Warteschlange vor einer Bank nach dem Sieg der Taliban in Kabul

Wie ich meinem Cousin Geld nach Afghanistan schicke

Seit der Machtübernahme der Taliban kann profil-Autor Emran Feroz seiner Familie in Afghanistan nur noch über ein ausgeklügeltes Finanzsystem Geld zukommen lassen. Die Überweisung beginnt in einem Innsbrucker Plattenbau.

Drucken

Schriftgröße

Ich stehe vor einem unauffälligen Plattenbau am Rande Innsbrucks und schaue mich um. Der kalte Februartag lässt das graue Gebäude mit den kahlen Wänden und kleinen Balkonen noch trister wirken. In der Nähe führt eine stark befahrene Straße Richtung Osten, es gibt einen Supermarkt und ein Wettbüro. Menschen sind heute kaum unterwegs. Ich greife zum Handy und wähle eine Nummer, die mir ein Freund gegeben hat. "Salam, ich bin's. Du weißt ja Bescheid. Wo bist du?",frage ich. "Ich bin gleich da, wir können dann hochgehen", antwortet der Mann am Telefon. Um seine Identität zu schützen, will ich ihn hier "Ali" nennen. Zwei Tage zuvor hatte mich mein Cousin aus Afghanistan angerufen. Er hatte Geldsorgen-und er schämte sich dafür. Ich versprach, dass ich seine Probleme lösen würde.

Seit der Rückkehr der Taliban im vergangenen Sommer wird Afghanistan von einer humanitären Katastrophe heimgesucht. Grund dafür ist auch die Wirtschaftskrise, die seit dem Abzug der USA und ihrer Verbündeten anhält. Die Biden-Administration hat nämlich nicht nur die jährlichen Hilfszahlungen gestrichen, sondern auch die afghanischen Devisenreserven in Milliardenhöhe einfrieren lassen, um das neue, radikal-islamistische Regime der Taliban in Kabul zu sanktionieren. Viele Afghanen sehen dieses Vorgehen als eine Art Kollektivstrafe, weil man in Washington mit dem Kriegsausgang-oder besser gesagt: der Niederlage am Hindukusch-nicht zufrieden ist. Doch die Sanktionen treffen in erster Linie Millionen von Afghaninnen und Afghanen, die bereits vor der Rückkehr der Extremisten an Krieg und Armut gelitten haben.

Der vergangene Winter gehörte zu den schwersten, die das Land in den letzten Jahrzehnten erlebt hat. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem meiner Cousins. Die Familie könne sich das Holz zum Heizen nicht mehr leisten, meinte er. Ich war schockiert, denn meine Verwandten gehören eigentlich zur kleinen urbanen Mittelschicht, die sich in Afghanistan etabliert hat. Damit war es nun vorbei, in diesem Winter mussten auch sie frieren. Ich machte mich auf den Weg in den Plattenbau, um meiner Familie Bargeld zu schicken.

Das ist in Afghanistan zuletzt äußerst knapp geworden. Während die Landeswährung Afghani massiv an Wert verlor, schossen die Nahrungs-und Rohstoffpreise in die Höhe. Ein Laib Brot kostete plötzlich das Doppelte-oder war nur noch halb so groß. Der Benzinpreis lag umgerechnet bei fast einem Dollar pro Liter. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung hat täglich nicht mehr zur Verfügung als diesen Betrag.

"Wer keine Verwandten im Ausland hat, ist verloren",sagte mir im März ein Händler in Kabul. Auch mir fiel auf, wie sehr die Armut im Land innerhalb kürzester Zeit gestiegen war. Bettler und Tagelöhner sind omnipräsent, während selbst jene, die bisher irgendwie über die Runden kamen, auf subtilere Art und Weise um Geld bitten. Ich wusste sofort, wovon der Händler sprach, denn ohne die afghanische Diaspora, die zu den weltweit größten gehört, könnte das Land nicht überleben.

Es ist ein äußerst schlechtes Zeugnis für den westlichen Einsatz der letzten 20 Jahre: Trotz Hunderten von Milliarden, die in das Land investiert wurden, konnte kein funktionierendes Wirtschaftssystem aufgebaut werden. Das meiste Geld wurde von korrupten Warlords, Generälen und Politikern verschlungen, die sich längst ins Ausland abgesetzt haben.

