Wie viel Schutz hat dieser Fluss verdient?
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Eine kleine Kneipe mit Flachdach, drinnen ein Holzofen und viel wabernder Zigarettenrauch. Einige der Männer an den Tischen trinken Raki, den Obstbrand vom Balkan, aber was sie alle hierhergeführt hat, ist das Wasser. Im Frühjahr, wenn der Schnee in den Bergen Albaniens schmilzt, spült es der Fluss durch das Tal – türkisfarben und eiskalt. Der Fluss heißt: Shushica.
Heute, an einem regnerischen Samstag Ende Februar, findet hier eine Protestveranstaltung statt. Eine Traube Menschen steht auf einer Brücke, die über das Wasser führt.
Es geht um eine 17 Kilometer lange Pipeline. Und die Strabag.
Es geht um eine rund 17 Kilometer lange Pipeline, die Wasser von der Shushica aus dem Hinterland an die Küste Albaniens bringen soll. Nahe der Brücke liegt ein Lagerhaus, vor dem dicke blaue Rohre gestapelt sind. Mit dem Bau beauftragt wurde die albanische Einheit der Strabag AG. „Wir werden nicht zulassen, dass man uns das Wasser wegnimmt. Niemand hat uns über das Projekt informiert. Wir haben erst davon erfahren, als die Bagger kamen“, ruft Astrit Balilaj, einer der Demonstranten, in ein Megafon.
Balilaj, ein kleiner Mann mit Schildkappe und Regenschirm in der Hand, ist Anfang 60 und der Bürgermeister von Kuç, einer kleinen Ortschaft ganz in der Nähe. Rund 140 Familien leben noch dort, schätzt er, der Rest ist ausgewandert, auch seine eigenen Kinder. Aber es gibt etwas, das dem Tal Hoffnung gibt. Die Rede ist vom Vjosa Wildfluss Nationalpark, einem einzigartigen Schutzgebiet, das in Europa seinesgleichen sucht.
Die Vjosa gilt als der letzte Wildfluss Europas
Die Vjosa gilt als der letzte Wildfluss Europas. Gleich mehrere Wasserkraftwerke bedrohten ihren Lauf, aber dann gelang es einer Umweltbewegung, diese Projekte zu stoppen (profil hat berichtet). Im Juni 2022 ließ Albaniens Ministerpräsident Edi Rama überraschend verkünden: Die Vjosa soll ein Nationalpark werden. Der Fluss sollte nicht nur in Abschnitten, sondern in seiner Gesamtheit geschützt werden, inklusive seiner Nebenflüsse und Bäche, insgesamt 400 Kilometer Flusslauf.
So etwas hat Europa noch nicht gesehen. Ausgerechnet Albanien, ein kleines, in weiten Teilen auch armes Land, will es vormachen.
Hier könnte diese Bilderbuchgeschichte enden, aber sie hat eine Wendung genommen, und zwar dort, wo Astrit Balilaj lebt. „Wir haben den Nationalpark mit Freude erwartet. Die Shushica ist einer der wichtigsten Zuflüsse der Vjosa, und alle hier sind der Meinung, dass es der Entwicklung des Tals zugutekommt, wenn wir sie schützen“, sagt der Bürgermeister.
Im letzten Sommer tauchten plötzlich die blauen Rohre der Strabag auf. Ein Teil von ihnen ist bereits in der Erde vergraben. Die albanische Umweltorganisation Eco Albania ist, gemeinsam mit 50 Bewohnerinnen und Bewohnern aus dem Tal, vor Gericht gezogen. Aber die Bagger schaffen schneller Fakten, als Richter Urteile fällen können. Bereits im August könnte das Projekt fertig sein. Dann könnten 140 Liter pro Sekunde aus der Shushica abgepumpt werden. profil hat „Eco Albania“ auf eine Pressereise begleitet, um der Frage auf den Grund zu gehen: Beteiligt sich die Strabag an einem Projekt, das Europas ersten und womöglich einzigen Wildfluss-Nationalpark in Gefahr bringt?
Um darauf eine Antwort zu finden, muss man zuerst verstehen, wer in diesem Projekt welche Interessen hat.
Aufseiten der Projektbefürworter gibt es drei Akteure. Da wäre zuallererst die albanische Regierung, die den Bau so schnell wie möglich umsetzen will. Albanien hat im Sommer dreimal so viele Besucher wie Einwohner. Insbesondere die Südküste boomt. Musikfestivals, Swimmingpools und Hotelanlagen bedeuten aber auch mehr Wasserverbrauch. Um in die kommunale Infrastruktur zu investieren, braucht es Millionen. Geld, das sich Albanien als Kredit im Ausland leiht.
