Mitrovica ist eine Stadt im Norden des Kosovo. Sie wird durch den Ibar in einen nördlichen, vorwiegend serbischsprachigen Teil (Nord-Mitrovica) und einen südlichen, vorwiegend albanischsprachigen Teil gespalten. Auch administrativ gehören diese zwei Stadthälften seit 2008 zu unterschiedlichen Gemeinden: Der größere Süden ist Teil der Gemeinde Mitrovica e Jugut, währenddessen der Norden die Gemeinde Severna Kosovska Mitrovica bildet. Die Stadt ist jeweils Verwaltungssitz dieser beiden Gemeinden und zudem der Sitz des Bezirkes Mitrovica.
Krieg in der Ukraine

Wie Putin eine Stadt auf dem Balkan spaltet

Der Krieg in der Ukraine eint die Europäische Union, aber er spaltet die Stadt Mitrovica im Kosovo. Im albanischen Süden wird Putin als Aggressor wahrgenommen, im serbischen Norden als Protektor.

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Die Kleinstadt Zvečan hat zwei Männer zu Ehrenbürgern ernannt, die zuletzt beide in Verruf geraten sind. Einer hängt mitten im Stadtzentrum, auf einem verblichenen Plakat mit kyrillischen Lettern und hält einen Tennisschläger in die Luft. Sein Urgroßvater, so erzählen die Stadtbewohner voller Stolz, zog in den 1930er Jahren von Montenegro hierher in den Kosovo, um in der nahegelegenen Mine zu arbeiten, damals eine der größten auf dem Balkan. Er bekam einen Sohn und später einen Enkel: Novak Djoković, bis vor kurzem Weltranglistenerster im Tennis.

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Vom zweiten Ehrenbürger hängt ein Foto im Gemeindeamt, und bis vor wenigen Monaten prostete er den Stadtbewohnern mit einem Glas Vodka von einer Häuserwand zu. Das Graffiti ist mittlerweile verschwunden, aber die Bewunderung für den Geehrten ist ungebrochen: Wladimir Putin.

Zvečan, in der Zeit Jugoslawiens eine multiethnische Industriestadt, liegt im äußersten Norden des Kosovo und ist überwiegend von Serben bewohnt. Die Menschen bezahlen mit dem Dinar und wer es sich leisten kann geht zum Studium nach Belgrad. Englisch spricht hier so gut wie niemand, aber ein Taxifahrer mit Zigarette im Mundwinkel versucht es trotzdem: „Putin is a strong man.“

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Früher arbeiteten Serben und Albaner gemeinsam in der nahegelegenen Mine und der jugoslawische Präsident Tito ließ auf einem Hügel ein Denkmal zu Ehren ihrer Brüderlichkeit errichten. Dann begann der Krieg. Heute leben Serben und Albaner in zwei getrennten Welten, nur scheinbar verbunden durch eine Brücke über den Fluss Ibar.

Von Zvečan, der Stadt, die Putin zum Ehrenbürger ernannt hat, sind es nur zwei Kilometer bis zu dieser Brücke. Man folgt einer von serbischen Flaggen gesäumten Hauptstraße, die nach Mitrovica führt, eine Stadt, die in einen albanischen Süden und einen serbischen Norden geteilt ist. Der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, dass die Stadtviertel nicht zusammengewachsen sind, sondern ganz im Gegenteil, dass Welten dazwischen liegen.

„Die EU hat zehn Millionen Euro in diese Brücke gesteckt“, ärgert sich Veroljub Petronić, aber das „hat die beiden Seiten auch nicht näher zusammengebracht“. Insbesondere die jungen Leute wüssten heute fast gar nichts mehr übereinander und sprächen nicht mehr dieselbe Sprache. Veroljub Petronić verschwindet in einem Nebenkämmerchen seines holzvertäfelten Büros und kommt mit einer Flasche Obstbrand wieder. Während er ihn in große Gläser schenkt, will er etwas klarstellen: Er wolle auf keinen Fall als russlandfreundlich wahrgenommen werden. „Der Großteil hier will keine Konflikte“, sagt er, „wir erinnern uns noch zu gut an unseren eigenen Krieg.“ Sanktionen gegen Russland findet Petronić trotzdem keine gute Idee. Das mache „keinen Sinn“, nicht nur aus ökonomischen Gründen: „Russland hat uns nie bombardiert, sondern die USA. Serbien hat von Russland viel Unterstützung bekommen. Wie soll man ein Land sanktionieren, das einem so oft geholfen hat?“

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Im Büro von Petronić ist die Uhr an der Wand stehen geblieben. Es ist immer sieben Minuten nach Acht, ein Sinnbild für den eingefrorenen Konflikt vor der Haustüre. Nördlich der Brücke sehen viele den Kosovo als territorialen Bestandteil Serbiens an. Damit lässt sich auch die Popularität Putins erklären. Viele sind dem russischen Präsidenten dankbar, weil er die Nato-Bombardements gegen Serbien in den Neunzigerjahren nicht akzeptiert hat und bis heute die Aufnahme des Kosovo in die UNO blockiert. Im Stadtzentrum ist eine Wandmalerei angebracht. Sie zeigt die russische und die serbische Flagge nebeneinander, darunter der Satz: „Kosovo ist Serbien, die Krim ist Russland.“

