Warum Viktor Orbán das Ölembargo der Europäischen Union blockiert
Von Gregor Mayer / Budapest
Wenn Ungarns Regierungschef Viktor Orbán „Nem!“ (Nein) sagt, geht ein Schaudern durch die Hallen des Berlaymont, des imposant modernistischen Sitzes der Europäischen Kommission in Brüssel. Anfang Mai legte die Kommission ihren Plan für das sechste Sanktionspaket gegen Russland wegen des Angriffskrieges in der Ukraine vor. Es beinhaltet ein Embargo gegen russische Ölimporte und betrifft damit erstmals einen zentralen Energieträger. Orbán stellt sich quer. „Uns ist egal, was die Leute im Westen und Osten denken“, gab sein Außenminister Péter Szijjártó zu Protokoll.
Vor zwei Wochen jettete Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen höchstpersönlich nach Budapest. Orbán empfing sie im ehemaligen Karmeliterkloster hoch oben auf der Burg zu Buda. Auf der Terrasse seines Amtssitzes pflegt der Burgherr seinen Gästen das bemerkenswerte Panorama mit Blick über die Donau und die ganze Stadt zu zeigen. Mehr als die gute Aussicht dürfte von der Leyen an jenem Montag vor zwei Wochen nicht von ihm bekommen haben. In Sachen Sanktionspaket kehrte sie mit leeren Händen nach Brüssel zurück.
Das Paket braucht die Zustimmung aller 27 EU-Mitgliedstaaten. Für Länder, die vom russischen Rohstoff abhängig sind, kann es schmerzhafte Einschnitte bedeuten. Die Europäische Union ist eine der größten Öl- und Gasabnehmerinnen Russlands. Etwa die Hälfte des russischen Erdölexports fließt an europäische Abnehmer. Beim Erdgas ist die Abhängigkeit sogar noch höher: Die Europäische Union bezieht 43 Prozent ihres Bedarfs aus Russland.
Wegen ihrer hohen Abhängigkeit von russischem Öl gewährt der Kommissionsvorschlag Ungarn und der Slowakei Zeit bis Ende 2024 für die Umsetzung eines Embargos. Doch Orbán wischte auch das vom Tisch. Es ist, als ob der Ungar, der Russlands Krieg in der Ukraine nur halbherzig verurteilte, nicht die einheitliche Position des Westens teilte. Hat das nur wirtschaftliche Gründe? Oder hat das auch mit seinen guten Beziehungen zu Putin selbst zu tun?
Die Position des Westens besteht darin, Moskau ökonomisch möglichst zu schwächen, um dem Kreml das Potenzial für militärische Aggressionen abzugraben. Aber Orbán, der seit 2010 zunehmend autoritär regiert und im Vormonat wenig überraschend die vierte Parlamentswahl in Folge gewann, ist mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin auf eine Weise verstrickt, die kaum noch vereinbar zu sein scheint mit der Mitgliedschaft seines Landes in EU und NATO.
15 bis 18 Milliarden Euro – der Preis für den Vetoverzicht
Die Blockade des Ölembargos überdeckt Budapest mit einer bombastischen Rhetorik. Das Vorhaben der EU „kommt einer Atombombe gleich, die auf die ungarische Wirtschaft abgeworfen wird“, tönte Orbán. „Es geht nicht an, dass die ungarischen Menschen den Preis für den Krieg in der Ukraine bezahlen“, assistierte ihm sein Außenminister Péter Szijjártó. Das gilt sinngemäß auch für ein künftiges Gasembargo der EU gegen Russland – ob es je zu einem solchen kommen wird, erscheint ohnehin fraglich, da die Wirtschaft Deutschlands in hohem Maße von russischen Gasimporten abhängig ist.
