Warum ist Osteuropa so hartherzig?
Nicht nur Ungarn verhält sich feindselig gegenüber den Kriegsflüchtlingen aus dem Nahen Osten, und auch der magyarische Premier Viktor Orbán ist kein Einzelfall. Die Regierungen fast aller osteuropäischen Staaten, die vor zehn Jahren Mitglieder der EU wurden, weigern sich, Asylwerber aufzunehmen. Die Transitländer, durch die Syrer, Iraker und Afghanen nach Westeuropa gelangen wollen, gehen daran, Zäune und Mauern an ihren Grenzen zu errichten. 44 Prozent der Tschechen sind laut jüngster Umfrage der Meinung, die Regierung solle keine einzige Krone ausgeben, um den Migranten zu helfen. Der slowakische Premier Robert Fico, ein Sozialdemokrat, sagt, dass 95 Prozent der Asylwerber Wirtschaftsflüchtlinge seien und verkündet, er wolle nur Christen aufnehmen. Und auch die Polen, die vor vier Jahrzehnten ihre Freiheit unter dem Slogan „Solidarnosc“ erkämpften, wollen heute nur wenig von Solidarität mit jenen Menschen aus dem Nahen Osten wissen, die, um ihr Leben zu retten, nach Europa drängen.
Warum zeigen sich die Osteuropäer so hartherzig? Woher kommt dieses große Defizit an Mitgefühl? Warum ist dort so wenig von jener Hilfsbereitschaft und Generosität zu verspüren, die sich in den vergangenen Tagen in manchen westeuropäischen Gesellschaften auf spektakuläre Weise zeigte?
Einige Erklärungsansätze:
Der Historiker Tony Judt beschreibt in seinem Standardwerk „Die Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“ eindrucksvoll, wie im und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg einige der osteuropäischen Staaten durch Massenmord und gewaltige Bevölkerungstransfers homogenisiert wurden. Der Genozid an den Juden und die Vertreibung der Deutschen haben etwa Tschechien, die Slowakei und Polen ethnisch weitgehend „rein“ zurückgelassen. Danach erlebten diese Länder nichts, was jenen Einwanderungswellen ähnelt, welche die meisten westeuropäischen Länder in den 1960er- und 1970er-Jahren erlebten – sei es nun die Immigration aus ehemaligen Kolonien oder der Zuzug von sogenannten Gastarbeitern.
Die Revolutionen des Jahres 1989 wurden vielfach nicht nur als Sturz der kommunistischen Diktatur, sondern auch als Befreiung von der russischen Fremdherrschaft und als nationale Wiedergeburt empfunden: Es war die nachgeholte und wieder aufgenommene Nationalstaatsbildung. Die westeuropäischen Länder, die schon länger am europäischen Integrationsprozess mitwirken, befinden sich im Gegensatz dazu in einer „postnationalen Phase“ ihrer Entwicklung. Teilweise wurde im Osten auch das Jahr 1989, nach der langen Zeit des kommunistischen Staatsatheismus, als Wiedererlangung einer christlichen Identität gesehen, die man nun gegen das Einströmen von Muslimen verteidigen zu müssen vermeint.
Die Menschen in Osteuropa glauben, dass sie es sind, denen Hilfe zukommen sollte.
Die Osteuropäer lebten jahrzehntelang in Diktaturen. Jene Liberalisierungsschübe, die der Westen des Kontinents erfuhr, haben die Ungarn, Tschechen, Bulgaren, Balten und die anderen Völker des ehemaligen Warschauer Pakts nicht mitgemacht. Auch die universellen Werte, die am Anfang der europäischen Einigung standen, konnten in diesen Ländern, die erst kurz Mitglied der Europäischen Union sind, noch nicht jene feste Verankerung in der Psyche, der Gesellschaft und der Politik dieser Länder finden, wie dies in den alten EU-Staaten der Fall ist.
Der langsame und stockende ökonomische Aufholprozess Osteuropas gegenüber dem EU-Westen und die tatsächliche wirtschaftliche und soziale Misere schaffen Frust und Enttäuschung. Die Menschen glauben, dass sie es sind, denen Hilfe zukommen sollte, dass dies das Versprechen war, das ihnen mit ihrem Anschluss an Westeuropa gegeben worden sei. Sie fühlen sich betrogen, schreibt der Osteuropa- und Russlandspezialist Ivan Krastev: „Um vieles ärmer als die Westeuropäer, fragen sie, wie man von ihnen Solidarität verlangen könne: ‚Man hat uns Touristen versprochen, nicht Flüchtlinge.‘“ Vergessen scheint dort, dass viele von ihnen – allen voran Ungarn, Slowaken und Tschechen – vor nicht allzu langer Zeit selbst flüchten mussten und Asyl bekamen.
All das entschuldigt natürlich nicht die jetzt in Osteuropa so augenscheinlich grassierende Xenophobie.
Schließlich weisen viele osteuropäische Politiker auf die großen Schwierigkeiten hin, die sie mit der Integration ihrer „autochthonen“ Minderheit, den Roma und Sinti, haben. Und sie fragen, wie es unter diesen Bedingungen gelingen solle, Menschen aus einem ihnen völlig fremden Kulturkreis einzugemeinden. Mit dieser Haltung finden sie breite Sympathie in der Bevölkerung.
All das entschuldigt natürlich nicht die jetzt in Osteuropa so augenscheinlich grassierende Xenophobie. Aber die geschichtliche Entwicklung macht verständlich, warum diesen Ländern Empathie mit den Flüchtlingen aus Nahost so viel stärker abgeht als jenen Westeuropas.