Womit wir beim zweiten Akteur wären: die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Diese hat dem albanischen Staat im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) ein Darlehen von über 40 Millionen Euro bewilligt. Damit wird sowohl die Pipeline finanziert als auch eine Kläranlage an der Küste. Letzteres ist ein eigenständiges Projekt und wird dringend benötigt, weil Abwasser in manchen Küstenabschnitten direkt ins Meer fließt. „Ziel ist die Sicherstellung einer nachhaltigen, hygienischen und zuverlässigen Trinkwasserversorgung der Bevölkerung sowie die Reinigung des Abwassers nach EU-Standards zum Schutz der Umwelt und natürlicher Ressourcen“, schreibt die KfW in einer Stellungnahme an profil.
Laut KfW wurden die Genehmigungen von den albanischen Behörden zwischen Ende 2021 und Anfang 2022 erteilt. Im Oktober 2022 wurde die Strabag – der dritte Akteur – laut eigenen Angaben mit dem Bau beauftragt. „Wir erfüllen natürlich unsere vertraglichen Verpflichtungen und achten auf eine sorgsame Umsetzung des Projekts im Einklang mit allen umwelttechnischen und gesetzlichen Auflagen“, schreibt eine Sprecherin.
Keine wasserdichte Studie?
Doch Umweltschützerinnen, Anrainer und Forschende schlagen Alarm. Zwei Kritikpunkte stehen im Mittelpunkt. Erstens: Warum baut die Strabag überhaupt? Albaniens Ministerpräsident Edi Rama sowie die Umweltministerin Mirela Kumbaro haben bereits im Juni 2022, also vor Baubeginn, eine Absichtserklärung unterzeichnet und öffentlichkeitswirksam angekündigt, die Vjosa zum Nationalpark zu machen.
Zweitens: die Umwelt- und Sozialverträglichkeitsprüfung, ohne die der Bau nicht hätte starten dürfen. Wissenschafterinnen und Wissenschafter aus verschiedenen europäischen Ländern, darunter auch von den Universitäten Wien und Innsbruck, kritisieren diese als Farce. Die Studie „basiere auf falschen und unzureichenden Daten“ und sei „weit entfernt von internationalen Standards“. So steht es in einer Stellungnahme, die mehr als 20 Forschende an die albanische Umweltministerin Kumbaro geschickt haben und die profil vorliegt.
Christian Griebler, ein Grundwasserökologe von der Universität Wien, hat an der Stellungnahme mitgearbeitet. 2021 reiste er mit einer Forschungsdelegation in den Süden Albaniens, um Proben tief aus den Sedimenten der Shushica zu nehmen. Sein Eindruck: „Einen vergleichbar ungestörten Fluss wie die Vjosa findet man in dieser Dimension nirgendwo mehr in Europa. Die Vjosa ist ein letztes Referenzsystem, um herauszufinden, wie intakte Flüsse früher funktioniert haben.“
Griebler sagt „früher“, weil der Großteil der Flüsse in Europa bebaut, begradigt oder aufgestaut wurde. Die Europäische Union hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2030 mindestens 25.000 Flusskilometer zu renaturieren, also in einen frei fließenden Zustand zurückzuversetzen. Albanien, ein EU-Beitrittskandidat, müsste sich diese Mühe gar nicht erst machen.
Das ist Grieblers Hauptargument: Warum überhaupt in ein Flusssystem eingreifen, das einzigartig ist? Viele der Tierarten, Krebse, Käfer oder Asseln, die er im Sediment der Shushica gefunden hat, wurden noch nie von einem Biologen beschrieben. Die Strabag verbaut diese Möglichkeit jetzt. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Der Fluss sei noch viel zu unerforscht, so Griebler, als dass man innerhalb so kurzer Zeit zu dem Schluss kommen könnte, dass ein Eingriff kein Problem darstellt. Für eine seriöse Erhebung müssten die Wassermengen an der Quelle mindestens ein Jahr gemessen und vor allem auch die Auswirkungen des Klimawandels mit mathematischen Modellrechnungen mitbedacht werden. Forschende aus ganz Europa erheben seit Jahren Daten an der Vjosa. Warum, fragt Griebler, hat man sie für die besagte Umwelt- und Sozialverträglichkeitsprüfung nie konsultiert? Seine Forschung wurde unter anderem von der „Austrian Development Agency“ (ADA) mitfinanziert. Die ADA bestätigt gegenüber profil, dass es an der Vjosa zwei laufende Projekte gibt. Das Ziel: Vertreter aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft mit Entscheidungsträgern zusammenzubringen. Die Fördersumme beläuft sich insgesamt auf 1,2 Millionen Euro. Das führt zu einer absurden Situation. Österreichische Entwicklungsgelder fördern Wissenschaft an einem Fluss, um dessen Einzigartigkeit zu erforschen. Jetzt baut Österreichs größtes Bauunternehmen dort eine Pipeline, die mutmaßlich Schaden anrichten könnte. Und all das wird finanziert von: deutschen Entwicklungsgeldern.
