Weißrussland: Eine Protestbewegung fegt durch Europas letzte Diktatur
Es ist gar nicht lange her, da war Walentina Nikolajewna noch ein glühender Fan von "Batka". Auf Russisch heißt das "Väterchen", und so wird Alexander Lukaschenko sowohl von Anhängern als auch Gegnern genannt - die einen meinen es liebevoll, die anderen spöttisch. Seit 1994 regiert der schnauzbärtige Mann mit der groben Rhetorik die Republik Belarus. Und obwohl er mit harter Hand agiert, hatte Walentina ihn immer gewählt. Doch mit jeder kümmerlichen Pension von umgerechnet 100 Euro und jeder Kopeke, die sie zwei Mal umdrehen musste, begann die 68-Jährige mehr zu zweifeln. Schließlich wurde die Unzufriedenheit stärker als die Angst vor Repressionen. Im Februar dieses Jahres ging Walentina zum ersten Mal auf die Straße, wie Tausende andere auch. "Lukaschenko hat uns ein besseres Leben versprochen, aber er hat uns im Stich gelassen", sagt sie heute: "Wovor soll ich mich noch fürchten? Was wollen sie mir schon nehmen? Meine Krankenakte?"
Zu fürchten gibt es jedoch genug an diesem Samstagnachmittag in der Hauptstadt von Belarus. Es ist der 25. März, der inoffizielle "Freiheitstag", an dem die Opposition der Gründung der Belarussischen Volksrepublik im Jahr 1918 gedenkt. Wie Vieh treiben die Polizisten Demonstranten, aber auch Passanten in Gefangenentransporter. Sogar Militärfahrzeuge haben im Zentrum von Minsk mit seinen breiten Boulevards und wuchtigen Sowjetbauten Stellung bezogen. Vor einer Reihe von Milizionären mit Knüppeln, Schildern und Helmen ist eine Frau niedergesunken und betet. Daneben schreit eine Frau den Schlachtruf der Opposition heraus: "Schywe Belarus!" ("Es lebe Belarus!")
In den vergangenen Wochen sind Tausende Bürger im ganzen Land auf die Straße gegangen. Ziel ihrer Proteste war die sogenannte "Sozialschmarotzer-Steuer", die es schon zu Sowjetzeiten gab. Wer weniger als sechs Monate im Jahr arbeitet, muss umgerechnet 180 Euro berappen - und das ist viel in einem Land mit einem Durchschnittsgehalt von 350 Euro. Von einem "Frühling von Belarus" sprechen die oppositionellen Medien, von der größten innenpolitischen Krise Lukaschenkos die anderen. Anfangs ließ der Präsident die Demonstranten gewähren und setzte die Steuer auf den Druck der Straße hin sogar aus. Da die Kundgebungen trotzdem weitergingen und sich immer direkter gegen ihn richteten, greift er inzwischen wieder hart durch. Obwohl die Proteste bislang immer friedlich verlaufen sind, werden sie im Staatsfernsehen als "radikal" oder gar "naziähnlich" verunglimpft. 26 Männer ließ das Regime inhaftieren, unter dem Vorwand, sie hätten gewalttätige Aktionen geplant. 700 Demonstranten wurden am "Freiheitstag" in Minsk, der seither von einigen "Tag der Unfreiheit" genannt wird, arretiert. Der Oppositionelle Mikalaj Statkewitsch, der die Proteste in der Hauptstadt anführen sollte, war mehrere Tage lang verschwunden: vom KGB, wie der Geheimdienst hier immer noch heißt, entführt.
"Bloß schlechte Hygiene im Gefängnis"
Auch Anatol Ljabedska, Vorsitzender der Vereinigten Bürgerpartei Weißrusslands, war eingesperrt, allerdings schon früher - als einer von 200 Regimegegnern, die bereits vor den geplanten Protesten in Minsk festgenommen wurden, um der Bewegung schon vorab den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ein verwackeltes Video zeigt, wie Ljabedska Mitte März in einer Kleinstadt von Unbekannten in einen Kleinbus gezerrt wurde. Das Video hat er selbst gedreht und auf YouTube hochgeladen. Nun sitzt er im 17. Stock eines Minsker Plattenbaus, der Zentrale der Vereinigten Bürgerpartei. Erst am Vortag ist er aus der Haft entlassen worden. Sein linkes Auge tränt und ist entzündet: "Bloß schlechte Hygiene im Gefängnis", winkt er auf Nachfrage ab.
Wer in Belarus Oppositionspolitik macht, muss hart im Nehmen sein, das weiß Ljabedska aus leidvoller Erfahrung. Unter anderem wurde er 2004 von der Polizei bei einer Festnahme krankenhausreif geschlagen. 2010 saß er mehr als drei Monate in Haft und schrieb darüber ein Buch: "108 Tage und Nächte in einem KGB-Kerker". Und heuer wurde er wegen "Organisation einer nichtgenehmigten Protestveranstaltung" in einer Provinzstadt zu 15 Tagen Gefängnis verurteilt. Seine jüngste Inhaftierung endete just am Abend des "Freiheitstages", und daraus schließt Ljabedska, die Behörden hätten damit das Ziel verfolgt, "die Proteste führungslos zu machen". Doch schon wieder droht ihm ein neues Gerichtsverfahren. Ljabedska streift mit der Hand über die Porträts führender Mitglieder der Vereinigten Bürgerpartei, die an der Wand hängen: hinter Gittern, vermisst, festgenommen.
