Was ist mit Rudy Giuliani passiert?
Dieser Artikel erschien im profil Nr. 49 / 2020 vom 29.11.2020.
Das tragische Ende von Rudy Giuliani ist schnell erzählt. Es dauert 91 Minuten und 25 Sekunden und ist als YouTube-Video unter dem Titel "President Trump's attorneys hold news conference on the election" abrufbar. In diesen eineinhalb Stunden versucht Giuliani, persönlicher Anwalt und Rechtsberater von US-Präsident Donald Trump, bei einer Pressekonferenz im Hauptquartier der Republikanischen Partei in Washington, D.C. noch einmal die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Wahl am 3. November manipuliert worden sei.
Was er dabei an vermeintlichen Belegen und Beweisen vorbringt, erweist sich als so erbärmlich, dass die entsprechend vernichtenden Fact-Checking-Artikel, die danach erscheinen, weit weniger Aufmerksamkeit bekommen als die Fotos der schaurigen Veranstaltung. Giuliani schwitzt, von seinem Haaransatz laufen Rinnsale eines dunklen Haarfärbemittels über Schläfen und Wangen und hinterlassen dabei bizarre Linien im Gesicht des 76-Jährigen.
Trumps "legal team" ist das letzte Aufgebot an Anwälten, die bereit sind, zur Aufrechterhaltung der Legende vom massenhaften Wahlbetrug Klagen einzubringen - Klagen allerdings, die bei den zuständigen Gerichten nicht mehr als ein Kopfschütteln auslösen und umgehend wegen Substanzlosigkeit abgewiesen werden.
Die Auftritte dieser Truppe würden kaum noch eine Fußnote rechtfertigen, wäre da nicht Rudy Giuliani. Denn der Mann, der heute im Auftrag seines Herrn Unwahrheiten verbreitet, den jüdischen Milliardär George Soros einen Feind der USA nennt, und dazu Journalisten anfleht ("Das ist wahr! Es ist nicht erfunden! Hier ist niemand, der sich in Fantasien ergeht!"), war nicht immer ein befremdlicher Charakter. Im Gegenteil. Rudy Giuliani war einmal ein ziemlich unumstrittener Held.
Im Jahr 2001 kürte das US-Magazin "Time" den eben abgetretenen New Yorker Bürgermeister zur "Person des Jahres", und in der Titelstory ballten sich die Huldigungen: Giuliani sei zur "Stimme Amerikas" geworden, zum "obersten Tröster der Nation", und: zum "Bürgermeister der Welt".
Diese beeindruckenden Attribute hatte sich der damals 57-Jährige am 11. September 2001 und in den darauffolgenden Wochen erworben. Nachdem die von Al-Kaida-Terroristen gesteuerten Flugzeuge die Twin Towers des World Trade Center in New York einstürzen ließen, wurde Giuliani zum Gesicht der Stadt, die sich nicht unterkriegen ließ, und weil die islamistischen Dschihadisten New York zum Ziel ihrer Attacke auf den Westen auserkoren hatten, wuchs der Bürgermeister in die Rolle des Verteidigers der freien Welt.
Wie kann jemand, der diese Prüfung bestanden hat, der angesichts der größten Katastrophe, die über seine Stadt hereingebrochen war, Mut und Entschlossenheit zeigte, die richtigen Worte fand und die richtigen Entscheidungen traf, so tief sinken? War der untadelige Giuliani des Jahres 2001 bloß ein Produkt zufälliger Umstände, und zeigt der skrupellose Giuliani des Jahres 2020 sein wahres Gesicht? Oder ist es genau umgekehrt? Und wenn ein und dieselbe Person zu moralisch und politisch völlig konträren Handlungen fähig ist - ergibt es dann überhaupt Sinn, wenn wir Politiker und Politikerinnen nach ihrem - vermeintlichen - Charakter beurteilen und auswählen?
Die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Rudolph G. ist ein Thriller, in dem Verbrechen und Politik die Hauptrollen spielen. Vor allem aber ist es eine Biografie, die immer wieder dieselbe Frage stellt: Wie trifft man eine richtige Entscheidung - und warum zum Teufel kann es plötzlich die falsche sein, obwohl man sich immer treu geblieben ist?
