Die Bedrohung durch Wladimir Putin steigt. In „fünf bis zehn Jahren“ könnte Russland einen NATO-Staat angreifen, sagt Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius. Ausgerechnet jetzt zieht Donald Trump die NATO-Beistandspflicht ins Lächerliche. Europa stellt sich beklommen die Frage: Wie sollen wir uns verteidigen?
Zu sagen, der Tod von Alexej Nawalny, dem russischen Dissidenten, der Wladimir Putin herausgefordert hat, sei keine Überraschung gewesen, mutet schrecklich kaltherzig an. Doch niemand war sich der Gefahr so bewusst wie Nawalny selbst. Bei den Dreharbeiten zu der Dokumentation „Nawalny“, die 2023 mit dem Oscar ausgezeichnet wurde, war die Frage nach dem Tod bereits unausweichlich. Nawalny, Oppositioneller und Familienvater, sagt darin: „Meine Botschaft für den Fall, dass ich getötet werde, ist sehr einfach: nicht aufgeben.“
Am 16. Februar meldet die russische Gefängnisverwaltung, dass der Häftling Nawalny nach einem Spaziergang gestorben sei. Die Leiche wurde erst am vergangenen Sonntag Nawalnys Mutter übergeben. Die Behörden hatten zuvor behauptet, weitere Untersuchungen seien erforderlich, um die Todesursache zu klären. Die offiziellen Auskünfte über Nawalnys Tod sind ebenso fadenscheinig wie die Anklagepunkte in dem Schauprozess, bei dem der Antikorruptionsaktivist 2023 wegen „Extremismus“ zu 19 Jahren Haft verurteilt wurde. Er hatte in dem Video „Ein Palast für Putin. Die Geschichte der größten Bestechung“ die unglaubliche Bereicherung des russischen Präsidenten öffentlich gemacht. Auf der Plattform YouTube wurde die fast zweistündige Dokumentation 130 Millionen Mal aufgerufen.
„Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“
Nawalny hatte sich gegen Putin gestellt, also musste er sterben. Nachdem er einen ersten Giftanschlag 2020 überlebte, schlug das Regime nun ein zweites Mal zu.
Die zivilisierte Welt ist angesichts des barbarischen Akts schockiert. Zieht man die Vorgeschichte in Betracht, stellt sich die Frage: Warum eigentlich? Putin hat in den vergangenen Jahren jede Grenze der Menschlichkeit, der Menschenrechte und des Völkerrechts überschritten. Oppositionelle wurden ermordet, Sympathisanten ins Gefängnis gesteckt, und schließlich überfielen russische Truppen am 24. Februar 2022 das Nachbarland Ukraine. Damals war allen klar, dass von Putins Russland eine Gefahr ausgeht, die nicht auf die Ukraine beschränkt ist. Von einer „Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“ sprach Deutschlands Kanzler Olaf Scholz angesichts des Angriffskrieges auf europäischem Boden.
Warum hat sich die Angst nun noch einmal verstärkt?
Nawalnys Tod ist ein drastisches Motiv, aber bei Weitem nicht das vordringlichste. Wladimir Putin hat in den zwei Jahren seit Beginn des Angriffskrieges in der Ukraine gezeigt, dass ihn keine Gegenmaßnahme des Westens von seinem Ziel, das Land militärisch zu unterwerfen, abbringen kann. Die Waffenlieferungen zur Unterstützung der Ukraine, die immer neuen Sanktionen gegen das russische Regime – nichts davon brachte die erhoffte Wende. Schlimmer noch: Sah es lange so aus, als würde der Krieg Russlands die NATO geradezu beflügeln und ihre Einigkeit und Entschlossenheit stärken, beginnt mittlerweile der Siegeswille zu bröckeln. Die deutsche Sicherheitsexpertin Ulrike Franke weist im profil-Interview darauf hin, dass wegen innenpolitischer Querelen seit Ende Dezember „kein Kriegsgerät mehr aus den USA in die Ukraine geliefert“ worden sei. Die Republikanische Partei blockiert die Freigabe des Geldes für Waffenlieferungen im Kongress, die Versprechen der Regierung von Joe Biden haben zusehends den Charakter vager Hoffnungen, und sollte Donald Trump die Präsidentschaftswahl am 5. November dieses Jahres für sich entscheiden, dürfte seitens der USA die militärische Unterstützung für die Ukraine beendet sein. Das wiederum würde wohl dazu führen, dass die Ukraine den Krieg verliert, sagte ein nicht namentlich genanntes Mitglied der US-Administration gegenüber dem britischen Magazin „The Economist“.
