Wie Gorbatschow dem 20.Jahrhundert ein Happy End bescherte - und was danach geschah
Als Russlands Staatspräsident Wladimir Putin am vergangenen Donnerstag in der Moskauer Zentralklinik am offenen Sarg von Michail Sergejewitsch Gorbatschow einen Strauß Blumen niederlegte und kurz innehielt, trafen zwei Epochen aufeinander. Die Gegenwart, in Person des diktatorisch regierenden Putin, der Repression und Krieg als Mittel zum Machterhalt nach innen und außen einsetzt und der in Russland demokratische Restbestände eliminiert – und die Vergangenheit oder vielmehr ein sehr kurzer Ausschnitt, gerade einmal sechs Jahre, in denen auf ebenso unglaubliche wie chaotische Weise das totalitäre System der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten zerbrach und geopolitisches Tauwetter herrschte, der Erfolg des Mannes im Sarg, Michail Gorbatschow.
Er sei am Ende gescheitert, sagt man gern über Gorbatschow, aber wer wie er die größte politische Aufgabe in Angriff nimmt, die zu seiner Zeit denkbar war, dessen Teilerfolge überragen die Vermächtnisse der allermeisten Staatsführer. Allein das Jahr 1989, dessen Ereignisse untrennbar mit Gorbatschow verknüpft sind, brachte im Eiltempo demokratische Staaten hervor: Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Bulgarien, Rumänien. Und in Berlin fiel die Mauer.
Was zeichnete den Mann, der diesen Umsturz ausgelöst hatte, aus?
Er wuchs in einem totalitären System auf und erkannte es als falsch.
Michail Gorbatschow wurde am 2. März 1931 in dem Dorf Priwolnoje im Nordkaukasus als Sohn einer Bauernfamilie geboren. Alles an seiner Sozialisierung war sowjetisch. Die Eltern arbeiteten in einer Kolchose, die sein Großvater mütterlicherseits leitete; der Vater erhielt für Ernteerfolge den Leninorden, Michail war Mitglied in der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol. Doch die Familie war auch vom stalinistischen Terror betroffen. Beide Großväter wurden in den 1930er-Jahren verhaftet. William Taubman, Autor der maßgeblichen Biografie „Gorbatschow – Der Mann und seine Zeit“, zitiert Gorbatschow: „Ich weiß noch, wie die Nachbarn nach der Verhaftung unser Haus mieden, als ob wir die Pest hätten. (…) All das schockierte mich und ist mir mein Leben lang im Gedächtnis geblieben.“
Gorbatschow machte dennoch unbeirrt Karriere in der Partei und schärfte gleichzeitig sein Sensorium für die Missstände des Systems. Als er 1985 an die Macht kam, wollte er den Kommunismus verbessern, ihn von seinen diktatorischen Elementen befreien und demokratisieren, dazu die Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft verwandeln und den Kalten Krieg mit den USA beenden, um die erdrückenden Rüstungsausgaben zu senken.
Der Karrierepolitiker ließ sich weder durch höhere Weihen noch durch persönliche Beziehungen von seiner Überzeugung abbringen, dass „wir so nicht weiterleben können“, wie er zu seinem späteren Außenminister Eduard Schewerdnadse sagte.
Er tauschte die Breschnew-Doktrin gegen die Sinatra-Doktrin. Und nicht nur das.
Leonid Breschnew, Gorbatschows Vorvorvorgänger als Generalsekretär der KPdSU, hatte 1968 die nach ihm benannte Doktrin verkündet, dergemäß die Souveränität einzelner Staaten „den Interessen und der Sicherheit des gesamten sozialistischen Systems“ untergeordnet seien. Mit einem Wort: Moskau hatte das Recht, notfalls mit militärischer Gewalt einzuschreiten, wenn sich in einem Bruderstaat Widerstand – etwa der einer Demokratiebewegung – regte.
