Wilder Verlauf: Corona in Afrika
Afrika leuchtet - zumindest auf den Weltkarten, auf denen das Ausmaß der Corona-Pandemie farblich markiert ist: je dunkler ein Land, desto dramatischer die Situation. Mitte dieser Woche war der afrikanische Kontinent im Gegensatz zu allen anderen noch durchgängig hell. 52 der 54 anerkannten Staaten meldeten weniger als 50 Covid-19-Fälle pro eine Million Einwohner. Zwei winzige Flecken im äußersten Norden und Osten stachen heraus, aber auch nur leicht: In Tunesien waren knapp 600 Personen (rund 50 pro Million) positiv auf das Virus getestet worden, im kleinen Dschibuti 90 (83 pro Million).
Paradiesische Zustände, selbst im Vergleich mit Österreich, wo die Zahl zuletzt bei knapp 1400 pro Million Einwohner lag.
Wie aussagekräftig die aus Afrika gemeldeten Zahlen sind, weiß allerdings niemand. Getestet wird dort nämlich kaum. Die zuverlässigsten Daten kommen aus Südafrika, wo bis dato zwei Drittel der Erkrankungen des gesamten Kontinents registriert wurden -in absoluten Zahlen etwa 2000, also vergleichsweise wenige.
Möglich, dass die Pandemie Afrika tatsächlich noch nicht erfasst hat; möglich aber auch, dass nur nicht bekannt ist, wie weit verbreitet das Virus dort bereits ist.
Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation WHO, warnt jedenfalls, dass sich der Kontinent "auf das Schlimmste" vorbereiten müsse. "Die Lage ist dramatisch, denn mit einer Verzögerung von zwei Monaten kommt das Virus jetzt in den Entwicklungs-und Schwellenländern an", befürchtet auch der deutsche Bundesentwicklungsminister Gerd Müller.
Man könnte sagen, dass es keinen schlechteren Zeitpunkt gibt, zu dem der Kontinent von der Pandemie getroffen wird. In Wahrheit gibt es aber auch keinen guten, denn in vielen Regionen Afrikas hat sich die Situation seit Jahrzehnten kaum geändert. Kommt zu den vorhandenen Problemen aber noch eine globale Seuche wie Covid-19, sind die Folgen nicht nur katastrophal, sondern vielfach auch unerwartet.
Ärztemangel und Vorerkrankungen: DAS PROBLEM GESUNDHEIT
Bekannt ist: Afrika hat die am schwächsten entwickelte Gesundheitsversorgung der Welt. 2016 ergab eine Umfrage in 36 Ländern, dass rund die Hälfte der Bevölkerung keinen oder nur unzureichenden Zugang zu medizinischer Betreuung hat.
Der Südsudan verfügt für 12,5 Millionen Einwohner über lediglich 20 Intensivbetten. In Simbabwe starb kürzlich ein 30-jähriger Radiomoderator an seiner Corona-Infektion, weil nicht einmal in der Hauptstadt Harare ein Beatmungsgerät aufzutreiben war. Was die Zahl von Ärzten betrifft, nehmen Länder in Afrika die letzten Plätze auf der Rangliste ein. In Malawi steht etwa lediglich ein Mediziner für 100.000 Einwohner zur Verfügung. Das derzeit häufig vorgebrachte Argument, Afrika habe die weltweit jüngste Population und könne daher auf eine geringere Zahl an schweren Covid-19-Verläufen hoffen, hält nur bedingt, denn gleichzeitig leiden im Schnitt weitaus mehr Menschen an Vorerkrankungen als anderswo.
Zudem wird der Kontinent fast ununterbrochen von Seuchen heimgesucht - ob HIV oder Ebola, Cholera oder auch Masern. Im Osten der Demokratischen Republik Kongo (DRC) wurde erst vor wenigen Wochen die zweitschlimmste Ebola-Epidemie der Geschichte überwunden, der fast 3000 Menschen zum Opfer gefallen waren. Noch immer wütet in dem Land von der Größe Westeuropas auch eine Masern-Epidemie, die bisher weit mehr als 6000 Todesopfer forderte. Und Gesundheitsexperten wissen: Wenn die Bevölkerung, wie sehr oft in Afrika, der Regierung nicht traut, lässt sich keine Epidemie besiegen.
Autokraten und Glücksritter: DAS PROBLEM POLITIK
Das weit verbreitete Misstrauen gegenüber den Herrschenden beruht auf Erfahrungswerten, die sich auch jetzt wieder bestätigen. Mancher afrikanische Herrscher versucht, aus der Tragödie politisches Kapital zu schlagen. Peter Mutharika, Präsident des südafrikanischen Armutsstaats Malawi, verhängte etwa den Ausnahmezustand, noch bevor dort auch nur ein einziger Corona-Fall gemeldet wurde. Seitdem sind Versammlungen von mehr als 100 Menschen verboten, die Sicherheitskräfte wurden in Alarmzustand versetzt.
