Wie die Rechtspopulisten das Europaparlament erobern wollen
Von Siobhán Geets
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Über dem Tor der alten Festung in Florenz weht ein blaues Banner: „Free Europe!“ („Befreit Europa!“), steht da in Großbuchstaben. Und darunter: „Arbeit, Sicherheit, gesunder Menschenverstand“. Auf den ersten Blick könnte man die in den EU-Farben Blau und Gelb gehaltene Botschaft für eine proeuropäische halten, doch das Logo von „Identität und Demokratie“ (ID), der Rechtsaußen-Fraktion im EU-Parlament, ist unübersehbar.
Im Inneren der Festung aus dem 16. Jahrhundert steht Italiens Vize-Regierungschef Matteo Salvini von der „Lega“ auf einer Bühne und spricht von einem „Tag, der in die Geschichte eingehen könnte“. Es ist Anfang Dezember 2023, und Salvini hat Europas Rechtspopulisten und Rechtsextreme nach Florenz geladen, um sie auf die Europawahlen im Juni einzuschwören. Gekommen sind rund 2000 Leute, Aktivisten und Politiker von zwölf Parteien, die meisten davon Italiener; aus Österreich ist Harald Vilimsky von der FPÖ dabei. Marine Le Pen ist per Video aus Paris zugeschaltet, auch Geert Wilders, der soeben die Wahlen in den Niederlanden gewonnen hat, begrüßt seine Gesinnungsfreunde über den riesigen Bildschirm hinter der Bühne.
Matteo Salvini, Lega
Der Vize-Premier Italiens und ehemalige EU-Abgeordnete will alle Rechtsparteien Europas in einer Fraktion vereinen. Salvini fällt regelmäßig mit extremen Positionen auf. So schlug er etwa eine Rassentrennung von Einwanderern und Italienern in Zugabteilen vor.
Die Veranstaltung ist so etwas wie der Wahlkampfauftakt der Rechten für die Europawahlen, die Themen sind die alten: Kampf gegen politische Korrektheit, Einwanderung, Klimaschutz und Verteidigung der traditionellen Familie.
Tino Chrupalla, Co-Vorsitzender der „Alternative für Deutschland“ (AfD), fordert ein Ende der Sanktionen gegen Russland und setzt sich für den Verbrennungsmotor ein. „Individualverkehr ist Freiheit!“, ruft er dem Publikum zu. Es gibt viele nickende Köpfe, widersprechen wird hier niemand.
Chrupallas AfD gehört, wie die meisten anderen hier vertretenen Parteien, zur ID-Fraktion im Europaparlament. Mit derzeit 60 Sitzen ist sie gerade einmal die sechststärkste Parteienfamilie, doch das soll sich nach den Wahlen ändern. Laut Umfragen könnte die ID fast 30 Sitze dazugewinnen (siehe Grafik) und damit künftig den dritten Platz nach Konservativen und Sozialdemokraten einnehmen. Die größten Zugewinne kommen aus Deutschland, wo die AfD bei Umfragen zur Europawahl mit 25 Prozent auf Platz zwei hinter der Union liegt, aus Italien sowie den Niederlanden.
In der ID sitzen Rechtsextreme und Rechtspopulisten aus acht Mitgliedstaaten, Salvinis Lega stellt mit 23 Abgeordneten die stärkste Fraktion, gefolgt von Marine Le Pens „Rassemblement National“ mit 18 Mitgliedern. Die AfD ist mit neun, die FPÖ mit drei Abgeordneten vertreten.
Doch die ID ist nicht die einzige Fraktion rechts der konservativen EVP im Europaparlament. Auch den „Europäischen Konservativen und Reformern“ (nicht zu verwechseln mit der EVP) werden Gewinne prognostiziert. In der EKR sitzen Rechtspopulisten, Rechtskonservative und Nationalisten aus 14 Mitgliedstaaten, die größte Partei ist die polnische PiS, gefolgt von den „Fratelli d’Italia“ der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni.