1989 sagte Gorbatschows Sprecher: „Ich denke, die Breschnew-Doktrin ist tot.“ Diese Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den Staaten des Ostblocks. Weil die neue, nicht ausformulierte Doktrin es jedem Staat selbst überließ, einen Deal mit dem Volk auszuhandeln, wurde sie bald „Sinatra-Doktrin“ genannt, als Anspielung auf Frank Sinatras berühmtestes Lied „I Did It My Way“.
Als die Völker Osteuropas sich ihrer kommunistischen Regime entledigten, blieb Gorbatschow wie versprochen untätig.
Gorbatschows Prinzip „Glasnost“, Transparenz, Offenheit, konnte sich auch gegen ihn selbst richten. Bei der 1.-Mai-Feier 1990 am Roten Platz fand eine Gegendemonstration statt, Gorbatschow wurde ausgepfiffen. Der Reformer verstieß auch selbst gegen seine Grundsätze, als er versuchte, Staaten des Baltikums und des Kaukasus mit Gewalt im Verband der Sowjetunion zu halten. In späteren Interviews bekannte Gorbatschow dies als Fehler ein.
Doch der Wind wehte in diesen Jahren in Richtung Freiheit. Das 20. Jahrhundert überraschte mit einem Happy End, und Gorbatschow war selbst in der vorsichtigsten Interpretation dessen Katalysator.
Er ging auf den – vermeintlichen – Feind, den Westen, zu.
Die Sowjetunion stand wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand, und das Wettrüsten und auch der Krieg in Afghanistan fraßen die knappen Ressourcen auf. Das war der prosaische Grund für Gorbatschows Friedens- und Abrüstungsinitiativen. Zumindest in den Augen der westlichen Öffentlichkeit gelang es ihm dabei, nicht als gedemütigter Bittsteller aufzutreten, sondern als Darling der Medien. „Gorbi“ und seine Ehefrau Raissa veränderten das Bild der Sowjetunion. Nach den scheintoten Figuren der jüngeren Vergangenheit wirkte das Paar wie von Hollywood gecastet.
Man mag einwenden, dass Gorbis Friedensbotschaft handfeste Gründe hatte und er ein Getriebener ökonomischer Zwänge war – doch die Gegenwart lehrt uns, dass ein Führer im Kreml auch die Möglichkeit hat, Kriegslüsternheit und eine Ideologie nationalistischer Großmannssucht über alles zu stellen. Das jedenfalls war Gorbatschow fremd.
Was danach geschah.
Nach sechs Jahren im Amt war für Gorbatschow Schluss. Die Wirtschaftsreformen hatten der Bevölkerung keinen Wohlstand gebracht – was bei einem kompletten Systemwechsel in einem so großen Land und in so kurzer Zeit nicht besonders überrascht –, Widersacher wagten einen Putschversuch, danach stach der populistische Boris Jelzin Gorbatschow aus.
Der trat zurück, auch dies ein Vorgang, den es in der Sowjetunion bis dahin nicht gegeben hatte. Nicht einmal ein Jahrzehnt später kam ein Mann an die Macht, der alles, wofür Gorbatschow stand, in sein grausames Gegenteil verkehrte (und damit nebenbei noch deutlicher machte, worin dessen Größe lag).
Darin erweist sich Gorbatschows größter Irrtum: Kurz vor seinem Rücktritt äußerte er gegenüber der „New York Times“ eine kühne Prognose: „Bei allen Fehlern und Fehleinschätzungen – und, auf der Gegenseite: bei allen großen Sprüngen nach vorwärts – wir haben die wesentliche politische und menschliche Vorarbeit vollbracht. In diesem Sinn wird es nicht möglich sein, die Gesellschaft zurückzudrehen.“
Wladimir Putin, seit 2000 an der Macht, beweist das Gegenteil. Altkanzler Franz Vranitzy bedauert im profil-Gespräch: „Diese Kräfte waren am Ende stärker als der liberale, westlich orientierte, demokratiebegeisterte Michail Gorbatschow.“