Anschlag in Halle: "Wenn ich dir in die Augen sehe, dann ist da niemand“
Am 9. Oktober 2019, zu Yom Kippur, dem jüdischen Versöhnungsfest, versuchte ein schwerbewaffneter Attentäter, in die Synagoge von Halle im Bundesland Sachsen-Anhalt einzudringen. Ich war eine der rund 50 Betenden im Inneren des Gebäudes. Wir sahen den Mann auf dem Bildschirm einer Überwachungskamera, verbarrikadierten die Tür und versteckten uns. Nachdem der Angreifer an der Tür zur Synagoge gescheitert war, erschoss er in unmittelbarer Nähe eine Passantin und den Gast eines Döner-Imbisses. Auf der Flucht verletzte er weitere Personen, ehe er schließlich festgenommen werden konnte. Der mutmaßliche Terrorist, ein deutscher Rechtsradikaler namens Stephan Balliet, befindet sich seither in Untersuchungshaft. Was hat dieses Ereignis mit mir gemacht?
Kaum vorstellbar, dass der Anschlag nur knapp drei Monate zurückliegt. Die Erinnerung an diesen Tag ist schmerzhaft präsent, und dennoch kommt mir vor, als wäre seither viel mehr Zeit vergangen. Ich war mit einer Gruppe aus Berlin angereist, um Yom Kippur abseits der Großstadt in einer kleineren Gemeinde zu verbringen. Als wir gegen 12 Uhr mittags bei der Tora-Lesung waren, hörte ich zwei laute Explosionen und sah Rauchschwaden an einem der bunten Fenster der Synagoge aufsteigen. Mein erster Gedanke war „Das ist ein Attentat“, doch ich verwarf ihn gleich wieder, als ich sah, dass die anderen Betenden ruhig blieben.
Danach waren wir in Lebensgefahr, eine halbe Stunde lang, bis die Polizei eintraf und Entwarnung gab. Wir wurden in ein Krankenhaus gebracht, wo wir den Fasttag zu Ende feierten. Danach ins Hotel. Am nächsten Tag fuhr ich zurück nach Berlin.
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Dort war ich am Tag nach dem Attentat zu Feierlichkeiten im Jüdischen Museum eingeladen. Dauernd klingelte mein Telefon. Abwechselnd gab ich Journalisten Interviews und beantwortete bestürzte Nachrichten von Freunden und Angehörigen. „Bin fast vom Sessel gefallen, als ich gesehen habe, dass du in Halle warst. Bist du okay?“ Keine leichte Frage. Ich entschied mich bald für eine Copy-paste-Antwort: „Liebe XY, vielen Dank für deine Nachricht und deine lieben Worte. Es geht mir gut. Von unserer Gruppe wurde zum Glück niemand verletzt.“
In Wahrheit hatte ich überhaupt keine Ahnung, wie es mir ging. Ich hatte auf Autopilot geschaltet.
Beim Festakt im Jüdischen Museum traf ich besorgte Freunde. Ich hörte Sätze wie: „Ganz ehrlich, ich hatte richtig Angst davor, dir heute zu begegnen, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll“, dazu hilflose Blicke. Ich lächelte tröstend. Die Freunde umarmten mich erleichtert. Ja, doch, es ginge mir gut, beteuerte ich immer wieder.
In Wahrheit hatte ich überhaupt keine Ahnung, wie es mir ging. Ich hatte auf Autopilot geschaltet. Ich schlief schlecht oder gar nicht, mein Körper stand unter dauerhafter Anspannung. Ich kam nicht zur Ruhe. Am Sonntag, vier Tage nach dem Attentat, flüchtete ich zurück nach Paris, wo ich davor schon gelebt und studiert hatte.
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In Paris angekommen, wurde ich von einer Einladung zur nächsten weitergereicht. Ich nahm die meisten an, und hörte mich beim Abendessen immer wieder erzählen, was geschehen war. Gleichzeitig wurde ich schlagartig von Symptomen des Traumas eingeholt. Oft konnte ich nicht einmal das Haus verlassen. Selbst in kleinen Menschenansammlungen befiel mich Panik. Die Schlafstörungen, die mich bereits unmittelbar nach dem Attentat gequält hatten, paarten sich mit massiven Alpträumen. Ich sah Neonazis in meine Berliner Synagoge einmarschieren.
Auch wenn ich zu Hause blieb, verschwand die Anspannung nicht. Irgendwo wurde eine Autotür zugeschlagen, die Haustür fiel ins Schloss – ich schreckte jedesmal auf.
Der Alltag war außer Reichweite. Meine Aufmerksamkeitsspanne reichte nicht einmal, um einen kurzen Zeitungsartikel zu lesen. An die Arbeit an meiner Dissertation in Philosophie und Geschichte war nicht zu denken. In die Bibliothek hätte ich es ohnehin nicht geschafft.
In den Supermarkt zu gehen, wurde zur Herausforderung.
Die größte Einschränkung bei der Bewältigung des Tages waren Black-outs. Was immer ich gerade tun wollte – sobald ich aufstand, war es mir entfallen. Ich erinnerte mich an meine Oma, die jeden Gedanken aufschrieb, um ihn nicht zu vergessen. Wollte ich Teewasser aufsetzen oder duschen, musste ich mir das notieren.