Giorgia Meloni, Fratelli d’Italia
Mehr als ein Jahr ist Meloni Regierungschefin Italiens, und noch immer ist unklar, ob sie sich von den postfaschistischen Wurzeln ihrer „Fratelli d’Italia“ distanzieren will. Ihre Positionen: gegen „Genderwahn“, Multikulti und Kopftuch.
Die Postfaschisten werden laut Prognosen in der EKR für den größten Zuwachs sorgen – von derzeit 67 auf 78 Abgeordnete.
Alle Rechten unter einem Dach?
Zusammengenommen könnten die beiden Rechtsfraktionen den zweiten Platz hinter Europas Konservativen (EVP) einnehmen. Käme dann auch noch die ungarische „Fidesz“ von Viktor Orbán dazu, könnten die Rechten sogar auf dem ersten Platz landen – und Anspruch auf die höchsten Posten in der EU stellen. Die Fidesz war mit ihren elf Abgeordneten bis 2021 Teil der EVP und ist seit ihrem Austritt fraktionslos. Doch nach den Wahlen wird es Verhandlungen darüber geben, welche Partei welcher Fraktion beitritt. Und Orbán hat immer wieder versucht, ID und EKR zusammenzuführen.
Viktor Orbán, Fidesz
Medien einschränken, Rechtsstaat abbauen: Orbán hat in Ungarn vorgemacht, wovon andere Rechte träumen. Seine zwölf Fidesz-Abgeordneten im EU-Parlament suchen noch nach einer passenden Fraktion.
Das liegt daran, dass die Parteienfamilien im Europaparlament ausschlaggebend sind: Je größer die Fraktion, desto stärker ihr Einfluss. Die Zahl der Abgeordneten bestimmt darüber, wie viel Geld, Redezeit und mächtige Posten den Fraktionen zugesprochen werden. Die Größe der Fraktion bestimmt auch die Anzahl der Berichterstatter, die Gesetzgebungsprozesse inhaltlich aktiv beeinflussen können. Das ist der Grund, wieso EVP-Chef Manfred Weber zuletzt aktiv um Giorgia Melonis Fratelli d’Italia buhlte – und sich damit den Zorn seiner konservativen Fraktion einhandelte, in der es viele Gegner ihrer Mitgliedschaft in der EVP gibt.
Und es ist auch der Grund für die Versuche Orbáns und anderer Rechtspopulisten, alle Parteien, die rechts der Christdemokraten stehen, zu vereinen. Das Treffen im Dezember in Florenz war nicht der erste von Salvini initiierte Versuch, Europas Rechte unter ein Dach zu bringen. Von einer „neuen Ära“ und einem „Ende der Besatzung durch Brüssel“ war seit 2005 bei etlichen Veranstaltungen die Rede.
Marine Le Pen, Rassemblement National
Drei Mal war Marine Le Pen Präsidentschaftskandidatin des „Rassemblement National“, jedes Mal ist sie einem Sieg näher gekommen. Von 2004 bis 2017 war Le Pen EU-Abgeordnete, seither sitzt sie in der französischen Nationalversammlung.
Mit der Schaffung einer einzigen rechten Fraktion, so der Traum der Rechten, kann der Umbau der EU gelingen – ausgerechnet vom Europaparlament aus, das es aus ihrer Sicht gar nicht geben sollte.
Im Kern soll in Brüssel gelingen, was in einigen Nationalstaaten längst Realität ist: Der Wind weht von rechts. Erfolgreiche Rechtspopulisten gibt es mittlerweile in jedem großen EU-Land. In Ungarn hat Viktor Orbán den Rechtsstaat abgebaut und das Land in eine illiberale Demokratie verwandelt. Italien hat mit Giorgia Meloni eine Regierungschefin, von der man auch im zweiten Jahr nach ihrem Amtsantritt nicht weiß, wie weit sie sich von den Wurzeln ihrer postfaschistischen Partei entfernen will. In Frankreich hat Marine Le Pen von einer Präsidentschaftswahl zur nächsten stets dazugewonnen, aktuell liegt sie auf Platz eins. In Österreich führt die FPÖ die Umfragen für die Nationalratswahlen im Herbst seit einem Jahr an, und in Deutschland liegt die AfD bei Umfragen zu den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg in allen drei Bundesländern an der Spitze.