Die Fehler der vergangenen Jahre müssen nun auch Menschen wie meine Familie ausbaden. Wir haben viele Verwandte in Kabul und anderen Landesteilen, die wir finanziell unterstützen. Und wir sind bei Weitem keine Ausnahme: Es gibt fast keinen Afghanen im Ausland, auf den das nicht zutrifft. Doch wegen der Wirtschaftskrise und der Sanktionen gestaltete sich der Geldversand in den vergangenen Monaten äußerst schwierig. Klassische Banküberweisungen waren auch in den letzten Jahren kaum möglich, unter anderem, weil die allermeisten Menschen kein Konto besaßen und führende afghanische Banken regelmäßig mit Korruptionsskandalen für Aufsehen sorgten. Auch Geldtransferinstitutionen wie Moneygram und Western Union funktionierten nur begrenzt. Dass es sie überhaupt gibt, ist ein großer Fortschritt. Ich erinnere mich daran, wie meine Eltern in den 1990er-Jahren Geld nach Afghanistan schickten-nämlich per Post über Pakistan.

Dort, etwa in Peschawar, wo bis heute zahlreiche afghanische Geflüchtete leben, kam dann ein Finanzsystem ins Spiel, das es heute auch in Hamburg, London, Wien und eben sogar in meiner Heimatstadt Innsbruck gibt. Es nennt sich "Hawala" (arabisch so viel wie "überweisen" oder "wechseln").

Hawala ist ein Vertrauensnetzwerk, in dem Transaktionen ausschließlich mit Bargeld erfolgen. Sie werden meist in kleinen Supermärkten, Internetcafés oder in privaten Wohnungen wie jener von Ali in Innsbruck abgewickelt. Mehr als ein halbes Dutzend Mal habe ich seit vergangenem Winter auf diese Weise Geld überwiesen. Für Hawaladar wie Ali ist es ein gutes Geschäft. Ali ist eigentlich im Exportgeschäft tätig. Mit den Überweisungen verdient er nebenher zusätzliches Geld, von dem das Finanzamt nichts weiß. Alis Kontaktmann sitzt im Sarai Shahzada, Kabuls Finanzzentrum, in dem meist Muslime, Sikhs und Hindus an ihren Schreibtischen und Schaltern mit dem Zählen von Bargeld beschäftigt sind. Der Kontaktmann zahlt das Geld nach Überprüfung der Personalien direkt an die Empfänger aus. In der Praxis läuft das so: Ich bringe das Bargeld für meinen Cousin zu Ali in den Innsbrucker Plattenbau. Ali überprüft die Identität des Empfängers, meist zeige ich ihm dafür eine Kopie des Reisepasses oder der Tazkira (Geburtsurkunde) meines Cousins oder anderer Familienmitglieder. Wenige Minuten später erhält der Kontaktmann in Kabul die Aufforderung zur Auszahlung. Dank WhatsApp und der Technologie des 21. Jahrhunderts ist all das innerhalb weniger Minuten erledigt. Ich verlasse Alis Wohnung mit einem Gefühl der Erleichterung.

Fast 5000 Kilometer weiter südöstlich kann mein Cousin nun Alis Kontaktmann aufsuchen, um das Geld entgegenzunehmen. Dazu muss er den Zifferncode vorweisen, den ich von Ali erhalten und meinem Cousin geschickt habe. Nach der Auszahlung schuldet Ali seinem Kontaktmann den jeweiligen Betrag. Diese Schulden werden entweder durch weitere Transaktionen beglichen oder durch Warenlieferungen, Dienstleistungen oder auch Wertgegenstände. Wie viele andere Hawaladars verfügt Ali über eine beträchtliche Summe an Bargeld, das von Kontaktmännern vor Ort in Kabul verwaltet wird. Dasselbe kann auch bei Immobilien und Ländereien der Fall sein. In Afghanistan ist Hawala oft ein lukratives Familiengeschäft, das seit Generationen betrieben wird.

Das Hawala-System ist in vielen westlichen Staaten illegal und wird auch zur Geldwäsche genutzt. Doch aus dem Alltag vieler Afghanen ist es, ähnlich wie in anderen Ländern, in denen es kein funktionierendes Bankwesen gibt, seit Langem nicht mehr wegzudenken. Ohne Hawala hätte ich meinem Cousin und anderen Verwandten in Kabul in den vergangenen Monaten kaum Geld schicken können.

Natürlich profitieren die Hawaladars von der gegenwärtigen Krise. Als ich Ali das letzte Mal aufsuchte und ihm 2000 Euro übergab, berechnete er eine Gebühr von 70 Euro. Sein Kollege in Kabul drückte den Umrechnungskurs runter, sodass auch er am Ende fast 50 Euro Profit machte. "Das ist normal, vor allem in diesen Zeiten",sagte mein Cousin, als ich mich nach dem Geldempfang erkundigte.