„Der Großteil hier will keine Konflikte, wir erinnern uns noch zu gut an unseren eigenen Krieg.“

Veroljub Petronić

Pro-russische Graffitis sind im Norden des Kosovo nichts Neues, aber jetzt, wo Putin die Ukraine angegriffen hat, besteht Sorge, dass sie mehr als nur Fassade sind, sondern der Funken, an dem sich alte Konflikte in der Region entzünden könnten. Vieles von dem, was Putin in seiner Rede vor der Invasion gesagt hat, kommt der Bevölkerung auf dem Balkan bekannt vor. Schon Slobodan Milosević legitimierte seine Herrschaft im Kosovo mit der nachweislich falschen Behauptung, die Albaner würden einen Genozid an den Serben planen. Auch sein Regime zog Grenzen neu und sprach den Nachbarländern das Recht auf Eigenstaatlichkeit ab. Dazu kommt: Der überwiegende Teil der Balkanstaaten ist, ebenso wie die Ukraine, kein Teil der Europäischen Union. Dementsprechend groß ist das Interesse Putins, hier seinen Einfluss zu wahren.

Kann der Krieg in der Ukraine den Balkan destabilisieren? Oder rücken diese Staaten, die in den Neunzigerjahren Krieg führten, dieser Tage ein Stück weiter zusammen?

„Der Krieg in der Ukraine hat starke Auswirkungen auf den Balkan“, sagt Florian Bieber, Professor am Zentrum für Südosteuropastudien an der Universität Graz. „Einerseits traumatisiert er viele, die den Krieg in den Neunzigerjahren überlebt haben. Andererseits gibt es Auswirkungen auf der politischen Ebene. Gerade Serbiens Präsident Vučić und das serbische Mitglied der bosnischen Präsidentschaft Milorad Dodik wurden in der Vergangenheit stark von Russland unterstützt.“

Dodik, Chef der größten bosnisch-serbischen Partei SNSD, gilt als Bewunderer Putins. Er droht seit Jahren damit, den serbischen Landesteil, die Republika Srpska, vom Rest des Staates abzutrennen. Wenige Tage nach der Invasion hat er mit dem russischen Außenminister telefoniert.

Der ehemaligen Hohe Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien, der Österreicher Valentin Inzko, warnt in einem Brief an die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen davor, dass Russlands Angriff auf die Ukraine auf den Westbalkan überschwappen könnte – konkret auf Bosnien und Herzegowina und den Kosovo. Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat den Westbalkan als möglichen Konfliktherd genannt. Das hat bereits Konsequenzen gezeigt. Die EU, die in Bosnien Herzegowina mit der Friedenstruppe Eufor präsent ist, hat ihr Kontingent um 500 zusätzliche Soldaten aufgestockt. Im Kosovo, wo die Nato mit über 3.000 Soldaten präsent ist, sei vorerst nichts Ähnliches geplant, heißt es auf Nachfrage.

Die Brücke in Mitrovica wird rund um die Uhr von Militärfahrzeugen bewacht. Weiter im Süden beginnt das albanische Stadtviertel: Man bezahlt mit Euro, US-Fahnen wehen neben dem Sternenbanner der Europäischen Union. Neben der großen, von der Türkei restaurierten Moschee stehen die Statuen von albanischen Guerillakämpfern. Seit fünf Jahren hat Mitrovica Süd eine Kentucky Fried Chicken Filiale. Seitdem kommen deutlich mehr Serben auf die andere Seite herüber, erzählt eine Mitarbeiterin an der Kassa.

An einem Tisch am Fenster sitzt ein Mann mit kurzgeschorenen Haaren und Bart. „Ich war noch nie da oben“, sagt er und zeigt in Richtung Norden hinüber. Shqipton Ismajli, 22, ist gerade zu Besuch bei seiner Familie im Kosovo. Seit zehn Jahren lebt er in Deutschland und arbeitet als Automechaniker. Er nennt sich selbst ein „Friedenskind“, weil er im Jahr 2000 geboren wurde, also nach dem Krieg. Jetzt macht er sich Sorgen, dass sich ein neuer Konflikt zusammenbraut.

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„Wir leben hier an der Grenze“, sagt er, „und in der Ukraine ist es ja schon losgegangen.“ In letzter Zeit werde hier nur noch über den Krieg in der Ukraine gesprochen. „Russland war immer ein starker Partner für Serbien. Die sehen Putin als ihren eigenen Präsidenten, der sie beschützt“, glaubt Ismaili.

