Weidel und Wagenknecht: Die unheimlichen Verführerinnen
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Von Walter Mayer (Berlin)
Wir beginnen mit einem „Wer hat was gesagt?“-Ratespiel für Rinks-Lechts-Spezialisten. A sagt: „Wir haben die dümmste Regierung Deutschlands.“ B sagt: „Diese Regierung handelt idiotisch!“ A: „Was von vielen Linksliberalen als Multikulturalität schöngeredet wird, ist in Wahrheit das Scheitern der Integration.“ B: „Die Migrationsfrage verschärft sich tagtäglich, und die Bundesregierung schaut weiterhin tatenlos zu.“ Noch mal A: „Für mich sind die Grünen die gefährlichste Partei, die wir aktuell im Bundestag haben.“ Im selben Ton nun wieder B: „Wir brauchen ein Bollwerk gegen das grüne Narrenschiff, das dieses Land in Grund und Boden regiert.“
Im Nebel der deutschen Politik, in dem es kein Vor und kein Zurück, kein Ja und kein Nein mehr gibt, in dem Demonstranten den Vizekanzler daran hindern, von einem Fährschiff an Land zu gehen, die Regierungskoalition sich selbst auffrisst und die oppositionelle Union nicht weiß, wie und mit wem sie nach der so greifbar nah scheinenden Macht fassen soll – in diesem wabernden Schlamassel flackern mit A und B zwei Irrlichter. Sie verheißen Lösungen, sie bieten Orientierung, sie kanalisieren Wut, sie versprechen Hoffnung, sie bieten Gemeinschaft. Viele halten diese Irrlichter für Leuchttürme, sie locken das Wahlvolk in Massen.
Gescheit, eloquent, destruktiv
Es sind zwei unheimlich strahlende Verführerinnen. A, das ist Dr. Sahra Wagenknecht, 54 Jahre alt. Sie hat die am Anfang dieses Textes wiedergegebenen Aussagen ebenso wie Frau B alias Dr. Alice Elisabeth Weidel, 45, wortwörtlich so getätigt. Wagenknecht zieht, nachdem sie ihre jahrzehntelange politische Heimat „Die Linke“ zertrümmert hat, dieses Jahr mit dem „Bündnis Sahra Wagenknecht“ – der Name verrät das Programm – in die Schlacht um Macht und Meinungshoheit. Ihre Schwester im Ungeist ist Alice Weidel, die Ko-Chefin der AfD, jener Partei, die in weiten Teilen als „gesichert rechtsextrem“ gilt, deren Aufstieg die Meinungsumfragen dominiert und die bei den anstehenden Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern als Nummer 1 gesehen wird. In Thüringen, wo die AfD unter Björn Höcke besonders völkisch und nationalistisch auftritt, hat Weidels Partei laut INSA-Institut 31 Prozent der Wahlberechtigten hinter sich, das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ käme auf Anhieb auf 17 Prozent.
Beide Frauen sind gescheit, elegant, eloquent, charismatisch, wendig, polemisch, demagogisch, manipulativ, destruktiv, faszinierend, egoman. Sie formulieren unterschiedlich, meinen aber oft das Gleiche. Wagenknecht will mehr Staat, Weidel will mehr „Volk“. Einig sind sie gegen Liberale, Grüne, die Ampel, das Merkel-Erbe, Migranten, Gendern, Russland-Sanktionen.
A, wie Wagenknecht: „Wir müssen so viel Öl und Gas aus Russland kaufen, wie wir eben brauchen, um unser normales Leben zu führen und die Wirtschaft am Laufen zu halten.“ B wie Weidel: „Der Krieg in der Ukraine ist nicht unser Krieg. Wir dürfen uns von Parolen, Propaganda und Emotionen nicht mitreißen lassen, sondern müssen unsere eigenen Interessen vertreten.“
Was treibt diese beiden Superheldinnen des Populismus? Was zeichnet ihren Weg aus? Worin liegen ihre Widersprüche? Und warum werden die beiden in den kommenden Monaten so wichtig für die Verfasstheit der Bundesrepublik?
