„Was soll die EU-Kommission machen? Irgendwas, was sie darf. Also regelt sie die Drehverschlüsse von Plastikflaschen.“
Der Autor und Essayist Robert Menasse hält die Auflösung der Nationalstaaten für unausweichlich und die EU für ein avantgardistisches Projekt, dem leider nur eine Katastrophe weiterhelfen kann.
In „Die Erweiterung", Ihrem zweiten Roman über die Europäische Union, versammeln sich die Staats-und Regierungschefs auf einem Kreuzfahrtschiff. Der behäbige Kahn kann als Symbol für die EU interpretiert werden, die auch nur sehr langsam vorankommt. Was muss geschehen, damit sich das ändert?
Menasse
Der Antrieb ist blockiert, deshalb schlingert das Staatenschiff. Das liegt an einem unauflösbaren und unproduktiven Widerspruch im System der EU. Die Grundidee des europäischen Gemeinschaftsprojekts war ja, den Nationalismus zu überwinden, der zu den europäischen Kriegen geführt hat, die Nationen zu verflechten, durch supranationale Institutionen Gemeinschaftsrecht zu schaffen, kurz: eine nachnationale Entwicklung einzuleiten. Das hat verblüffend weit getragen: von nationalen Märkten zu einem gemeinsamen Markt, von nationalen Währungen zu einer gemeinsamen Währung, von nationalen Grenzen zu einem grenzenlosen Europa im Schengenraum und so weiter. Zugleich erleben wir seit einiger Zeit eine radikale Renationalisierung der europäischen Staaten, die Nationalisten stellen die Errungenschaften infrage, brechen europäisches Recht, wollen Souveränitätsrechte zurück, blockieren die Weiterentwicklung. Nachnationale Entwicklung, die von den Nationalisten blockiert wird, und Renationalisierung der Mitgliedstaaten, die aber kein Problem national lösen können, weil die großen Herausforderungen längst transnational sind-da haben Sie die ganze Krise.
Wie ließe sich das ändern?
Menasse
Der Widerspruch liegt im System. Wir können eine europäische Volksvertretung wählen, aber nur mit nationalen Listen. Da werden immer mehr Nationalisten hineingewählt, die das Parlament obstruieren. Die EU-Kommission soll Gemeinschaftsrecht entwickeln, wurde aber von den nationalen Staats-und Regierungschefs zu einem Sekretariat von deren Interessen degradiert. Und dann gibt es noch den Rat der Staatsund Regierungschefs, das ist überhaupt die Wagenburg der Verteidigung nationaler Interessen. Der Rat hat sich die Macht herausgenommen, Verträge und Regeln nach Belieben zu brechen. So ist ihm zum Beispiel untersagt, als Gesetzgeber aufzutreten, aber er nimmt sich heraus, die letzte Entscheidungsinstanz zu sein. Meistens in Form von Vetos. Nochmals: Da haben Sie die ganze Blockade. Kann man das System ändern? Wenn alle zustimmen müssen, nein. Wenn es zusammenbricht oder der Untergang eindeutig droht, ja.
Paragraf 1 der Menschheitsverfassung lautet: Alle Macht geht von der Gewohnheit aus.
Es fehlt an politischer Fantasie. Paragraf 1 der Menschheitsverfassung lautet: Alle Macht geht von der Gewohnheit aus. Viele Menschen sind mit der nationalen Demokratie unzufrieden, das sehen wir ja gerade. Sie werden wütend, aggressiv, weil ihre Probleme nicht gelöst werden. Aber sie können sich etwas Neues nicht vorstellen, eine nachnationale Demokratie, die die großen Probleme auf die einzig mögliche Weise löst, nämlich durch Gemeinschaftspolitik. Daher wollen sie einen starken Mann wählen, der national durchgreift. Er kann plappern, was die Menschen hören wollen, aber er kann nicht liefern. Dann glauben die Wähler, er war nicht konsequent genug, sie wollen einen radikaleren Nationalisten. Der kann Zeitungsredaktionen säubern, Richter austauschen, Gendern verbieten, Haberer bereichern, aber die transnationalen Krisen, die in das Leben von allen hineinwirken, natürlich auch nicht lösen. Also muss noch ein radikalerer Nationalist her. Das ist der Weg der Idioten in den Faschismus. Die Gründergeneration der europäischen Vergemeinschaftung hatte ihre Erfahrungen damit. Eine funktionierende EU sollte die Antwort darauf sein.
Also besser: Vereinigte Staaten von Europa?
Menasse
Nach dem Vorbild der USA? Das ist nicht die Idee. Die USA sind das alte europäische Projekt: Europäer haben in der Neuen Welt mit Gewalt Territorium erobert, es in einem blutigen Bürgerkrieg geeint und dann eine Nation gebildet, die die Interessen ihrer Eliten letztlich militärisch durchsetzt. Die EU wäre in jedem Punkt das Gegenteil: Territorium durch freiwilligen Beitritt, Einigung auf der Basis von Verträgen und Gemeinschaftsrecht und Überwindung der Nationen als Friedensprojekt. USA ist Vintage, EU ist Avantgarde. Auch wenn die heutigen politischen Eliten Europas das nicht begreifen, sie sind dumme Erben eines großartigen Projekts-wir müssen die Idee rekonstruieren und verteidigen.