In den Supermarkt zu gehen, wurde zur Herausforderung. Wenn ich davor stand, wusste ich nicht mehr, wie ich hingekommen war, und auch nicht, was ich dort überhaupt wollte. Das Gedränge ließ mich panisch werden. Am Ende nahm ich hektisch einen Kopf Weißkraut, das ich übrigens, wie ich in den folgenden Tagen feststellen musste, gar nicht mag. Zwei Stunden nach dem Einkauf hatte mein Gehirn alles längst wieder gelöscht, und ich wunderte mich über das Gemüse in meinem Kühlschrank.
„Wenn ich dir in die Augen sehe, dann ist da niemand“, sagte ein Bekannter damals zu mir. Treffender hätte er es nicht formulieren können. Körperlich war ich zwar noch da und unversehrt, aber sonst?
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Dass das Attentat auch ein ganz anderes Ende hätte nehmen können, wurde mir erst klar, als ein guter Freund in Paris mich zunächst schweigend umarmte und dann sagte: „Es ist gut, dich zu sehen.“ In diesem Moment fiel mir zum ersten Mal auf, dass es tatsächlich gut war, mich zu sehen, schließlich war ich noch hier und unverletzt, und das war keine Selbstverständlichkeit. Auch jetzt noch hängt die farblich kodierte Patienten-Anhängetasche, die das Team aus Notärzten und Sanitätern bei der Evakuierung aus der Synagoge in Halle an alle verteilt hatte, in meinem Wohnzimmer. Darauf notieren Einsatzteams, die zu einem Notfall gerufen werden, die wichtigsten Informationen über die Verletzten, um die weitere Behandlung effizienter und einfacher zu machen. Die farbliche Kodierung – rot, gelb, grün, blau, schwarz – dient dazu, den Grad der Verletzungen und somit die Dringlichkeit der Behandlung anzugeben. Ein Freund, der das Ding an meiner Wand hängen sah, lachte. Ich erläuterte die Farben und schloss, ohne mir viel dabei zu denken, mit den Worten: „Schwarz ist für Tote.“
Er sah mich bestürzt an und umarmte mich. Erneut begriff ich, dass die grüne Karte in meinem Patienten-Anhänger eben nicht selbstverständlich war. Dennoch versicherte ich immer wieder, es ginge mir gut, bis eine Freundin schließlich entgegnete: „So siehst du aber nicht aus.“
An guten Tagen arbeite ich konzentriert an meiner Dissertation, an schlechten geht gar nichts, außer Sport.
Gespräche wie diese holten mich nach und nach in die Realität zurück. Von allen Seiten bekam ich Unterstützungsangebote, ermutigende Nachrichten, Rückhalt. Die schönsten Gespräche waren aber die, in denen es einmal nicht um Halle ging, sondern zum Beispiel um den Istanbul-Urlaub meines Doktorvaters.
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Zwei Wochen nach meiner Rückkehr nach Paris beschloss ich, meine Verwirrtheit mit Sport zu bekämpfen. Auf dem Weg zum Boxclub hatte ich mit einer Panikattacke zu kämpfen. Vor dem Kurs vertraute ich mich meiner Trainerin an, erzählte von dem Attentat auf die Synagoge und meinem miserablen Zustand. „Gut, dass du hier bist, Widerstand ist wichtig!“, machte sie mir Mut. Während des Trainings kämpfte ich mit Angst und Tränen. Jedes Mal, wenn im parallel stattfindenden Crossfit-Kurs eine Matte oder ein Gewicht mit einem lauten Knall zu Boden fiel, zuckte ich zusammen. Das hat sich bis heute, mehr als drei Monate nach dem Attentat, immer noch nicht ganz gelegt. Da hilft alles Boxen nicht. Dennoch fühlte ich mich nach dem ersten Training gestärkt und etwas klarer im Kopf. Zwei Wochen später konnte ich mich endlich dazu durchringen, eine Traumatherapeutin aufzusuchen.
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Mittlerweile erlebe ich die Symptome weniger intensiv, verschwunden sind sie aber noch nicht. An guten Tagen arbeite ich konzentriert an meiner Dissertation, an schlechten geht gar nichts, außer Sport. „Die Verarbeitung eines Traumas braucht eben Zeit, und die Symptome werden nach und nach verschwinden“, meinte die Therapeutin dazu.
Was bleibt, ist die Angst. Bei Besuchen in Berlin halte ich in der U-Bahn ängstlich Ausschau nach potenziellen Antisemiten und Angreifern. In Gebäuden überlege ich mir mögliche Fluchtwege. Durch diese Angst ist mir bewusst geworden, warum offenes jüdisches Leben gerade in Deutschland so wichtig ist. Als ich kürzlich einem Freund erzählte, ein Bekannter würde aus Angst vor Antisemitismus demnächst nach Israel auswandern, kommentierte er trocken: „Na ja, wenn es dann so weit ist, treffen wir uns ohnehin alle dort wieder.“ Damit hat er vermutlich recht.
Kurz nach dem Attentat haben mir Berliner Freunde ein „Chai“ (Hebräisch für „Leben“) geschenkt, einen Anhänger, den ich seither täglich und offen sichtbar an einer Kette um den Hals trage. Die Angst ist da, aber Widerstand ist wichtig.