Sahra Wagenknecht, in Jena (DDR) geboren, vaterlos aufgewachsen, hochbegabt, bringt sich im Alter von vier Jahren, da lebt sie bei den Großeltern, selbst das Lesen bei. Als Pubertierende lernt sie Goethes „Faust“ auswendig und ackert sich durch die Werke von Spinoza, Marx, Hegel. Erhält später in Ostberlin Studienverbot, weil sie wegen des autoritären DDR-Wehrkundeunterrichts in Hungerstreik getreten sei. Wird trotzdem im Wendejahr 1989 Mitglied der sterbenden SED, dann das Gesicht der „Kommunistischen Plattform“ in der SED-Nachfolgepartei PDS. Heiratet 1997 den wegen Betrugs verurteilten Finanzberater (und Jahrzehnte später zum „Reichsbürger“ konvertierenden) Ralph T. Niemeyer, lässt sich aber gleich wieder scheiden. Posiert für eine Fotostrecke im Klatschmagazin „Gala“ als revolutionäre mexikanische Malerin Frida Kahlo. Heiratet den 26 Jahre älteren Ex-SPD-Finanzminister und Ex-Linken-Vorsitzenden Oscar Lafontaine. Lässt sich als Speakerin buchen, etwa für einen „Topkongress für institutionelle Anleger“. Immer ist sie selbstbewusst, trotz sichtbarer Feinnervigkeit. Talkshow-Liebling. Startet mit ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ im Jahr 2021 einen Angriff auf „Lifestyle-Linke“ und Wokismus, die Grünen und relevante Teile der „Linken“, die sie zwei Jahre später mit engsten Vertrauten verlässt, um ihre eigene Partei, eben das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ zu gründen. Stets spricht sie mit der Stimme einer Allwissenden. Außenseiterin? Auserwählte?
Auf jeden Fall: Ausnahmeperson.
Fleißig, selbstbewusst, völkisch
Alice Weidel, aufgewachsen in einer traditionellen, konservativen Vater-Mutter-drei-Kinder-Familie in Gütersloh. In der Schule heißt sie „Lille“, ist fleißig, ehrgeizig. Spitzennoten an der Uni. Promotion in China, übrigens mit Unterstützung der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Bevor sie zur populistischen Stichwortgeberin der Provinzstammtische wird, entfaltet sich Weidel als Weltbürgerin. Topjobs bei Allianz Global Investors, Rocket Internet, selbstständige Unternehmensberaterin. In der AfD schlägt sie sich erst auf die Seite des gemäßigten Jörg Meuthen gegen die Parteivorsitzende Frauke Petri. Nach Petris Abgang wird die Front gewechselt, Weidel verbündet sich nun mit dem völkischen Höcke-Flügel gegen Meuthen, der schnell verdrängt wird. Als enger Vertrauter outete sich jüngst „Müller Milch“-Milliardär Theo Müller, der wie Weidel in der steuerlich attraktiven Schweiz lebt. In der „Neuen Zürcher Zeitung“ gab er jüngst zu Protokoll: Wir sind Freunde, besuchen uns öfters, sprechen über Wirtschaft und Politik. „Bild“ zeigte die beiden beim Restaurantbesuch in Cannes. Ziemlich im Gegensatz zur homophoben Grundstimmung in ihrer Partei und deren bösartiger Ablehnung von Adoptionen durch homosexuelle Paare zieht Weidel mit ihrer Lebenspartnerin, der aus Sri Lanka stammenden dunkelhäutigen Filmproduzentin Sarah Bossard, zwei Adoptivsöhne auf. Alice Weidel ist eigensinnig, selbstbestimmt, eine Selfmade-Populistin.
Was denkt A über B? „Natürlich ist Alice Weidel kein Nazi“, sagt Sahra Wagenknecht über die AfD-Chefin im Gespräch mit „Spiegel“-Autor Markus Feldenkirchen. Und Weidel über Wagenknecht? „Sie ist wahnsinnig populär und spricht vor allem im Osten dieselben Wähler an wie wir: Jene, die die Folgen der Energiekrise besonders hart spüren, die genug haben vom linksgrünen Mainstream und vom Versagen der Regierung.“ Es liegt Verständnis und Nähe in der Luft.
Mitgliederschub für die AfD
Trotz der Massendemonstrationen gegen Rechts nach dem ominösen Potsdamer Treffen, bei dem AfD-Kader mit dem österreichischen Identitären Martin Sellner berieten, wie man Millionen Menschen mit nichtdeutschem Genpool in die „Remigration“ treiben könnte, verzeichnet die Weidel-Partei derzeit einen Mitgliederschub und gewann vergangenen Sonntag bei der Teilwiederholung der Bundestagswahl in Berlin 5,8 Prozentpunkte dazu – inklusive eines Mandats für die mittlerweile wegen Terrorverdacht in U-Haft sitzende Kandidatin Birgit Malsack-Winkemann. „Von allen Wegen, mit dem Aufstieg einer rechtspopulistischen Partei umzugehen, hat sich in Deutschland der schlechteste Weg durchgesetzt“, schreibt Marc Felix Serrao in der „NZZ“: „Die Ausgrenzung hilft der AFD.“
Allerdings: Erstmals seit Jahren verliert die Partei, in bundesweiten Umfragen immerhin 2,5 Prozent. Die jüngsten INSA-Zahlen: Union 30 Prozent, AfD 20,5, SPD 15, Grüne 12, Wagenknecht 7, FDP und „Linke“ raus. Der leichte Abschwung der AfD könnte vom Auftreten der Wagenknecht-Partei herrühren, die Antikapitalismus mit Migrationskritik verbindet. Sind AfD und BSW also kommunizierende Gefäße? Gelingt es dem Wagenknecht-Bündnis, bisherige AfD-Wähler zu domestizieren? Oder addieren sich die beiden populistischen Strömungen zu einer Querfront, die die Demokratie von links und rechts angreift?