Rudolph William Louis Giuliani wurde 1944 in einem Stadtteil von Brooklyn geboren, in dem vorwiegend Italo-Amerikaner lebten. Seine Großeltern waren italienische Einwanderer, er wurde nach seinem Großvater Rodolfo benannt. Die Männer in der näheren Verwandtschaft waren entweder Polizisten, Feuerwehrleute - oder Kriminelle mit Mafiabezug. Rudys Vater landete auf der Verbrecherseite. Er beraubte einen Milchmann, wurde erwischt und saß eineinhalb Jahre im Gefängnis. Rudy, ein Einzelkind, erfuhr davon erst, als er erwachsen war. Sein Vater setzte alles daran, seinen Sohn von der Kriminalität fernzuhalten, und zog mit der Familie in einen anderen Stadtteil, nach Long Island, um ihn abseits der Mafia großzuziehen. Rudy bekam Respekt vor Autorität und Ordnung eingeimpft. Der zweite Wertestrang bei den Giulianis war die - natürlich römisch-katholische - Religion. Als Bub dachte Rudy sogar daran, Priester zu werden, doch schließlich wandte er sich der Rechtswissenschaft zu und studierte an der New York University. Obwohl er nie ein besonders guter Schüler gewesen war, brillierte er dort und schaffte einen Abschluss magna cum laude. Es folgte eine beeindruckende Karriere in der Justiz, die ihn schließlich nach einer Station in Washington 1983 wieder zurück nach New York führte. Er wurde Staatsanwalt des Southern District. Seine Hauptaufgabe: der Kampf gegen Drogen, Gewalt und Organisierte Kriminalität, von denen die Stadt geplagt wurde.
Giuliani hatte seine Bestimmung gefunden. Er brachte es auf die Rekordzahl von 4125 Verurteilungen bei nur 25 wieder aufgehobenen Urteilen. Nebenbei drängte es ihn ans Licht der Öffentlichkeit. 1993 kandidierte er bereits zum zweiten Mal für den Job des New Yorker Bürgermeisters und versprach, die explodierende Kriminalitätsrate und die Crack- und Kokain-Epidemie mit einer Politik der eisernen Faust in den Griff zu bekommen. Er siegte und tat genau das, was er angekündigt hatte.
Giuliani hatte als Politiker eine Entscheidung getroffen, die seinem Weltbild entsprach. Er hatte sich als Law-and-Order-Mann positioniert und mit bedingungsloser Loyalität hinter die Polizei gestellt. Seine Methoden waren umstritten, doch der Erfolg gab ihm in den Augen der Bevölkerung recht. Die Stadt wurde sicherer, Giuliani mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt. Doch schließlich hatten die New Yorker genug von dem Bürgermeister, der mit seinem aufbrausenden Temperament keinem Streit aus dem Weg ging. Die Kriminalität war längst auf ein erträgliches Maß gesunken, und Giuliani hätte einen Gang zurückschalten können, doch das lag nicht in seinem Naturell, das darin besteht, alle Kämpfe bis ans Ende auszufechten. Auch privat: Zu dieser Zeit führte er auch einen bitteren Rosenkrieg mit seiner zweiten Ehefrau, der vor Gericht und via unschöner Pressekonferenzen ausgetragen wurde.
Dann, am Morgen des 11. September 2001, drei Monate vor dem Ende von Giulianis zweiter (und wegen einer damals geltenden Regelung letzter) Amtszeit wurde der Anschlag auf die Twin Towers verübt. Von dem Moment an, als Giuliani die Nachricht davon bekam, war jeder Schritt eine neue Entscheidung. Die erste: Er fuhr sofort zum World Trade Center. Kurz nachdem das zweite Flugzeug in den Südturm gekracht war, traf er am Tatort ein. US-Präsident George W. Bush musste aus Sicherheitsgründen an einem geheimen Ort bleiben, und so war es an Giuliani, der New Yorker Bevölkerung - und der westlichen Öffentlichkeit - Mut zu machen.
Er fand die richtigen Worte, Trauer und Aufmunterung. "Die Zahl der Opfer wird größer sein als irgendeiner von uns ertragen kann", sagte er. Aber auch: "Morgen wird New York immer noch hier sein!"
Giuliani blieb bis in die frühen Morgenstunden am Ground Zero. Die Einsatzkräfte waren immer schon seine Leute gewesen, ihnen galt seine uneingeschränkte Loyalität. Er war dafür kritisiert worden, aber jetzt erhielt er ausschließlich Anerkennung. Das Bild des Bürgermeisters in der staubigen Jacke in den Trümmern des World Trade Center blieb.