Also eine Auflösung der Nationalstaaten, eine gewählte EU-Regierung und einen europäischen Präsidenten?
Menasse
Man kann Nationalstaaten nicht mit einem Federstrich auflösen. Aber sie werden sich im Lauf der Geschichte auflösen, ganz einfach, weil sie nicht mehr funktionieren. Das sehen wir ja schon heute. Die Frage ist, ob wir diese Entwicklung gestalten oder erleiden wollen. Wie die politischen Verwaltungseinheiten in Europa dann aussehen werden, wie eine nachnationale Demokratie dann genau ausbalanciert sein wird, sollten wir beginnen zu diskutieren. Ich weiß es nicht, da brauchen wir auch moderne Verfassungsrechtler mit der Brillanz eines Kelsen.
Und wenn die Menschen sagen, das ist unmöglich?
Menasse
Der Fall der Berliner Mauer, die Implosion der Sowjetunion, das schien bis wenige Wochen davor auch unmöglich. Wer das erlebt hat, hat kein Recht, zu sagen, dass politisch Wünschenswertes unmöglich ist.
Die Menschen verstehen nicht, dass die EU wegen der nationalen Blockaden nicht funktioniert.
Aber immer weniger Bürgerinnen und Bürger Europas stimmen der EU zu. Wie kann man ihnen Europa besser erklären?
Menasse
Die Menschen sind EU-skeptisch, weil sie sehen, dass die EU nicht funktioniert. Da haben sie ja recht. Aber sie verstehen nicht, dass die EU wegen der nationalen Blockaden nicht funktioniert. Finanzkrise, aber keine europäische Finanzpolitik, Flüchtlinge, aber keine europäische Migrations-und Flüchtlingspolitik. Wirtschaftskrise, aber auf dem gemeinsamen Markt keine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Und so weiter. Alles von nationalen Regierungen blockiert. Was soll die Kommission machen? Irgendwas, was sie darf: Also regelt sie die Drehverschlüsse von Plastikflaschen. Klar, die Menschen werden wütend, aber sie richten ihre Wut an die Falschen und ihre Hoffnungen an die Schuldigen, die nationalen Untergangster.
Wohin wird uns das noch führen?
Menasse
Ich sehe zwei Möglichkeiten: Entweder es zerreißt die EU, denn auf der Basis eines Systemwiderspruchs, der keine Resultate bringt, kann es nur den Bruch geben. Der Zerfall der EU in Nationalstaaten würde große Misere zur Folge haben. Die Menschen werden vor rauchenden Trümmern stehen und betroffen sagen: Das darf nie wieder geschehen. Kommt Ihnen das bekannt vor? Dann wird, wie schon einmal, wieder alles von vorn beginnen, aber besser. Die andere Möglichkeit wäre, dass durch die Einsicht in die Gefahr des Untergangs das System doch noch rechtzeitig reformiert wird. Es wird entweder besser nach der Katastrophe oder durch Vermeidung der Katastrophe.
Es ist schade, dass die EU nicht ist wie in Ihren Romanen: ein leidenschaftliches Projekt engagierter Protagonisten.
Menasse
Diese Menschen gibt es ja wirklich, ich erzähle die Realität. In den Medien kommen sie aber nicht vor, kompetente und engagierte Beamte der Arbeitsebene, die geben ja keine Pressekonferenzen oder Interviews. Da gibt es Engagement und Verzweiflung, Zynismus oder Erschöpfung, Tragikomik, Wut und vor allem: keine Phrasen. Beim Brexit sagten die Politiker: Bedauern und bla. Auf der Arbeitsebene darunter waren alle froh, dass die Briten draußen sind, weil sie nur blockiert und mit ihrem Opt-out-Recht nie mitgemacht haben.
Für die Recherche zu "Die Hauptstadt" haben Sie in Brüssel gelebt und Beamten kennengelernt. Waren Sie von ihnen überrascht?
Menasse
Angereist bin ich mit dem üblichen Vorurteil, dass das alles weltfremde Menschen sind. Ich wollte wissen: Was machen die wirklich, wie sieht deren Tagesablauf aus? Ich habe sehr kompetente, offene Menschen getroffen. Ein Beamter meinte, ich solle am nächsten Tag um sieben zu ihm ins Büro kommen. Ach, sagte er, Sie sind ja Dichter, kommen Sie um neun. Ich konnte den Tagesablauf beobachten und mit den Mitarbeitern sprechen. Es war faszinierend: die Vielsprachigkeit, die Debatten auf sehr hohem Niveau, die engagierte Suche nach Allianzen und Kompromissen. Das hat mich beeindruckt.
Sie hatten es mit Beamten der EU-Kommission zu tun?