Daran wird sich auch in naher Zukunft nichts ändern. Mit den Taliban an der Macht droht Afghanistan erneut eine Isolation wie in den späten 1990er-Jahren. Obwohl im vergangenen August im Zuge ihrer Rückkehr einige Beobachter von "moderaten" oder "reformierten" Extremisten sprachen, fehlt von vergleichsweise progressiven Kräften innerhalb der Taliban nach wie vor jede Spur. Der Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada gilt als Hardliner. Akhundzada verweilt in der südlichen Stadt Kandahar, dem erneut etablierten Zentrum der Taliban, und versteckt sich vor der Öffentlichkeit. Die meisten Menschen kennen ihn nur von einem Foto. Jene Taliban-Köpfe, die sich in den letzten Jahren Journalisten stellten oder an den Verhandlungen mit den Amerikanern im Golfemirat Katar beteiligt waren, sind mittlerweile in den Hintergrund gerückt. Zwar fungierten sie als Sprecher auf der internationalen Bühne, doch innerhalb der Taliban-Hierarchie haben sie, ähnlich wie die zahlreichen jungen Mitglieder, die sich den Extremisten in den vergangenen zwei Jahrzehnten angeschlossen haben, keinerlei Einfluss. Die Macht liegt weiter in den Händen der alten Führungsgarde.

Wie diese denkt, machten die jüngsten Entscheidungen des Regimes deutlich. Schülerinnen wird seit August der Gang in die Oberstufe (7. bis 12. Klasse) verwehrt. Eine für März angekündigte Öffnung wurde unter Scheinvorwänden rückgängig gemacht. Selbst innerhalb der Taliban wurden deshalb erstmals klare Spannungen deutlich, doch am Ende konnte sich niemand gegen die Führung durchsetzen. "Diese Art der Politik wird uns ins Verderben stürzen. Die Taliban treffen täglich Entscheidungen, die Millionen von Menschen schaden und unser Land zunehmend isolieren",sagte Jawed Farhad, ein Journalist und Universitätsprofessor aus Kabul, als ich im März in seinem Wohnzimmer saß. Der Raum wirkte trist und leer, und Farhad selbst sah nicht besser aus. Den üblichen feinen Anzug hatte er gegen ein T-Shirt und eine ausgebeulte Jogginghose getauscht.

Während Farhad Grüntee trank und Kette rauchte, erzählte er von seinem persönlichen Absturz seit der Rückkehr der Taliban. Einst führte er einen Fernsehsender und bildete an der Universität Journalisten aus. Mittlerweile ist er arbeitslos, unter anderem, weil die ausländischen Gelder für seinen Sender nicht mehr fließen. Im Winter war er gezwungen, seine Bibliothek zu verkaufen, um über die Runden zu kommen.

Nach einem Facebook-Video, in dem er seine prekäre Situation beschrieb, erreichten ihn einige Spenden aus dem Ausland-über das Hawala-System. "Ohne sie würden ich und meine Familie auf der Straße leben",sagt Farhad. Eine Zukunft in Afghanistan kann er sich nicht vorstellen. Die neuen Machthaber seien fanatische Extremisten, die von moderner Staatsführung keine Ahnung hätten. Außerdem seien sie gegen die Presse-und Meinungsfreiheit und gingen gegen Intellektuelle und Dissidenten vor. "Ich bin ein liberaler Demokrat und werde deshalb von ihnen bedroht",so Farhad. In den vergangenen Monaten hat er zwei Angriffe überlebt. Einmal wurde auf sein Auto geschossen, einmal auf das Fenster seiner Wohnung. Mittlerweile geht der ehemalige Professor kaum noch nach draußen. Er hofft auf ein Wunder.

Dasselbe gilt für meinen Cousin in Kabul. Er hat jahrelang als Ingenieur gearbeitet, jetzt ist er arbeitslos. Bald werde ich dem Innsbrucker Plattenbau wieder einen Besuch abstatten.

EMRAN FEROZ

geboren 1991 in Innsbruck, ist ein austro-afghanischer Journalist und Buchautor. Feroz berichtet regelmäßig für zahlreiche deutsch-und englischsprachige Medien, darunter profil, aus Afghanistan. Sein Buch "Der längste Krieg: 20 Jahre War on Terror" (Westend Verlag, 224 Seiten, 18 Euro) erschien im September 2021 und schaffte es auf die "Spiegel"-Bestsellerliste.