Als die Bergungsspezialisten eine Woche nach dem Anschlag die Suche nach Überlebenden einstellen wollten, weil praktisch ausgeschlossen war, dass noch jemand gerettet werden konnte, ordnet Giuliani an, weiterzugraben: "Die Verschütteten sind New Yorker. Gebt ihnen noch eine Woche!"
Er setzte durch, dass die Börse bereits am Montag wieder öffnete und die New York Yankees zehn Tage nach dem Anschlag das erste Baseball-Spiel im Shea Stadium absolvierten. Er verhinderte so, dass die Stadt, die niemals schläft, von den Terroristen in ein Koma versetzt wurde. Es war riskant, andere hatten vor weiteren Terroranschlägen gewarnt. Giuliani behielt recht.
Der Bürgermeister verkündete selbstbewusst, der New York Spirit werde stärker sein als zuvor. Später gestand er ein, dass er einfach Optimismus verbreiten wollte und geblufft habe. Er dachte, die Prophezeiung werde sich selbst erfüllen. Auch das klappte. Rudy Giuliani sei der "größte Bürgermeister in der Geschichte von New York", urteilte das Magazin "Time". Er habe die Stadt zweimal gerettet: Einmal vor dem Verbrechen und ein zweites Mal nach dem Terror.
Rudy Giuliani nutzte den Ruhm, den ihm der 11. September eingebracht hatte, und verdiente viel Geld damit. Als Mister 9/11 hielt er im ersten Jahr nach dem Anschlag auf der ganzen Welt 200 Reden und lukrierte 100.000 Dollar pro Auftritt. Heute beträgt sein Vermögen laut CNN 52,5 Millionen Dollar.
Der Sohn einer Einwandererfamilie aus der Arbeiterklasse hätte sich zur Ruhe setzen können. Der Eintrag im Buch der Geschichte wäre überwiegend huldvoll ausgefallen. Doch dann versuchte er sich erst noch als Kandidat bei den republikanischen Vorwahlen zu den Präsidentschaftswahlen 2008 - und musste dabei erkennen, dass seine hochfliegenden Umfragewerte rasch sinken, sobald er nationale Politik machte.
Und dann kam Donald Trump. Rudy Giuliani traf erneut eine folgenschwere Entscheidung. Er stellte sich 2016 hinter den Kandidaten Trump und wurde 2018 dessen Anwalt und Berater. Warum tat er das? Es scheint ein gänzlich unverständlicher Entschluss für jemanden wie Giuliani zu sein, der trotz aller Kritik an seiner Politik als Bürgermeister eine Reputation hatte, die ihm niemand mehr nehmen konnte.
Doch so unerklärlich ist Giulianis Unterstützung für Donald Trump nicht. Die beiden haben politisch und charakterlich einiges gemeinsam. 1989, als Giuliani noch Staatsanwalt war und Donald Trump Immobilien-Mogul, schaltete Trump Inserate in den Zeitungen, in denen er die Todesstrafe für die "Central Park Five" forderte - fünf Teenager afroamerikanischer beziehungsweise lateinamerikanischer Herkunft, die beschuldigt wurden, eine Vergewaltigung begangen zu haben. Tatsächlich waren die fünf unschuldig. Im selben Jahr nahm Trump an der ersten Fundraising-Veranstaltung des notorisch toughen Staatsanwalts Giuliani teil, den es in die Politik drängte.
Später wurde Giuliani - nicht zu Unrecht - vorgeworfen, der New Yorker Polizei rassistische Praktiken wie etwa das "ethnic profiling" erlaubt zu haben, also die Kontrolle von Personen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Aufgrund derartiger Methoden war Giuliani permanent mit Vertretern der ethnischen Minderheiten im Clinch gelegen, aber weil die Kriminalität in der Stadt tatsächlich sank, hatte er die Mehrheit der Wähler auf seiner Seite. Das war auch Trumps Plan.
Auch die derbe Ausdrucksweise und der öffentliche Streit waren Giulianis Markenzeichen; dazu die Allgegenwart in den Medien und der Rückhalt bei weißen Wählern in den Außenbezirken. Donald Trump konnte sich bei Giuliani also einiges abschauen.