Ungarn bezieht sein russisches Öl über Rohrleitungen. Budapest will nur dann auf ein Veto verzichten, wenn entweder Lieferungen über Pipelines vom Embargo ausgenommen sind oder wenn die EU Ungarn alle Verluste und Umstellungskosten ersetzt. Diese setzt Budapest sehr großzügig an. Zuletzt sprach Außenminister Szijjártó von insgesamt 15 bis 18 Milliarden Euro, für die sich seine Regierung den Vetoverzicht abkaufen ließe. Kein anderes der eher embargoskeptischen EU-Länder hat eine derart hohe Summe gefordert. „Die ganze Union wird von einem Mitgliedstaat in Geiselhaft gehalten“, gab sich Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis ungehalten. Der Sanktionsplan der Kommission liegt jedenfalls vorerst auf Eis. Klärung soll ein EU-Gipfel in Brüssel am 30. und 31. Mai bringen.
Den hohen Beamten in Brüssel treibt das die Schweißperlen auf die Stirn. Gipfel heißt, dass Orbán die Verhandlungen selbst in die Hand nehmen wird. Gäbe die EU den maßlosen Forderungen des Ungarn nach, sähe sie erbärmlich aus. Noch impotenter würde sie wirken, wenn das Sanktionspaket am ungarischen Veto scheiterte oder einfach ohne Abstimmung verpuffte. Eine Einigung von 26 Ländern ohne Ungarn würde wiederum bedeuten, dass die Europäische Union nicht mit einer Stimme spricht.
Es könnte aber auch gut sein, dass Orbán den Schacher ausweiten und das Ölembargo mit Forderungen aus anderen Problemfeldern verknüpfen will. Ende 2020 schuf die EU den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus, gegen erhebliche Widerstände Ungarns und Polens. Mitgliedsländern, die EU-Mittel missbräuchlich verwenden, können diese künftig entzogen werden. Was aufgrund des Krieges in der Ukraine kaum jemand mitbekommen hat: Ende April brachte die EU-Kommission diesen Mechanismus formell gegen Ungarn auf den Weg, mit einem Brief an die Adresse der ungarischen Regierung.
Das etwa 40 Seiten lange Schreiben, das profil vorliegt, liest sich stellenweise wie eine Anklageschrift. „Viele Jahre hindurch haben mehrere Überprüfungen durch EU-Einrichtungen systemische Defizite und Schwächen festgestellt, die die Kontrolle öffentlicher Ausschreibungen im Umgang mit EU-Fonds in Ungarn betreffen“, heißt es darin. Aufgezählt werden unter anderem Ausschreibungen mit nur einem Bieter, Interessenkonflikte, Insider-Geschäfte und Straflosigkeit für bestimmte Akteure, die dem Regierungschef nahestehen. Die Kommission beobachte „systemische Unfähigkeit, Scheitern oder Unwillen seitens der ungarischen Behörden, Entscheidungen zu verhindern, die gegen geltendes Recht verstoßen, und Korruptionsrisiken adäquat zu bekämpfen“. Das Verfahren wird sich allerdings noch über viele Monate hinziehen. Am Ende muss eine qualifizierte Mehrheit der EU-Staaten den Entzug der Mittel billigen.
„In Ungarn hat die Korruption Systemcharakter“, sagt István János Tóth, der Leiter des Corruption Research Center Budapest (CRBC). „Es gibt privilegierte Firmen, bei denen sich nachweisen lässt, dass sie stets Ausschreibungen mit hohem Korruptionsrisiko gewinnen.“ Während die Regierung bei EU-geförderten Ausschreibungen inzwischen mehr auf formale Korrektheit achte, würden bei öffentlichen Aufträgen ohne EU-Finanzierung weiterhin Ausschreibungen mit nur einem Anbieter vorherrschen. „Wir sehen hier Phänomene, wie wir sie sonst nur aus sehr unterentwickelten Ländern, etwa in Afrika, kennen“, meint der Wirtschaftswissenschafter.