Was das bedeutet, kann man sich ausmalen. Putin würde sich als Bezwinger des Westens inszenieren. Die oft wiederholte Beteuerung von Biden und seinen europäischen Verbündeten, die Ukraine zu unterstützen „as long as it takes“ (solange es nötig ist), wäre dem Spott preisgegeben. Unterdessen macht bereits das nächste alarmierende Gerücht die Runde: Russland könnte planen, Atomwaffen in der Erdumlaufbahn zu platzieren. Putin dementiert, aber was seine Angaben wert sind, ist bekannt.
Was wäre die NATO ohne die USA?
Auch mit dieser Frage muss sich Europa im Jahr des 75. Jubiläums der Gründung des Militärbündnisses wohl oder übel beschäftigen. Eine vorläufige erste Antwort fällt beunruhigend aus: Europa ist zu schwach. Eine gemeinsame Verteidigung außerhalb der NATO hat es nie aufgebaut, sich auf die USA zu verlassen, war zu verlockend.
Der britische Thinktank International Institute of Strategic Studies hat in einer Studie die Zahl der Kampfbataillone europäischer Staaten in den Jahren 1990 und 2015 verglichen. Hatte Deutschland 1990 215 solcher Truppenverbände, waren es ein Vierteljahrhundert später gerade noch 34. In Italien schrumpfte die Zahl von 135 auf 44, in Frankreich von 106 auf 43. Bei der Ausrüstung sieht es nicht besser aus.
Genau diesen Missstand soll die „Zeitenwende“-Doktrin beheben, die Verteidigungsfähigkeit Europas soll wieder auf Vordermann gebracht werden. Doch das braucht viel Zeit und noch mehr Geld. Wenn die europäischen NATO-Staaten sich jetzt, nach Jahren und Jahrzehnten des Sparens in den Verteidigungshaushalten, dazu durchringen, den angepeilten Wert von zwei Prozent des BIP zu erreichen, so ist dies immer noch zu wenig, um die selbst gesteckten Ziele des Verteidigungsplans zu erreichen.
Währenddessen schätzen Experten, dass Russland bis zu sieben Jahre benötigt, um nach Beendigung des Ukraine-Krieges seine Kampfkraft wieder auf das ursprüngliche Niveau zu bringen. Ein Zeitraum, der bedrohlich klein ist und kein Zögern erlaubt.
Sicherheitsexpertin Franke sagt im profil-Interview, die Millennials, die nach 1989 groß geworden sind, hätten „gelernt, dass das Militärische nie die Antwort sein kann“. Europa versteht sich als „Soft Power“, als eine Macht, die der Welt Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und freien Handel bringen möchte – und zwar kraft ihrer Attraktivität und nicht mit vorgehaltener Waffe. Doch eine Welt, in der jemand wie Wladimir Putin Streitkräfte befehligt, passt nicht zum europäischen Ideal. Die Zahl und auch die Qualität der Demokratien sind weltweit im Sinken, Autoritarismus und Kriegsbereitschaft nehmen zu. Kann sich Europa politisch und mental darauf einstellen und seine Budgets vom Guten und Schönen zum Kriegerischen und Sicheren umstrukturieren? Macht Pflugscharen zu Schwertern? Sogar das in Verteidigungsfragen notorisch verschlafene Österreich hat sich auf Waffen-Einkaufstour begeben.
Da lauert bereits das nächste Tabu: Atomwaffen. Ohne das Nuklear-Arsenal der USA ist die Zahl der atomaren Sprengköpfe in Europa überschaubar. 500 besitzen die beiden einzigen europäischen Atommächte Großbritannien und Frankreich. Zum Vergleich: Russland verfügt über rund 6000. Dazu kommt, dass Frankreich seine Atomwaffen streng
national verwaltet und nicht in die NATO-Struktur eingebracht hat. Europäische Abschreckung sieht anders aus. In Deutschland ist deshalb eine Debatte darüber losgebrochen, ob die Republik eigene Atomwaffen benötigt. Dagegen spricht vieles, nicht zuletzt der Atomwaffensperrvertrag. Doch angesichts der neuen Weltunordnung bleibt nichts unhinterfragt.
Stecken hinter all diesen Überlegungen rationale Einschätzungen oder ist es nicht doch heillos übertriebene Panik? Wahr ist, dass es längst nicht so schlimm kommen muss, wie es kommen könnte. Trump könnte die Wahl verlieren, oder selbst wenn er sie gewinnt, an der NATO, wie wir sie kennen, festhalten. Russland könnte den Krieg in der Ukraine am Ende doch verlieren oder jedenfalls keinen deutlichen Sieg erringen. Putin könnte auf die eine oder andere Weise die Macht verlieren.
Allerdings wäre es unverantwortlicher Leichtsinn, sich darauf zu verlassen. Europa hat keine andere Wahl, als für einen Krieg zu rüsten, den es unbedingt vermeiden will.