Österreichische Entwicklungsgelder fördern Wissenschaft an einem Fluss, um dessen Einzigartigkeit zu erforschen. Jetzt baut Österreichs größtes Bauunternehmen dort eine Pipeline, die mutmaßlich Schaden anrichten könnte.
Welche Verantwortung trägt Deutschland?
In Deutschland gehen deswegen die Wogen hoch, auch die Umweltministerin Steffi Lemke, eine Grüne, beschäftigt sich mit dem Fall. Lemke nahm 2019 an einer Reise an die Vjosa teil, damals noch als Abgeordnete des Bundestages. Und jetzt, als Ministerin? „Wir bitten sehr um Verständnis, dass wir uns zu laufenden Gesprächen innerhalb der Bundesregierung nicht öffentlich äußern können“, richtet ihr Büro aus.
Eine der drängendsten Fragen hinter den Kulissen dürfte lauten: Warum hat die KfW überhaupt grünes Licht gegeben und eine Studie, die Experten zufolge Mängel aufweist, durchgewunken?
Die KfW schreibt in einer Stellungnahme an profil, dass man die Situation „in Anbetracht der zwischenzeitlichen Etablierung des Vjosa Nationalparks“ neu bewerten wolle. Die Kritik der Wissenschaft nehme man ernst und überprüfe sie. Die KfW habe der albanischen Regierung empfohlen, die Arbeit „im Zusammenhang mit dem Bau der Quellwasserfassung sowie der Trinkwassertransferleitung zunächst ruhen zu lassen, bis Studienergebnisse ausgewertet sind und eine Bewertung der Situation erfolgt ist“, so eine Sprecherin.
Das nützt allerdings wenig, denn die Strabag baut weiter.
Womit wir wieder an der Brücke nahe der Ortschaft Kuç in Südalbanien wären.
Auf der Brücke stehen bei dem Protest im Februar auch Annette Spangenberg und Ulrich Eichelmann. Sie stammt aus Deutschland und arbeitet für die Naturschutzorganisation EuroNatur. Er lebt in Österreich und ist Obmann der Organisation Riverwatch. Beide kämpfen seit Jahren für den Schutz der Vjosa und sind in die Planung rund um den Nationalpark eingebunden. Jetzt fühlen sie sich hintergangen.
„Ein Fluss ist immer als System zu verstehen. Die Shushica ist einer der wichtigen Zuflüsse zur Vjosa und deswegen als Teil des Nationalparks ausgewiesen. Das ist, als würde man der Vjosa die Arme abschneiden“, sagt Spangenberg.
Ulrich Eichelmann sieht auch die Baufirma in der Pflicht: „Die Strabag hat 2021 eine neue Straße durch das Tal gebaut und dafür den Schotter ohne Rücksicht auf die Natur aus dem Flussbett der Shushica gebaggert. Die Strabag wollte auch vier Kraftwerke entlang der Shushica errichten. Das Projekt ist seit Jahren vor Gericht anhängig.“ Und jetzt, sagt Eichelmann, kommt die Pipeline dazu. „All das in einem Nationalpark, der einzigartig in Europa ist“, kritisiert er.
Annette Spangenberg
Die Aktivistin arbeitet für EuroNatur
Ulrich Eichelmann
Der Naturschützer ist Obmann der NGO RiverWatch
Eichelmann fordert, dass sich die KfW aus dem Projekt zurückzieht. Aber wäre das auch sinnvoll?
Die KfW will nicht verraten, wie viel Geld bereits geflossen ist, weil sie den Vertragspartnern ein „höchstmögliches Maß an Vertraulichkeit“ zugesichert hat. Sicher ist: Ein Großteil ist bereits überwiesen, und die letzten Tranchen kann sich die albanische Regierung notfalls auch anderswo
beschaffen. Wird die KfW also im Projekt bleiben, um von innen heraus auf einen Baustopp zu drängen?
Genau danach sieht es aus. „Wir können bestätigen, dass wir von unserem Auftraggeber angewiesen wurden, die Arbeiten in dem zirka fünf Kilometer langen Bauabschnitt ab der Wasserentnahmestelle bis auf Weiteres nicht fortzuführen“, schreibt eine Sprecherin der Strabag. Ein Etappensieg für die Naturschützer, der von kurzer Dauer sein könnte.
Denn die albanische Regierung scheint die Geduld zu verlieren, spricht hinter den Kulissen von „grünem Kolonialismus“. Nächstes Jahr stehen Wahlen an, und Edi Ramas sozialistische Partei will liefern, nämlich sauberes Trinkwasser. Wie soll man den Touristen aus Skandinavien oder Großbritannien erklären, dass sie sich ihre Zähne im Fünf-Sterne-Hotel mit Wasser aus der Plastikflasche putzen müssen?
Astrit Balilaj, der Bürgermeister aus dem Tal, protestiert weiter. Bereits an diesem Samstag ist ein weiteres Treffen angesagt, diesmal auf einer anderen Brücke.
Franziska Tschinderle
schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.