Berlin ist nicht Weimar, heißt es immer wieder. Gemeint ist damit, die Demokratie sei heute stark genug, rechte und linke Ränder zu ertragen. „Weimarer Verhältnisse“, also das komplette Auseinanderdriften der Gesellschaft, wie vor der Machtergreifung der NSDAP, bestünden heute nicht ansatzweise, deshalb auch keine Faschismusgefahr.
Aber: Kommen AfD und Wagenknecht-Partei bei den anstehenden Wahlgängen auch nur annähernd an die prognostizierten Stimmenanteile, dann bebt der Boden, auf dem die Bundesrepublik gebaut ist.
- Gegen die Populisten kann dann nicht mehr regiert werden.
- In der Union werden sich als logische Folge jene Stimmen verstärken, die nach einem Ende der „Brandmauer gegen rechts“, also für mögliche Bündnisse mit der AfD rufen.
- Spiegelverkehrt wird es in der SPD und (schwächer) bei den Grünen Annährungsversuche Richtung Wagenknecht geben.
- Zwar hat Wagenknechts Stellvertreterin Amira Mohamed Ali eine Koalition von BSW mit der AfD ausgeschlossen. Aber die Chefin schweigt dazu. Und in zu vielen Punkten ist das BSW eben AfD minus Fascho-Folklore.
- Gleichzeitig drängen weitere neue politische Kleinparteien auf den Markt und machen die Lage noch ungewisser: Die „Werteunion“ des geschassten Verfassungsschutz-Chefs Hans-Georg Maaßen steht irgendwo zwischen CDU/CSU und AfD.
- Die „Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch“ (DAVA) gilt als deutscher Arm der Partei des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (AKP) und wendet sich an die Wahlberechtigten unter den rund 5,5 Millionen in Deutschland lebenden Muslimen.
- Und die „Freien Wähler“, die in Bayern mit dem berühmt-berüchtigten Hubert Aiwanger an der Spitze mitregieren, denken an ihre bundesweite Ausdehnung.
Das Populismus-Ringelspiel dreht sich also schwindelerregend in diesen Monaten. Und rund um Deutschland noch rasanter: Marine Le Pen ist die beliebteste Politikerin Frankreichs. Die Neofaschistin Giorgia Meloni regiert Italien. Und die Niederlande werden (wenn auch gebremst) Wildersland, wenn es dem Rechtspopulisten Geert Wilders gelingt, eine Regierung zu bilden.
Früher, damals, als die Hoffnung noch jung war, repräsentierten Frauen in der Politik eher das Gute, den Ausgleich, Verantwortung zu tragen und Partizipation zu ermöglichen. Das wollte man zumindest, trotz eventuell im Machtdunkel verborgener Malversationen, annehmen: von Eleanor Roosevelt (USA) über Golda Meir (Israel), Indira Ghandi (Indien) bis Rita Süssmuth (Deutschland), Angela Merkel. Selbst Margaret Thatcher, der blonde britische Racheengel des Kapitalismus, stand irgendwie für Selbstermächtigung und Female Power. Mehr Frauen an der Macht, so war die weitverbreitete Meinung, würden die Welt besser, gerechter, irgendwie menschlicher machen. Dass nun Politikerinnen wie Sahra Wagenknecht und Alice Weidel als Postergirls des Populismus auftreten und dabei, wollte man so antiquierte Kriterien wie Ästhetik anlegen, deutlich bessere Figur machen als ihre männlichen Kameraden (von Orbán über Venezuelas Autokraten Nicolás Maduro bis Kickl), dass also kluge, attraktive Frauen im Jahr 2024 genauso hetzen, täuschen, trügen, vorführen und verführen wie die sprichwörtlichen alten weißen Männer, das schmeckt bitter, und doch ist es eine Frucht der Emanzipation.
Die Irrlichter flackern auf dem Boden der modernen, offenen, diversen Gesellschaft, die sie so inbrünstig bekämpfen.