Alice Weidel, AfD
Die AfD-Kanzlerkandidatin und Vorsitzende der AfD im Bundestag war Wirtschaftsmanagerin, bevor sie in die Politik wechselte. Seither tritt Weidel gegen Ausländer und eine offene Gesellschaft ein, obwohl sie mit einer gebürtigen Asiatin in einer lesbischen Beziehung lebt.
In Finnland sitzen die „Wahren Finnen“ in der Regierung, in Schweden unterstützen die „Schwedendemokraten“ die Minderheitsregierung aus Konservativen und Liberalen.
Entkernte EU als Ziel
Mehr Macht für die Nationalstaaten, ein harter Kurs in der Migration und große Skepsis bis Feindschaft gegenüber allem, was aus Brüssel kommt – so lässt sich der Ideenkatalog von Europas Rechten zusammenfassen. Vom EU-Austritt spricht spätestens seit dem Brexit niemand mehr, vielmehr soll die EU von innen heraus verändert – und entmachtet – werden.
Doch die Differenzen wiegen schwer, denn der Nationalismus des einen lässt sich mit jenem des anderen oft nicht vereinbaren. Das „wahre Volk“, das es vor Ausländern oder vor den „Systemmedien“ zu beschützen gilt, ist eben in jedem Land ein anderes.
Und so verteidigt Wilders in den säkularen Niederlanden die sexuelle Freiheit, während die PiS im tiefkatholischen Polen gegen die Gleichstellung Homosexueller kämpft. Dass Wilders im Wahlkampf anti-italienische Slogans plakatieren ließ („Kein Cent für Italien!“), dürfte wiederum Meloni missfallen haben. Gemeinsame Feindbilder mögen Rechte einen; sie können aber auch spalten, wenn sie den Falschen treffen.
Geert Wilders, PVV
Der Chef der „Partei für die Freiheit“ hat eben die Wahlen in den Niederlanden gewonnen. Wilders wettert seit Jahren gegen die EU, Ausländer, Klimaschutz und den Islam. So forderte er eine Steuer für Kopftuch-trägerinnen und verglich den Koran mit
Hitlers „Mein Kampf“.
Besonders hinderlich für die Bildung einer einzigen, großen Rechtsfraktion sind die Differenzen im Umgang mit Russland. Während die stärksten Parteien in der EKR, Italiens Fratelli d’Italia und Polens PiS, hinter der Ukraine stehen, haben andere Rechtspopulisten, allen voran Orbán in Ungarn, gute Kontakte nach Moskau.
Dass Europas Rechte es bisher nicht geschafft haben, eine einheitliche Front zu bilden, liegt auch an internen Machtkämpfen. „Alle wollen Alphamännchen oder Alphaweibchen sein“, so hat es der frühere FPÖ-Ideologe Andreas Mölzer einmal gegenüber profil beschrieben.
Machtpolitische Streitereien und inhaltliche Differenzen machen einen Zusammenschluss von Europas Rechten unwahrscheinlich. Erstarken werden sie aber laut Umfragen jedenfalls – und das auf Kosten aller Fraktionen. Die großen Verlierer sind Grüne und Liberale, die wohl jeweils Dutzende Sitze abgeben müssen.
Die Macht der Nationalstaaten
Mit etwas Optimismus kann man die Umfrageergebnisse aber auch so sehen: Die Mehrheit bleibt selbst mit den hohen Zugewinnen der Rechten proeuropäisch. Zusammen kommen Konservative (EVP), Sozialdemokraten (S&D) und Liberale (Renew) auf eine komfortable Mehrheit von 395 von 705 Sitzen – und das Europaparlament bleibt handlungsfähig.