Dabei wurden die aktuellen Proteste gar nicht von der Opposition angezettelt. Es waren vor allem Pensionisten und Arbeiter in den Kleinstädten der belarussischen Provinz, die für eine Abschaffung der Steuer, bessere Lebensqualität und einen neuen Wirtschaftskurs auf die Straße gingen. Damit haben sie alle überrascht -auch die Opposition, die sich rasch mit den Demonstranten solidarisierte und zur Zielscheibe des Regimes wurde.
Es folgten die schlimmsten Repressionen seit knapp sieben Jahren, als am 19. Dezember 2010 eine Protestaktion gegen Manipulationen bei der Präsidentschaftswahl brutal niedergeschlagen wurde. Während damals Politiker und Aktivisten zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, kommen die Aktivisten derzeit mit relativ milden Urteilen davon. Die meisten der fast 1000 Menschen, die in den vergangenen Wochen festgenommen wurden, waren bereits nach kurzer Zeit wieder auf freiem Fuß. 177 Personen wurde in teils absurden Verfahren der Prozess gemacht, insgesamt 74 Aktivisten, Journalisten und Politiker mussten für jeweils ein paar Tage ins Gefängnis. "Das belarussische Regime experimentiert damit, die Gewalt zu dosieren, und hofft dabei, seine Beziehungen zum Westen nicht aufs Spiel zu setzen", schreibt der Politologe Alexander Klaskouski.
Kurzes Fenster der Freiheit
Seit 2015 hat das Land eine relativ liberale Phase erlebt. Vor allem seit der russischen Aggression in der benachbarten Ukraine ist sowohl Weißrussland als auch der EU daran gelegen, die Beziehungen zu normalisieren. Erst vor einem Jahr hob Brüssel die Sanktionen gegen Lukaschenko, der lange Zeit als der "letzte Diktator Europas" galt, auf. Bedingung dafür war die Freilassung aller politischen Häftlinge gewesen. Möglich, dass dieses kurze Fenster der Freiheit, das sich nun wieder zu schließen droht, den "Frühling von Belarus" erst ermöglichte.
Von weiteren Sanktionen ist in Brüssel derweil jedoch keine Rede. "Wir werden unsere Kontakte mit den belarussischen Behörden aufrechterhalten und möchten unterstreichen, dass es notwendig ist, die Menschenrechte, die Grundrechte sowie die Rechtsstaatlichkeit zu achten", so eine Sprecherin der EU-Außenbeauftragten gegenüber profil. Die weißrussischen Behörden ließen mehrere Anfragen zu den Protesten unbeantwortet. Die Wirtschaftslage meint es währenddessen nicht gut mit Lukaschenko. Erstmals seit Mitte der 1990er-Jahre steckt sein Land, das noch immer stark planwirtschaftlich organisiert ist, in einer Rezession. Bislang war im Notfall immer der Kreml eingesprungen -als Gegenleistung für die Loyalität von Lukaschenko. Zuletzt bestand das BIP von Belarus zu 15 bis 20 Prozent aus russischen Subventionen. Doch damit ist es vorbei. Der wichtigste Verbündete befindet sich selbst in der Krise, zudem hat sich Lukaschenko mit seinem Präsidenten-Kollegen Wladimir Putin wegen Divergenzen bei Grenzkontrollen und Gaspreisen zerkracht.
So ist es unklar, ob das weißrussische Regime seine "Gratwanderung zwischen dem Druck von innen und dem Druck von außen", wie Andrew Wilson vom University College in London die aktuelle Strategie bezeichnet, auf Dauer durchhält. Nach den Repressionen im Jahr 2010 war die Zivilgesellschaft jahrelang gelähmt. Diesmal dauerte es hingegen nur wenige Stunden, bis sich einige - wenngleich wenige - Demonstranten wieder zu einer Solidaritätsaktion mit den Festgenommenen in Minsk versammelten. Als sie von der Polizei festgenommen wurden, begannen umgehend Diskussionen über Termine für neue Aktionen.
"Der Raum der Angst ist kleiner geworden", glaubt Oppositionspolitiker Ljabedska. "Die Leute sind verzweifelt genug, um trotz allem nach Veränderung zu verlangen", sagt Maryna Rakhlei vom German Marshall Fund. Im Internet sprechen sich die Aktivisten derweil Mut zu. In den sozialen Medien wird diskutiert, wie man sich am besten vor dem KGB schützt und ob man im Gefängnis in den Hungerstreik treten soll; ein Jugendmagazin publiziert laufend Updates für das Verhalten gegenüber der Polizei; Radio Free Europe gibt Instruktionen, wie man seine eigene Festnahme live im Internet dokumentieren kann.
Petr Makelow, ein junger Mann mit dunkelbraunem Haarzopf, filmte erst, wie eine Gruppe Anarchisten in einen Bus gezerrt und von Männern ohne Hoheitsabzeichen abgeführt wurde -und dann seine eigene Verhaftung. Dafür wurde er zu zwölf Tagen Gefängnis verurteilt. "Auch das wird uns nicht stoppen. Sogar die Mitarbeiter im Gefängnis sind der Meinung, dass wir für nichts und wieder nichts eingesperrt wurden", so Makelow gegenüber dem Onlineportal tut.by: "Die Leute werden weiter auf die Straße gehen, weil sich nichts verändert hat."