Wie Viktor Orbán Ungarns Nachbarländer umgarnt
Viktor Orbán, seit zehn Jahren nahezu unumschränkter Herrscher über Ungarn, posiert neuerdings gerne vor Landkarten und Globen. Die Fotos lässt er über seine Facebook-Seite-derzeit 857.000 Likes-verbreiten. Da sind dann, mal verschwommen, mal mit klarem Grenzverlauf, die Konturen des historischen Ungarn zu sehen, jenes Staates, der als relativ autonomer Teil der Habsburg-Monarchie im Ersten Weltkrieg (1914 bis 1918) zwei Drittel seines Territoriums verlor, darunter aber auch Gebiete, in denen keine oder wenige Ungarn wohnten, wie der Großteil des heutigen Kroatien.
Es ist so, als ließe sich Sebastian Kurz vor einer Österreich-Karte mit Südtirol und Böhmen ablichten-eigentlich unvorstellbar. Tatsächlich wabert in keinem anderen EU-Land ein derartiger Opferkult um "verlorene Gebiete" und "ungerechte Grenzen" wie in Ungarn unter dem Rechtspopulisten Orbán. Doch in Wahrheit geht es Orbán, einem lupenreinen Machtmenschen des 21. Jahrhunderts, nicht um Grenzrevision. Vielmehr umgarnt er die Nachbarländer. Wie er bei der Einweihung eines Denkmals im Juni ausführte: "Mit jener Slowakei, Serbien, Kroatien, Slowenien, die stolz auf ihre nationale Eigenheit sind, bauen wir mit Freuden eine neue Zukunft. Die Geschichte hat die vielleicht letzte Chance dafür eröffnet, dass die mitteleuropäischen Völker ein neues Zeitalter einleiten und sich gegen die Gefahren aus dem Westen und dem Osten gemeinsam verteidigen." Die Europäische Union spielt in seiner Vorstellung naturgemäß keine Rolle: "Bei ihr ächzt es im Gebälk." Eine neue Weltordnung sei im Entstehen.
Doch die vermeintlich in Brüderlichkeit ausgestreckte Hand zu den Nachbarn ist eine Chimäre. Jedes der vier genannten Länder ist kleiner oder bedeutend kleiner als Ungarn. Serbien, das annähernd so groß ist wie Ungarn, spielt als Nicht-EU-Land wirtschaftlich nicht in derselben Liga. Orbán will vielmehr das, was er "illiberale Demokratie" nennt, dorthin exportieren oder, wenn schon vorhanden, stärken. Nicht die "Völker" interessieren ihn, sondern die jeweiligen rechtspopulistischen Politiker, die ähnlich ticken wie er und die sein Erfolgsrezept nachahmen wollen. Seit 2017 kaufen Geschäftsleute aus dem Dunstkreis von Oligarchen, die von Orbán abhängen, Medienunternehmen der rechtspopulistischen Bündnispartner auf. Diese erhalten damit nicht nur oft bitter benötigte Kapitalspritzen, sondern auch das raffinierte Know-how der "illiberalen" Propaganda.
Medien-Arsenal
In Ungarn, wo im Juli "index.hu", das letzte große unabhängige Internetportal des Landes, durch eine "feindliche" Übernahme ausgeschaltet wurde (profil 32/2020), gebietet Orbán über ein ganzes Arsenal von Medien, das ausschließlich seine Botschaften verbreitet. Es umfasst Boulevardmedien, alle Lokalzeitungen, Internetportale, Radio- und Fernsehsender, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. In diesen Medien wird gnadenlos gegen politische Rivalen, Regierungskritiker, Flüchtlinge und Roma gehetzt. In keinem anderen Land gab und gibt es eine derart bizarre Schmutzkampagne gegen den US-Investor George Soros, der weltweit Initiativen für Demokratie und Menschenrechte fördert. Über ihn schrieb das linientreue Portal "pestisracok.hu" am vergangenen Mittwoch: "Heute wurde George Soros, der reichste und wirkungsmächtigste Psychopath des 21. Jahrhunderts, 90 Jahre alt."