Weil es keine fixe Koalition gibt, sondern wechselnde Mehrheiten, könnte sich die EVP allerdings künftig häufiger mit den Rechtsfraktionen verbünden. Zuletzt war das etwa beim Widerstand gegen den Green Deal der Fall, dessen Pestizidverordnung an einer Koalition aus Rechten und Konservativen scheiterte.
Das EU-Parlament wird weiterhin für Europa arbeiten, und das muss es auch: Die Mehrheit von EVP, S&D und Renew unterstützte nach den Wahlen von 2019 die Kommission von Ursula von der Leyen, die seither in Brüssel den Ton angibt.
Harald Vilimsky, FPÖ
Der Leiter der FPÖ-Delegation im EU-Parlament wird auch bei den kommenden Wahlen wieder Spitzenkandidat seiner Partei sein. Vilimsky ist seit 2014 EU-Abgeordneter. Der frühere Generalsekretär der FPÖ will die Ukraine-Hilfen einstellen.
Eigentlich hätte nach den Wahlen von 2019 das sogenannte System der Spitzenkandidaten zum Zug kommen sollen. Es sieht vor, dass der Chef der stimmenstärksten Fraktion Präsident der Europäischen Kommission wird. Das war der Deutsche Manfred Weber, dessen konservative EVP die Wahlen gewonnen hatte. Doch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron funkte dazwischen, und am Ende waren es wieder die Staats- und Regierungschefs, die sich im Hinterzimmer auf jemand anderen einigten: Ursula von der Leyen.
Wo wir wieder bei der Macht der Nationalstaaten wären, die Europas Rechte weiter stärken wollen. Zwar muss das Europaparlament Gesetzen zustimmen und hat das Recht, die Kommissare zu bestätigen oder abzulehnen. Aber das Parlament hat kein Initiativrecht; Gesetze vorschlagen kann allein die EU-Kommission.
Doch es sind die Regierungen in den Mitgliedstaaten, die Kommissare nominieren und sich am Ende auf einen Kommissionschef einigen müssen. Von den fünf größten EU-Ländern (Deutschland, Frankreich, Spanien, Polen, Italien) werden zwei von Sozialdemokraten geführt (Deutschland, Spanien), je eines von Liberalen (Frankreich) und Konservativen (Polen) und nur eines von Rechten (Italien).
Maximilian Krah, AfD
Der Spitzenkandidat der AfD für die Europawahl 2024 will die „freiheitsfeindliche EU“ in einen „Bund der Vaterländer“ transformieren. Krah hat gute Verbindungen ins rechtsextreme Milieu. Bis 2016 war er Mitglied der CDU.
Am Ende haben in der EU immer noch die Nationalstaaten das Sagen, das wissen auch Europas Rechtspopulisten. Ihnen geht es in erster Linie darum, in Regierungen einzuziehen, damit sie im Rat der Staats- und Regierungschefs mitentscheiden – und blockieren – können.
Auf dem Weg der Rechten an die Macht mag das Europäische Parlament lediglich ein strategisches Zwischenziel sein. Und selbst der zweite Platz für Europas Rechtspopulisten und Rechtsextreme im Abgeordnetenhaus wird nicht das Ende der EU einläuten. Doch das Machtgefüge wird sich mit deutlichen Gewinnen für Rechte und Rechtsextreme verschieben. Bisher haben Sozialdemokraten und Konservative die Besetzung wichtiger Posten durch Abgeordnete der ID verhindert. Doch als drittstärkste Fraktion ließen sich die Rechtsaußen-Parteien nicht mehr ausgrenzen. Gut möglich, dass ein Vizepräsident des Europaparlaments künftig Harald Vilimsky heißt oder Marco Zanni, Lega-Politiker und Vorsitzender der ID-Fraktion.
Europas Rechte könnten in Brüssel ordentlich Sand ins Getriebe kippen.
Siobhán Geets
ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.