Orbán könnte beim Spitzentreffen Ende Mai im Gegenzug für einen Vetoverzicht auch Geld aus anderen Töpfen verlangen. Derzeit hält die EU-Kommission die für Ungarn vorgesehenen Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds zurück. Die 7,1 Milliarden Euro stecken fest, weil die Anträge der Orbán-Regierung der Kommission zu korruptionsanfällig erscheinen. Schließlich verhandelt der Gipfel noch ein neues Finanzierungsinstrument, den Repower-EU-Fonds. Der mit 300 Milliarden Euro ausstaffierte Topf soll die Mitgliedsländer dazu befähigen, sich von russischer Energieabhängigkeit zu lösen und die Anpassung ihrer Energiewirtschaft an die Klimaziele vorzunehmen. Orbán schielt mit ungezügeltem Appetit auf die Summen, die auf Ungarn entfallen. „Ungarn möchte Investitionen dafür in Solarenergie, das ist ja grundsätzlich gut, aber wir müssen noch über die Höhe der Investitionen sprechen“, sagte von der Leyen am vergangenen Donnerstagabend im ZDF.
Anti-EU-Politik auf dem Balkan
Vielen missfällt aber nicht nur das erpresserische Auftreten des ungarischen Ministerpräsidenten. Es gibt keinen amtierenden Regierungschef in der EU, der ein so enges Verhältnis zu Wladimir Putin pflegt. Vor der Corona-Pandemie trafen sich die beiden gut einmal im Jahr, mal in Moskau, mal in Budapest. Orbán lässt in einem Kernkraftwerk südlich von Budapest zwei neue Reaktorblöcke von der russischen Rosatom bauen. Eine Zeit lang sorgten intransparente Gashandelsgeschäfte mit Russland dafür, dass Orbán-nahe Geschäftskreise über eine Klitschen-Firma im Schweizer Kanton Zug schöne Profite einstreichen konnten. Auf Einladung Orbáns übersiedelte die von Russland geführte Internationale Investitionsbank (IIB) nach Budapest. Ihre Funktionäre haben Diplomatenstatus im Herzen der EU. Im Volksmund heißt das Finanzhaus an der Donau die „Spionage-Bank“. Mit sogenannten Niederlassungs-Obligationen – einem Schema nach der Formel Geld gegen Aufenthaltsrecht – lockte die Orbán-Regierung reiche Geschäftsleute aus Drittstaaten an. Einer der Nutznießer war der Sohn des russischen Auslandsgeheimdienstchefs Sergej Naryschkin.
Auf dem Balkan fährt Orbán eine Politik, die sich konträr gegen die Interessen der EU richtet. Er unterstützt Autokraten wie den serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić, den – im April abgewählten – slowenischen Rechtspopulisten Janez Janša oder den Separatisten Milorad Dodik, der den serbischen Landesteil von Bosnien abzuspalten droht. Dodik prahlt mit seinen engen Kontakten zum Kreml. Gelänge sein Sezessionsvorhaben, würde dies Bosnien 30 Jahre nach dem serbischen Aggressionskrieg zerstören und die Region gefährlich destabilisieren. EU-Sanktionen gegen Dodik scheitern an Orbáns Vetodrohung. Die Regierung in Berlin stoppte im April von Deutschland finanzierte Infrastrukturprojekte im serbischen Landesteil im Wert von 105 Millionen Euro. Aber schon zuvor hatte Dodik von Orbán die Zusage von 100 Millionen Euro an Investitionshilfen erhalten. Das Vorgehen des Ungarn auf dem Balkan spielt direkt den Interessen Moskaus in die Hände: der Unterstützung nationalistischer Kräfte, die die Region im „Hinterhof“ der EU destabilisieren und auf diese Weise den westlichen Bündnissen schaden.
Orbán regiert nach dem Prinzip „Made in Russia“
Der Budapester Historiker Krisztián Ungváry sieht Orbáns Freundschaft mit Putin auf eine starke ideologische Nähe gegründet. „Beide Systeme sind deklariert illiberal, beide Systeme benutzen die Institutionen der Demokratie, um sie ins völlige Gegenteil zu verkehren und auszuhöhlen“, befindet er. „Fast alles, was Orbán zum Zwecke der Machtausübung in Ungarn getan hat, trägt den Stempel „Made in Russia“. Putin wie Orbán malen das Schreckensbild eines dekadenten, orientierungslosen, genderideologieverseuchten, woken Westens an die Wand und geben vor, für traditionelle Werte wie Religion und Familie einzustehen. Kampagnen gegen die LGBTQ-Gemeinden, gegen Akteure der Zivilgesellschaft, gegen den philanthropischen US-Investor George Soros gibt es in Ungarn wie in Russland.
