Ausland

„Werden noch mehr Geschlossenheit brauchen“: Van der Bellens Sonderzug nach Kiew

Der Bundespräsident traf am Mittwoch seinen ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj in Kiew. Er formulierte seine Wünsche, Van der Bellen versprach weiter Unterstützung. Über eine Reise mit Symbolkraft.

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Das Schlimmste sieht Alexander Van der Bellen auf den Bildern. Er hört es von denjenigen, die dabei waren. Über den Boden von Butscha hat sich mittlerweile eine dünne Schneeschicht gelegt. Sie bedeckt die Fläche rund um die St. Andreas Kirche, auf der vor einigen Monaten das Grauen entdeckt wurde. Der orthodoxe Pater Andrii in schwerer Kutte begleitet an diesem Mittwochvormittag seinen hohen Gast durch das Gelände. Er weiß noch genau, wie es im vergangenen März ausgesehen hat: In dem roten Haus da drüben, lässt der Ukrainer auf Deutsch übersetzen, habe eine Familie gewohnt: „Die Mutter ist mit ihren zwei Kindern im Auto umgekommen.“ Er zeigt auf ein anderes Gebäude: Das wurde ausgebrannt und ausgeraubt. Dann führt er den Bundespräsidenten weiter über den Boden, in dem so viele Leichen gefunden wurden, 116 an dieser Stelle insgesamt. „Die Russen haben sich nicht einmal um ihre toten Soldaten gekümmert. Wir mussten sie begraben.“ Pater Andrii holt sein Handy hervor und zoomt auf Fotos von leblosen Körpern. „Für uns ist sehr wichtig, dass die Welt versteht, was passiert ist.“ Man müsse den Ort spüren, um das Ausmaß zu begreifen. Van der Bellen nickt stumm, dann sagt er betroffen: „Ich bin sehr bedrückt, aber ich bewundere die Kraft der Ukrainerinnen und Ukrainern.“

20 Kilometer Luftlinie trennen Butscha von der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Die Autofahrt führt zuerst vorbei an U-Bahnstationen, Cafés und befahrenen Straßen, hin zu ausgebrannten Einkaufszentren und eingestürzten Häusern. Der Kiewer Vorort war in den ersten Tagen des Angriffskrieges von den Russen gestürmt worden. Als sie einen Monat später weiterzogen, wurden mehr als 400 Leichen gefunden. Die meisten von ihnen trugen Spuren von Folter und Misshandlung. Seitdem steht der Ort als Symbol für die Gräueltaten des russischen Aggressors. Als Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) im vergangenen April nach Butscha kam, waren die leblosen Körper der Opfer von Kriegsverbrechen zum Teil noch zu sehen. Die ukrainischen Behörden legen ihren ausländischen Staatsgästen diese Route nahe: Sie soll die Gräuel des Krieges zeigen, und doch so viel Sicherheit wie möglich bieten. Die blutigsten Kämpfe zwischen der Ukraine und ihrem Aggressor werden gerade im Donbass geführt.

Noch im September 2020, vor dem russischen Angriffskrieg, hatte Alexander Van der Bellen Besuch aus der Ukraine erhalten. Der Präsident empfing seinen ukrainischen Amtskollegen, Wolodymyr Selenskyj, mit militärischen Ehren. Zuerst spazierten die beiden mit Maske den roten Teppich am Wiener Heldenplatz entlang, am Abend gingen sie zum Heurigen in den 19. Bezirk. Ein gemütliches Tête-à-Tête nannte es Van der Bellen später. Wie für einen Staatsgast üblich, sprach Selenskyj damals eine offizielle Gegeneinladung nach Kiew aus. Sie wurde angenommen, aber nie eingelöst. Bis jetzt.

