralen EU-Staaten, sogar in einem Brief an die NATO. Die damalige Forderung: Österreich will seine Zusammenarbeit vertiefen. Doch aus den Reihen der Opposition hagelte es Kritik.
Wer ist in Österreich gegen einen NATO-Beitritt?
Eigentlich alle Parteien. FPÖ-Wehrsprecher Volker Reifenberger sprach als Antwort auf den Brief von einer NATO-Annährung durch die „Hintertür“, SPÖ-Wehrsprecher Robert Laimer ortete in der heißen Wahlkampfphase für den Nationalrat eine Verschwörung von „transatlantischen Elite-Zirkeln“, die planen, Österreichs Neutralität zu untergraben. Gerade die Freiheitlichen und die Sozialdemokraten geben sich als entschiedene Gegner eines NATO-Beitritts.
Will jemand in Österreich einen NATO-Beitritt?
ÖVP und Grüne haben ein ambivalentes Verhältnis zum Militärbündnis: In einem Sicherheitspapier aus diesem Sommer unterstrichen sie den Wunsch nach einer „engen Zusammenarbeit“ mit dem Nordatlantikpakt. Für einen Beitritt machen sich aber auch beide regierenden Parteien nicht stark: Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) erklärte 2022 eine Debatte rund um die Neutralität, angeregt durch den früheren Nationalratspräsident Andreas Khol (ÖVP), für „beendet“. Bleiben nur noch die NEOS: Laut NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger sei man „offen“ für einen Beitritt. Die Jugendorganisation der Liberalen, die JUNOS, verlangen hingegen mittlerweile konkret die NATO-Mitgliedschaft.