In Slowenien kauften sich ungarische Geschäftsleute aus dem Umkreis des Orbán-Beraters Árpád Habony beim Fernsehsender Nova24TV sowie bei der Wochenzeitung "Demokracija" und dem Boulevard-Portal "ripost.news" ein. Die Outlets gehören der SDS-Partei des rechtspopulistischen Politikers Janez Janša. Dieser war von 2004 bis 2008 und von 2012 bis 2013 Ministerpräsident und ist es seit März dieses Jahres erneut. Er versteht sich nicht nur ausgezeichnet mit Orbán, sondern eifert ihm auch nach. Seit er wieder Regierungschef ist, versucht er, das immer noch unabhängig berichtende öffentlich-rechtliche Fernsehen TV Slovenija durch massive Budgetkürzungen auf Linie zu bringen. Die angesehene Wochenzeitung "Mladina" warnte angesichts des Regierungsantritts von Janša vor dem "Projekt der Orbánisierung Sloweniens",denn Innenminister im Kabinett ist Janšas treuer Weggefährte Aleš Hojs, der zuvor Nova24TV geleitet hatte. "Dieses Medium hat unter seiner Führung den Diskurs der blutrünstigen Ausgrenzung von Diversität und der infamsten Verfälschung von Tatsachen in die slowenische Öffentlichkeit eingebürgert", hielt "Mladina" fest.
Der Aufdeckungsjournalist Blaž Zgaga, derzeit Korrespondent der kroatischen Wochenzeitung "Nacional",meint: "Janša will die Medien kontrollieren, um sich mittels Propaganda an der Macht zu halten." Zgaga hatte bereits vor vielen Jahren über die fragwürdigen Waffengeschäfte Janšas zur Zeit der jugoslawischen Zerfallskriege (1991 bis 1995) recherchiert und dafür mehrere Preise erhalten. Wegen des Aufkaufs der Janša-Medien durch die Orbánnahen Geschäftsleute ermittelt derzeit die Polizei in Slowenien-wie lange noch, ist jedoch eine andere Frage, da ihr ein Janša-Gefolgsmann als Innenminister vorsteht. "Das Ganze folgt keiner wirtschaftlichen Logik. Diese Medien schreiben Verluste. Da könnte zum Beispiel der Verdacht auf Geldwäsche aufkommen",meint Zgaga.
Illiberale Weltanschauung
Derselbe Kreis von ungarischen Investoren kaufte sich fast zur selben Zeit bei Medien in Mazedonien (heute: Nordmazedonien) ein. Hier waren es Zeitungen und Portale, die der bis 2017 regierenden nationalistischen VMRO-Partei gehören. Ihr Regierungschef Nikola Gruevski herrschte zehn Jahre lang zunehmend autoritär. Nach seiner Abwahl verurteilte ihn ein Gericht wegen Korruption zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe. Dem Haftantritt entzog sich Gruevski durch Flucht; ungarische Geheimdienstler brachten ihn in diplomatischen Fahrzeugen über mehrere Grenzen sicher nach Budapest. Dort erhielt der Justizflüchtling von seinem Freund Orbán politisches Asyl. Nach Einschätzung des mazedonischen Journalisten Ljupco Popovski brachten Fluchthilfe sowie Kapitalspritzen für ihre Medien die VMRO in eine "schreckliche Abhängigkeit" von Gruevskis ungarischem Gönner. "Orbáns illiberale Weltanschauung durchtränkt die VMRO inzwischen völlig", so Popovski.
In der EU gilt Orbán als Enfant terrible. Ihren Werten wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bringt er nichts als Verachtung entgegen. Zugleich hält er ungeniert die Hand auf: Von 2014 bis 2020 erhielt Ungarn 20,5 Milliarden Euro aus den Strukturfonds der EU. Im Jahresschnitt sind das rund vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Orbán sorgt dafür, dass ein Teil dieser Gelder in die Taschen von Oligarchen wandert, die von ihm abhängig sind. Und diese unterstützen mit Medienaufkäufen ähnlich agierende Potentaten im "nahen Ausland"-der Begriff bezieht sich eigentlich auf die Nachbarschaft Russlands, die der Präsident Wladimir Putin als russische Einflusssphäre reklamiert. Auch zu ihm pflegt Orbán ein freundschaftliches Verhältnis.
Orbán arbeitet fieberhaft daran, gleichgesinnte Regierungschefs innerhalb und außerhalb der EU gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Stellung zu bringen. Der slowenische Journalist Lenart Kucic, Betreiber des Portals "podcrto.si" und ausgewiesener Kenner des slowenischen Medienmarkts, meint: "Die EU hat nichts getan, um die Gleichschaltung der Medien in Ungarn durch Orbán zu stoppen oder um den ungarischen Export antiliberaler politischer Ideologien in die Region einzudämmen. Diese Passivität ermutigt Orbáns politische Nachahmer in diesen Ländern dazu, das ungarische Medienmodell zu übernehmen."
Orbáns Orbit wächst.