Anfang Jänner begann die Präsidentschaftskanzlei, die Reise zu planen, erzählt Van der Bellen in einem kleinen Lokal an der polnisch-ukrainischen Grenze. Recht kurzfristig sei das für einen Staatsbesuch, „aber es gibt keine Hotelbuchungen, das ganze übliche Klimbim fällt weg“. Wichtig waren: So wenig Risiko wie in einem Kriegsgebiet machbar und so viel Strahlkraft wie möglich. „Es ist ein deutliches Signal: Wir lassen die Ukraine nicht allein“, sagt Van der Bellen. Dann steigt er in den blau gestrichenen Zug der Ukrainer, der ihn nach Kiew bringen wird. Alle Passagiere bekommen zwei Polster, eine schwarz-weiß karierte Decke, das Personal verteilt Wasser. Es könnte ein Nachtzug wie jeder andere sein, wären nicht die Cobra-Beamten, das ukrainische Militär, die abgedunkelten Kabinen. Neun Stunden lang fährt der Zug seine ruckelige Route nach Osten. Am frühen Mittwochmorgen steigt Van der Bellen am Kiewer Bahnhof aus. 

Sechs Tage zuvor stand er noch im Dreiteiler im historischen Sitzungssaal des österreichischen Parlaments, angekündigt mit Fanfaren und gefeiert mit Jubelschreien. Bei seiner Angelobung versuchte er, Österreich Zuversicht in Krisenzeiten zu geben und doch die Dramatik zu beschreiben: „Es ist herzzerreißend, wenn ich an all die unschuldigen Kinder, deren Mütter und Väter denke, Menschen, die einfach nur in Frieden leben wollen“, sagte er im Parlament.  „Putin attackiert unsere Art zu leben.“ Weil er es „nicht erträgt, dass wir in individueller Freiheit leben, dass hier jede und jeder so leben kann, wie er oder sie es möchte.“

Jetzt steht Ven der Bellen im dicken Mantel, darunter Sakko und gefütterte Weste, vor der Kirche in Butscha und sagt: „Es ist ein Unterschied, ob man etwas aus der Ferne sieht oder Vor Ort ist.“

Die Präsidentschaftskanzlei wollte für den Besuch einen Zeitpunkt mit besonderer Symbolik wählen: die erste große Auslandsreise in Van der Bellens zweiter Amtszeit. Das Signal geht in erster Linie nach Kiew, aber auch nach Russland und zu den Sympathisanten des Aggressors in Österreich. 

Den Beginn seiner zweiten und letzten Periode geht der oft so bedächtige Van der Bellen erstaunlich offensiv an: In einem unkonventionellen ORF-Interview bedauert er, gegen die Korruptionschats der ÖVP nicht deutlicher aufgetreten zu sein. Er geht auf deutliche Distanz zu Herbert Kickl und der FPÖ: „Eine antieuropäische Partei, eine Partei, die den Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht verurteilt, werde ich nicht durch meine Maßnahmen noch zu befördern versuchen.“ Van der Bellen sagt auch: „Ich möchte nicht als feiger Politiker in die Geschichte eingehen.“

Butscha will der Außenwelt seine klaffenden Wunden zeigen, und sie gleichzeitig heilen. Manche Häuser bestehen nur noch aus ihrem Gerüst. Auf den Straßen mischt sich nun aber frisches Bauholz mit Schutt der vergangenen Monate. Auch die „Schule Nummer 3“ wird langsam wiederhergestellt – mit österreichischer Unterstützung von „Nachbar in Not“. 1600 Schülerinnen und Schüler werden hier unterrichtet. Das Dach wurde verwüstet, sämtliche Computer gestohlen oder zerstört. Während die russischen Truppen wüteten, harrten hunderte Erwachsene und Kinder in den Schutzbunkern aus.