Menasse
Ja, vor allem. Ich habe rasch erkannt: Die Kommission ist die Freundin der Europäer, sie kämpft um das Gemeinschaftsrecht. Man muss die Kommission unterstützen, aber es ist schwierig geworden, weil die Mitgliedstaaten die Ansätze einer europäischen Demokratie und Gemeinschaftspolitik zerstören, wo sie nur können. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist bei den Wahlen zum EU-Parlament nicht angetreten. "Gewählt" wurde sie trotzdem, mit zwei Stimmen: von Angela Merkel und Emmanuel Macron. So ist sie nicht ihrer eigenen Institution verpflichtet, sondern dem Rat der nationalen Regierungschefs. Das ist furchtbar, natürlich glaubt jetzt kein Mensch mehr an eine europäische Demokratie. Und dann verspricht von der Leyen aus heiterem Himmel der Ukraine den EU-Beitritt. Warum? Welcher Staat will ein Land, das sich im Krieg befindet, ins Friedensprojekt EU aufnehmen? Ich habe mit Beamten geredet und erfahren, dass das größte Vorkommen Seltener Erden in Europa in der Ukraine liegt. Wenn Europa also weniger abhängig von China sein will, braucht es die Bodenschätze der Ukraine, vor allem Deutschland. Da habe ich den Satz "Die Ukraine verteidigt unsere Werte" erst verstanden.
Im kommenden Jahr finden in Österreich Nationalratswahlen statt, in den Umfragen liegt die FPÖ vorn, Herbert Kickl führt in der Kanzlerfrage. Fürchten Sie sich?
Menasse
Es wird dauernd geschrieben, dass Kickl Kanzler wird. Aber den Kanzler stellen kann die FPÖ nur, wenn sie einen Koalitionspartner findet. In Wahrheit kann Kickl also gar nichts werden. Außer die ÖVP koaliert mit der FPÖ. Das heißt aber: Die Gefahr heißt nicht Kickl, sondern ÖVP. Tatsächlich ist diese Partei in einer Weise prinzipienlos geworden, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.
Was werfen Sie der ÖVP vor?
Menasse
Da muss man nichts vorwerfen, da kann man nur feststellen. Keine bürgerlichen Werte, nur Bürgerallüren. Getrieben von Sozi-Hass, "Rote Gfraster" und "Rote Gfrieser",das sagen sie ja ganz offen. Von Wirtschaft verstehen sie nur noch das Notwendige zur Bereicherung einer verhaberten Minderheit. Dafür brauchen sie Posten, das ist ihr ganzes politisches Interesse. Dabei braucht jedes Land eine einigermaßen vernünftige bürgerliche Partei. Ich glaube, dass die ÖVP leider bereit sein wird, auch den Juniorpartner unter Kickl zu machen. Die ÖVP hat jahrelange Erfahrung als Vizekanzlerpartei, das kann sie und macht sie gerne, wenn sie dafür bestimmte Ministerien bekommt.
Soll Schwarz-Blau verhindert werden, muss die SPÖ stärker werden. Sie sind vor der Wahl zum Parteivorsitzenden im März wieder Mitglied geworden. Sind Sie es noch immer?
Menasse
Ja, die SPÖ ist ja keine Drehtür. Wenn man ihr beitritt, ist eine gewisse Leidensbereitschaft notwendig. Aber im Gegensatz zu vielen ÖVPlern, die Sozi-Hasser sind, bin ich als Sozi kein ÖVP-Hasser, im Gegenteil. Ich wünsche mir eine bürgerliche Partei mit bürgerlichen Werten. Man kann über die Krise der SPÖ und ihre Dummheiten und Fehler lange reden. Aber der Unterschied ist: In der Sozialdemokratie werden Werte grundsätzlich noch hochgehalten. Verteilungsgerechtigkeit, Chancengleichheit...
Wieso schafft es die SPÖ nicht, die Menschen anzusprechen?
Menasse
Ich weiß es nicht. Wenn Andreas Babler den Kanzleranspruch stellt, muss er langsam zeigen, dass er sich nicht nur bei der Geschichte der Semperit-Arbeiter auskennt. Es gibt nicht nur Menschen, die ausgebeutet werden, sondern auch Menschen, die sich selbst ausbeuten. Und was ist jetzt wirklich mit Europapolitik?
Wenn für eine Partei sogenannte Koalitionsdisziplin über den Kinderrechten steht, dann hört sich jede Diskussion auf.
Und die Grünen?
Menasse
Wir reden hier von einer Regierungspartei, die zustimmt, dass Kinder in der Nacht aufgeweckt und außer Landes gebracht werden, Kinder, die hier aufgewachsen und bestens integriert sind. Wenn für eine Partei sogenannte Koalitionsdisziplin über den Kinderrechten steht, dann hört sich jede Diskussion auf.
Bei Wahlumfragen in den USA führt Donald Trump. Muss sich Europa fürchten?
Menasse
Angeblich zittert die NATO bereits davor, dass Trump, sollte er wieder gewählt werden, Europa das Schutzschild entzieht. Etwas Gutes im Schlechten hätte es: Die EU wäre endlich gezwungen, selbst eine europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik aufzubauen. Das wäre ein wichtiger Schritt für ein vereintes und souveränes Europa.