Mutharikas wahre Absicht: Er will seine zweite Amtszeit sichern, die zu Beginn des Jahres vom Höchstgericht des Landes infrage gestellt worden war. Die Verfassungsjuristen ordneten eine Wiederholung der Wahlen vom vergangenen Mai an, die Mutharika nur durch dreiste Manipulationen für sich entschieden hatte; unter anderem waren Stimmzettel mit Tipp-Ex "korrigiert" worden. Nach der Verständigung mehrerer Oppositionsparteien auf einen gemeinsamen Kandidaten musste der Präsident bei der Wahlwiederholung im Mai mit einer Niederlage rechnen. Der Ausnahmezustand soll nunmehr diese Gefahr von Mutharika abwenden.
Auch in Äthiopien wurden die ersten wirklich freien Wahlen des Landes, die für Ende August anberaumt waren, vorsorglich auf unbestimmte Zeit verschoben.
Gleichzeitig drohen fragile Staaten unter dem Druck der Pandemie zu zerbrechen. Sicherheitspolitische Szenarien der EU, in die profil Einblick nehmen konnte, sehen diese Gefahr mittelfristig für mehrere Länder in Nord-und Subsahara-Afrika - etwa Ägypten, Marokko, Tunesien und Algerien, aber auch Ghana und Senegal.
Terroristen und Banditen: DAS PROBLEM SICHERHEIT
Schon jetzt stehen Staaten durch interne bewaffnete Konflikte schwer unter Druck. Das in der Sahelzone gelegene Burkina Faso beispielsweise sieht sich seit Monaten mit Terroranschlägen konfrontiert. Verübt werden sie von "Dschihaditen", wie es Christian Geosits, Leiter des dortigen Büros der österreichischen Entwicklungszusammenarbeitsagentur ADA, formuliert: Banditen, die sich eine dschihadistische Agenda verpasst haben.
"Es ist keineswegs so, dass wegen der Pandemie die Aktivitäten der Terrorgruppen weniger werden - eher umgekehrt", so Geosits: "Ich fürchte, dass sie mittelfristig versuchen werden, die Schwächung des Staates auszunutzen, der neben der Sicherheitskrise auch eine Krise im humanitären und sanitären Bereich bewältigen muss."
Vorerst reagiert Burkina Faso wie viele andere Staaten unter dem Vorwand, die Pandemie einzudämmen, mit der Verhängung von Notstandsmaßnahmen, zu denen extrem strikte Ausgangsverbote gehören - und setzt diese teilweise mit äußerster Brutalität durch. Das hat spürbare Auswirkungen auf die Wirtschaft.
Tagelöhner und Kleinbauern: DAS PROBLEM WIRTSCHAFT
In den Industrienationen lässt sich der erzwungene Stillstand des öffentlichen Lebens zumindest kurzfristig abfedern. Im industrialisierten Norden lebt dank staatlicher Unterstützung kaum jemand von Tag zu Tag und von der Hand in den Mund.
Weit mehr als 50 Prozent aller Erwerbstätigen in Afrika haben hingegen keine feste Anstellung; sie verdingen sich als Straßenhändler oder Gelegenheitsjobber, oft auch in anderen Ländern. Bereits jetzt stehen Millionen von ihnen vor dem Nichts. In Burkina Faso etwa dürfen weder die Taxis in den Städten noch die Überlandbusse fahren. Das trifft nicht nur die Chauffeure, sondern auch unzählige Wanderarbeiter.
Für die Bauern fallen die Maßnahmen zudem mit der sogenannten "période de soudure" zusammen, der jährlichen Zeit des Mangels, in der die Vorräte der vergangenen Saison zur Neige gehen und die nächste Ernte noch nicht eingebracht ist.
"Burkina Faso ist ein eher zurückgelehntes Land, in dem der Mob nicht so schnell auf der Straße ist. Wenn man vermeiden will, dass Unruhen ausbrechen, wird es aber nicht so weitergehen können wie bisher", sagt ADA-Mann Geosits.
In anderen Ländern brechen ganze Wirtschaftszweige ein, die vom Handel mit dem globalen Norden abhängig sind: die Schnittblumenindustrie in Äthiopien beispielsweise, der die Abnehmer in Europa wegbrechen.
Für Afrika bedeutet das bereits wenige Wochen nach Ausrufung der Pandemie: Es braucht nicht einmal eine Vielzahl von diagnostizierten Krankheitsfällen, um Millionen von Menschen in existenziellen Notstand geraten zu lassen. Sollte zu diesem auch noch der medizinische Notstand kommen, dann ist zu befürchten, dass John Nkengasong, Direktor der Afrikanischen Zentren für Krankheitskontrolle und Vorbeugung (ACDC), mit einer vor wenigen Tagen getroffenen düsteren Prognose rechtbehält: "Der Kontinent ist in seiner Existenz bedroht."