Einige von ihnen sitzen in dem kleinen Klassenzimmer, das von der österreichischen Delegation gefüllt wird. Auf den Wänden klebt eine große Karte der Ukraine, auf den hinteren Regalen stapeln sich die Mathematikbücher. Die Englischlehrerin stellt Schüler und Bundespräsidenten einander vor. Van der Bellen sagt „please sit down“ zu den Kindern und fragt die Pädagogin, ob zumindest ein bisschen Normalität wieder eingekehrt sei. „Naja“, sagt die Lehrerin, gestern hätten sie drei Mal in den Bunker müssen. Die Klassen werden in Schichten unterrichtet. Dann ermuntert sie ein Mädchen, das zu Beginn der Krieges nach Linz geflohen war, Deutsch zu sprechen. Sie singt dann auch die ukrainische Hymne, ein Bub lässt sich Van der Bellens Autogramm auf seinen Hoodie geben. Es sind die ausgelasseneren Momente für Van der Bellen auf seiner Reise. 

Fast ein Jahr ist jener 24. Februar 2022 her, der sich in das kollektive Gedächtnis gebrannt hat, als Russland seinen blutigen Angriffskrieg begann. Van der Bellen sprach damals  in einer Videobotschaft von einem „schwarzen Tag“ für Europa, für den Frieden, aber vor allem für die Ukraine. Am Ende seiner Rede appellierte er auf Russisch und auf Ukrainisch: „Wir alle wollen in Frieden zusammenleben!“

Van der Bellen spricht nur einzelne Worte auf Russisch, auch wenn seine Familiengeschichte im heutigen Russland beginnt. Nach der Oktoberrevolution und mit der Machtübernahme durch Lenins Bolschewiken floh Van der Bellens Großvater mit seiner Familie 1919 nach Estland. Später suchten Van der Bellens Eltern zuerst Schutz in Wien – wo der spätere Bundespräsident 1944 geboren wurde – und dann im Tiroler Kaunertal. Moskau besuchte er als Bundespräsident nie, nach Kiew reiste er erstmals im Jahr 2018.

Nun, im Krieg, ist er wieder angereist. Der Marienpalast in der Hauptstadt noch stolz da: Außen mit türkiser Fassade, innen mit Marmorböden und Kristalllustern. In der Hauptstadt hat der Krieg, zumindest im Vergleich zu den zerstörten Vororten, oberflächlich weniger Spuren hinterlassen. An diesem Tag empfängt Selenskyj den österreichischen Kollegen in seinem Amtssitz. Bei einem gemeinsamen Auftritt bedankt sich Selenskyj für die humanitäre Hilfe aus Österreich. Aber er nutzt auch die Gelegenheit, um seine Wünsche zu adressieren.  Selenskyj  wisse, dass Österreich neutral sei und keine militärischen Güter liefern werde. Aber: „Österreich ist angehalten, intensiver und aktiver humanitäre Hilfe zu leisten.“ Er fordert Generatoren, aber auch Unterstützung bei der Entminung. Außerdem müsste Raiffeisen International, das Soldaten in Russland Kreditstundungen gewährt, die Aktivitäten im Land einstellen.

Van der Bellen bedankt sich für die „liebenswürdige Gastfreundschaft“ und verspricht weitere humanitäre Hilfe. 119 Millionen Euro flossen seit Kriegsbeginn in die Ukraine und in deren Nachbarländer. Auch Energieministerin Leonore Gewessler (Grüne) und Wirtschaftsminister Martin Kocher sind nach Kiew gereist, um Kooperationen zu schließen und zu vertiefen. Militärisches Gerät könnte Österreich aber nicht einmal schicken, wenn es die Neutralität erlauben würde. „Wir haben über Jahrzehnte die Ausrüstung und Aufrüstung derart vernachlässigt, dass ich nicht wüsste, welche Waffen wir liefern könnten“, sagt Van der Bellen, Oberbefehlshaber des Bundesheeres. 

Zuhause in Wien wird ein Wunsch Selenkyjs schnell abgewiesen, oder zumindest aufgeschoben: „Ich kann mir durchaus eine Unterstützung der Ukraine bei der Entminung durch unser Bundesheer vorstellen, allerdings erst nach Ende des Krieges“, richtet Verteidigungsministerin Klaudia Tanner von der ÖVP aus. „Alles andere würde dem Verfassungsrecht widersprechen.“ Die österreichische Neutralität würde es nicht erlauben, schon jetzt Experten in die Ukraine zu schicken. Auch bei der Drohnenabwehr könnte Österreich keine Hilfe anbieten. Einerseits, weil es neutral ist. Andererseits, weil es selbst nicht das nötige Material besitzt. 