Wie die extremistische, identitäre Rechte in Europa predigt Orbán die irrwitzige „Umvolkungsthese“, mit der er seine xenophobe Flüchtlings- und Asylpolitik rechtfertigt. „Einen dieser Selbstmordversuche Europas erblicke ich im großen Programm des Bevölkerungsaustauschs in Europa, das die fehlenden europäischen christlichen Kinder durch Migranten aus anderen Zivilisationskreisen zu ersetzen trachtet“, sagte Orbán vergangene Woche in seiner Regierungserklärung im Parlament. Putins Russland unterstützt die extreme Rechte in Europa immer wieder mit Geld. Die Bank eines Orbán-nahen Oligarchen half wiederum der rechtspopulistischen französischen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen mit einem Zehn-Millionen-Euro-Kredit aus. „Orbán kann Putin nicht kritisieren, denn sonst müsste er sich selbst kritisieren“, meint Ungváry lakonisch.
Bei einer seiner seltenen Pressekonferenzen bekam Orbán nach dem Wahlsieg im April die Frage gestellt, wann und warum er sich auf die Seite Moskaus schlug. In seiner Zeit als antikommunistischer Studentenführer und in seiner ersten Ministerpräsidentschaft von 1998 bis 2002 hatte sich Orbán als scharfer Kritiker Moskaus hervorgetan. Seine Antwort? Als auf dem Bukarester NATO-Gipfel 2008 die Beitrittsgesuche der Ukraine und Georgiens aus Angst vor einer russischen Antwort auf Eis gelegt wurden, sei ihm klar geworden, dass das westliche Bündnis immer schwächer werden würde, sagte er. 2009 traf Orbán, damals noch Oppositionsführer, Putin in St. Petersburg. Aus Kreisen der Orbán-Partei „Fidesz“ erfuhr das Investigativportal „direkt36“, dass dem Russland-Besucher durchaus gefiel, was er dort sah. „Ihm imponierte das gesellschaftliche Modell, in dem zwar eine Oberklasse von Unternehmern existiert, die aber vom Führer abhänge, während es nur wenige Akteure gibt, die über eine eigenständige politische Existenz verfügen“, schrieb das Portal unter Bezug auf die Quelle. Ob Orbán dieses Modell eines modernen Zaren vor Augen hatte, als er im Jahr danach in Budapest die Macht übernahm? Und jetzt, mehr als zehn Jahre später? Ist Orbán eine Art Putin-Trojaner im Herzen von EU und NATO geworden?
Letzteres legt eine Studie des European Value Center for Security Studies in Prag nahe, die Ende vergangenen Jahres unter dem Titel „Orbáns Ungarn: Ein Russland- und China-Klient schwächt Europa“ erschien. „Unter Orbáns Führung hat sich Ungarn die Anstrengungen des autoritären Russland und China zu eigen gemacht, ihren politisch-ökonomischen Einfluss auf ganz Mitteleuropa zu verbreitern und zu verstärken“, heißt es darin. Als „autoritärer Destabilisierer“ wirke Ungarn auch tief nach Südosteuropa hinein. Orbán stelle mit seiner eigenen „gefährlichen grenzrevisionistischen Agenda“ eine Gefahr für die Sicherheit der Region dar. In der westlichen Welt gebe es „so gut wie keine Bemühungen, Orbáns autoritäre, antidemokratische Agenda für Ungarn und die Region zu identifizieren, bloßzustellen und zu bekämpfen“. Der Trojaner wird noch in so manche EU-Gipfelschlacht ziehen.
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