Ein ähnliches Narrativ pflegt die albanisch dominierte Regierung des Kosovo. Die Präsidentin Vjosa Osmani, die selbst aus Mitrovica stammt, sagte zuletzt in einem Interview mit dem türkischen Fernsehsender TRT: „Es geht mehr als nur um die Ukraine. Es geht um unseren demokratischen Lebensstil, den Russland und seine Alliierten zu zerstören versuchen.“

Während Osmani jetzt lauter denn je die Aufnahme des Kosovo in die Nato fordert, hat sich der serbische Präsident Aleksandar Vučić in eine Sackgasse manövriert. Serbien ist EU-Beitrittskandidat und Brüssel ein wichtiger Geldgeber. Gleichzeitig will Vučić den traditionellen Verbündeten in Moskau nicht verärgern. „Vučić befindet sich in einer Zwickmühle“, so Bieber, „denn wenn er die russische Position verurteilt, dann verprellt er die eigenen Wähler.“

Vučić hat tagelang gezögert, unentschlossen, wie er sich in dieser geopolitischen Zeitenwende positionieren soll. Dann, diese Woche, gab er seine Entscheidung bekannt: Serbien wird die UN-Resolution in der Generalversammlung mittragen, aber keine Sanktionen verhängen, als einziges Land in Europa. Letzteres, so Bieber, sei weniger eine wirtschaftliche Frage: „Natürlich gibt es Abhängigkeiten im Energiesektor aber andere Staaten in der Region sind stärker auf das russische Gas angewiesen.“ Die EU ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner und Investor in Serbien. Autoritäre Staaten wie China und Russland haben in dem Balkanland dennoch ein besseres Image. Am Tag nach der Invasion stand in einem serbischen Boulevardmedium zu lesen: „Die Ukraine hat Russland angegriffen.“

„Vučić befindet sich in einer Zwickmühle“
 

Florian Bieber

Zentrum für Südosteuropastudien Graz 

Glauben die Menschen das? In Zvečan, jener Stadt, die Putin zum Ehrenbürger ernannt hat, will sich so gut wie niemand zum Krieg äußern, obwohl die Zeitungen voll damit sind.

„Der Westen will Putin loswerden, wie einst Slobodan Milosević“, steht auf einer Titelseite. Und: „Russland ist bereit für den dritten Weltkrieg.“ Ein Online-Medium berichtet von zwei russischen Panzern, die 200 ukrainische Neo-Nazis vernichtet hätten.

Der Zeitungsverkäufer öffnet die kleine Kioskluke. Wie so viele in der Stadt winkt er ab, wenn man ihn nach seiner Meinung fragt. Nur eines wolle er loswerden: Mit der Meinungsfreiheit gehe es bergab, weil die EU russische Staatsmedien sperren lässt. In den Neunzigerjahren habe man Ähnliches mit serbischen Medien gemacht. Dann schließt er die Luke wieder.

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Um die Ecke liegt der Fast-Food-Laden der Stadt. Hier reicht ein groß gewachsener Mittzwanziger mit rasierten Haaren spät in der Nacht Burger auf die Straße hinaus. Kurz vor Mitternacht macht er Feierabend, schrubbt den Grillrost und legt die Schürze weg. Seinen Namen will er nicht in der Zeitung lesen und auch sonst sind seine Antworten sehr kurzgehalten. Er weigert sich, ein Nummernschild mit der Flagge des Kosovo an seinem Auto anzubringen. Zuletzt hat ihn deswegen die Polizei angehalten und er musste zwanzig Euro Strafe zahlen. In den Süden aber geht er regelmäßig. An der Brücke sind ihm die Spezialeinheiten des Kosovo aufgefallen, die in Zvečan für viele Serben ein Feindbild sind. „Ich habe mich sehr unwohl gefühlt“, sagt er. „Die Albaner wittern jetzt ihre Chance, endlich der Nato beizutreten“, meint er, „und einige Extremisten wollen sich unser Land zurückholen.“

Shqipton Ismajli, der Automechaniker in der Kentucky-Fried-Chicken Filiale im Süden, spricht von einem ähnlichen Szenario, nur umgekehrt. Die Beiden haben mehr miteinander gemeinsam, als man es im ersten Moment meinen würde. Der Serbe aus Zvečan ging in den USA aufs College. Der Albaner wanderte nach Deutschland aus. Fehlende Perspektiven, niedrige Löhne und die massive Abwanderung sind das eigentliche Problem von jungen Menschen dies und jenseits der Brücke. Doch solange die ethnische Spannungen schwelen, wirken die Unterschiede größer als die Gemeinsamkeiten.

Kosovo: Wie hältst Du es mit Putin? 

Der Konflikt zwischen Russland und dem Westen hat direkte Auswirkungen auf den Balkan. Serbische Nationalisten feiern den Angriff und unterstützen die „slawischen Brüder“ in Russland. In den Nachbarländern wird das mit großer Spannung beobachtet. Brennpunkt ist die Stadt Mitrovica im Kosovo: Im serbischen Teil hingen schon bisher russische Fahnen und Bilder von Vladimir Putin. Die Regierung des Kosovo hat sich hingegen den westlichen Sanktionen angeschlossen und unterstützt offen die Ukraine. Franziska Tschinderle hat sich in beiden Teilen von Mitrovica umgehört - jetzt im Ö1-Mittagsjournal nachhören!

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.