Der vergangene 24. Februar hat Österreich auch in dieser Hinsicht aufschrecken lassen. Das Land könnte einer Aggression wohl nicht länger als zwei Tage standhalten – vor allem, wenn sie aus der Luft kommen würde. Van der Bellens militärischer Berater, sein Adjutant Thomas Starlinger, warnte schon in seiner Zeit als Verteidigungsminister der Beamtenregierung vor der Schutzlosigkeit Österreichs. Die Befehle des Bundespräsidenten, mehr Mittel zu investieren, wurde allerdings lange überhört. Erst im vergangenen Jahr hat sich die Regierung darauf geeinigt, das Budget massiv zu erhöhen. Nun muss sich das Ressort in einem überhitzten Rüstungsmarkt überlegen, welches Gerät für die Republik in Frage kommt. 

Durch den Ernst der Situation werden auch die Grenzen der Neutralität getestet: Die europäischen NATO-Staaten planen einen gemeinsamen Schutzschirm vor Raketen. Man sieht ein, dass sich einzelne Länder nicht gegen eine militärische Großmacht wehren könnten. Auch Österreich  will im „European Sky Shield“ Schutz bekommen. Die Pläne sind aber noch unausgereift. Die eigene Luftraumüberwachung muss die Republik jetzt aber ohnehin erst ausbauen. Bis es soweit ist, tut Österreich das, was es in den vergangenen Jahren gemacht hat: Hoffen, dass nichts Schlimmes passiert. 

Die Ukraine erwartet für den kommenden 24. Februar, ein Jahr nach Beginn des Krieges, heftige Attacken vom russischen Aggressor. Wer aber als nächstes wo in eine Offensive gehen kann, trauen sich Militärexperten nicht zu prognostizieren. Das hängt nicht nur von dem verfügbaren Gerät oder der Truppe ab, sondern auch von der Witterung. Nach dem Winter kommt die Schlammperiode, erklärt Bernhard Gruber vom österreichischen Bundesheer. Erst danach könnten sich die Soldaten wieder bewegen. Die Ukraine kann aber nur in die Offensive gehen, wenn sie weiter vom Westen unterstützt wird. Selenskyj machte bereits klar, was das für ihn bedeutet:  Zuerst waren es Kampfpanzer, bald sollen es Kampfflugzeuge sein.

Österreich konzentriert sich weiter auf die humanitäre Hilfe. Einer Geburtsklinik in Kiew werden noch Generatoren gebracht. Van der Bellen sagt am Ende des langen Tages, er sehe „keine Friedenstauben“ am Horizont. Österreich würde die Ukraine aber auch weiterhin unterstützen. Selenkyj hat er eine „Standing Invitation“ nach Wien ausgesprochen. Wenn der Krieg wieder vorbei ist.  

Zwischen Kriegsgebiet und Europäischer Union, am Grenzübergang von der Ukraine zur Slowakei, zündet sich Alexander Van der Bellen eine Zigarette an. 40 Stunden lang hat der Bundespräsident die Route verfolgt, die die ukrainischen Behörden vorgeschlagen haben: Sicher genug für den Besuch, um das Risiko so gering wie möglich zu halten. Aber deutlich genug, um den Schrecken des Krieges zu sehen. Bevor Van der Bellen in den Flieger steigt, der ihn zurück nach Wien bringen wird, sagt er: „Wenn man nur nach Kiew kommt, sieht man das gar nicht so recht. Man hat den Eindruck, das ist alles normal.“ Das sei es aber nicht, und das dürfe man nie vergessen: „Sie sind im Krieg.“

Iris Bonavida

Iris Bonavida

ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.