Als im Wahlkampf 2016 das berühmt-berüchtigte Video auftauchte, in dem sich Trump rühmt, er könne "Frauen an der Muschi packen", rückte Giuliani in alle verfügbaren TV-Talkshows aus und verteidigte den Sexisten: So würden Männer eben manchmal reden. Er meinte wohl Männer wie Trump und er selbst. Wenn es eine Eigenschaft gibt, die Trump über alles schätzt, dann ist es selbstbewusstes Auftreten im Fernsehen. Das und unbedingte Loyalität. Giuliani stellte sich an Trumps Seite, und dort blieb er auch.
Dafür erwog der Präsident eine Zeit lang, den Ex-Bürgermeister, der keinerlei diplomatische Erfahrung hatte, zum Außenminister zu machen. Schließlich jedoch benötigte er ihn als persönlichen Anwalt, man könnte auch sagen: als Fixer. Als Mann, um Dinge "in Ordnung" zu bringen.
Als Sonderermittler Robert S. Mueller die mutmaßlichen Verstrickungen Trumps mit Russland untersuchte, bat dieser Giuliani, die Sache für ihn auszubügeln. Das gelang zwar nicht, aber der Anwalt taugte immerhin für bissige TV-Auftritte, bei denen er gegen Muellers Untersuchung vom Leder zog.
Auch als Trump den Versuch unternahm, die Regierung in Kiew dazu zu drängen, ein Verfahren gegen Hunter Biden, den Sohn des demokratischen Präsidentschaftskandidaten (und nunmehrigen President-elect) Joe Biden einzuleiten, war Rudy Giuliani monatelang damit beschäftigt, in der Ukraine belastendes Material gegen Hunter Biden zu beschaffen. Ein bekanntes Muster zeigt sich auch jetzt, bei den Attacken auf die Wahl vom 3. November. Giuliani stößt Behauptungen - wie damals nach dem 11. September - aus und hofft, es werde sich bewahrheiten, was er sagt. Waren es damals aber Appelle, die von den New Yorkern dankbar erhört wurden, so sind es diesmal Lügen, die von den zuständigen Stellen zurückgewiesen werden.
Nein, es ist nicht dasselbe. Auch Loyalität zum New York Police Department ist etwas anderes als Loyalität zu einem Präsidenten, der Gesetze bricht. Aber vielleicht sieht Rudy Giuliani den Unterschied nicht.
Ken Frydman war 1993 während Giulianis Kandidatur zum Bürgermeister dessen Pressesprecher. Die beiden waren befreundet, Giuliani nahm auch die zivile Trauung von Frydman und dessen Ehefrau Liz vor. 2018 schrieb Frydman für die Zeitung "New York Daily News" einen Gastkommentar, in dem er Giuliani zugute hielt, immer schon ein Charakter gewesen zu sein, der mit harten Bandagen kämpfte. Das beweise Mut und Überzeugung, ob Giuliani nun an seiner Law-and-Order-Politik festhielt oder an Trumps Verteidigung.
Im vergangenen Jahr veröffentlichte Frydman erneut einen Gastkommentar, diesmal für die "New York Times". Er hatte seine Meinung geändert. Giulianis Verhalten stieß ihn ab. Aber der frühere Vertraute konnte keine schlüssige Erklärung für das Verhalten seines ehemaligen Chefs liefern. Bloß, dass Giuliani Anfang der 1990er-Jahre ein Typ gewesen sei, der sich von Pizza und Diet Coke ernährte, wohingegen er in späteren Jahren in die reiche Society der New Yorker Upper East Side eingetaucht und in Palm Beach Trumps Nachbar geworden sei.
Ob es tatsächlich das Geld war, das den einst respektablen Mann verdorben hat? Eher scheint es so, als habe Rudy Giuliani aus seinen Charaktereigenschaften je nach Umständen einmal das Beste gemacht und einmal das Schlimmste. Wobei tragischerweise das Schlimmste zum Schluss kam und sich für Giuliani keine Gelegenheit mehr bieten wird, sich zu rehabilitieren.
Er fürchte, seine Grabinschrift werde "Rudy Giuliani: Er log für Trump" lauten, sagte Giuliani selbst vor Kurzem dem Magazin "New Yorker". Nachsatz: "Aber selbst wenn es so sein sollte, was kümmert es mich? Ich werde dann tot sein."
Das zu sagen, ist ein wenig traurig, aber nicht falsch.