Windelpflicht für Kühe? Die größten EU-Mythen
Donald Trump, bekanntermaßen kein EU-Bürger, war der fixen Überzeugung, dass ihn das Licht von LED-Lampen „viel zu orange aussehen lässt“. Deswegen kippte er 2020 in den USA die gesetzlichen Restriktionen gegen Glühbirnen kurzerhand wieder – und leuchtete dennoch weiter orange, was weniger an den verwendeten Leuchtkörpern als an der Ausgelassenheit seines „Tanning“-Teams liegen mag. Tatsächlich wirkt der ehemalige (und möglicherweise drohende nächste) US-Präsident in seinem hanebüchenen, fast pathologischen Widerstand gegen alle (ohne ihn geschaffenen) Verordnungen wie ein seelischer Patron aller Anti-EU-Trolle, die sich bis heute in den sozialen Medien bei jeder neuen Vorschrift oder Verordnung der EU-Kommission in aufgeregtem Gegacker üben. Auf den Kommentarspalten rechtsgeneigter Tageszeitungen und in den Empörungs-Stereoboxen der sozialen Medien fetzen Phrasen wie „Danke, liebe EU, du absolute Herrscherin des Verordnungs-Irrsinns“, „Hört’s endlich auf, die Leute zu quälen, ihr Brüssler Wappler“ oder ein schlichtes: „Seid’s ihr alle wo ang’rennt, es Beamten-Vollkoffer?!“
Die schrittweise Eliminierung der Glühbirne aus der europäischen Alltagskultur löste eine großräumige Erregung aus, die in Österreich Ende 2008 nahezu einen Glaubenskrieg initiierte und in den Baumärkten zu Glühbirnengehamstere galore führte. Der Grund für diesen Eingriff erscheint im Lichte des heutigen Klimakatastrophenbewusstseins so simpel wie vernünftig: Ein Großteil der alten Glühlampen wandelt den meisten verbrauchten Strom nicht in Licht, sondern in Wärme um. Inzwischen sind aber auch die damals als Beleuchtungsretter propagierten Energiesparlampen auf der Verteufelungshalde gelandet: zu viel Belastung durch Quecksilberinhalte, die beim Zerbrechen und bei der Entsorgung freigesetzt werden können. Helligkeit spenden inzwischen vor allem LED-Lampen, für Technik-Nerds „Leuchtdioden, die Licht in einem bestimmten Wellenlängenbereich aussenden“ und zudem länger halten, weit weniger Strom verbrauchen und keine Giftstoffe enthalten. Das Drama um das Birnenverbot wirkt inzwischen fast so patiniert wie jenes um den autofreien Tag im Zuge der Erdölkrise in den 1970er-Jahren.
Der damalige FPÖ-Vorsitzende Jörg Haider, bis zu seinem Tod ein EU-Skeptiker, warnte noch vor der Beitrittsvolksabstimmung 1994 vor den bedrohlichen Fremdeinflüssen, die eine Mitgliedschaft der heimischen Alltagskultur bescheren könnte: Die rot-weiß-rote Bevölkerung würde in Zukunft durch mit Schildläusen hergestelltes Erdbeerjoghurt und durch mit Blut versetzter Schokolade kontaminiert werden. Warnhinweise, die sich sehr bald als so absurd wie weit hergeholt herausstellen sollten: Der von Schildläusen produzierte Stoff Karmin, seit Jahrzehnten in ganz Europa für Lippenstifte, Getränke (zum Beispiel Campari) oder Farben zum Einsatz gebracht, war sowieso längst in den Supermärkten zu finden – und wurde inzwischen seinerseits durch den künstlichen Farbstoff E 120 ersetzt. Und selbst bei akribischer Durchforstung aller EU-Lebensmittelverordnungen konnten keine Blutzugaben in der Schokolade ausgemacht werden.
Enthusiastische, überzogene Interpretationsvorgänge von EU-Verordnungen gehören aber seither zur Tagesordnung aufgebrachter Volksseelen: Die Attacke auf den heimatlichen Genussfetisch Marillenmarmelade, die plötzlich (wie entsetzlich piefkonisch!) „Marillenkonfitüre“ genannt werden musste, da der Begriff „Marmelade“ nur für Produkte mit dem entsprechenden Zitrusfrüchteanteil verwendet werden durfte, hatte regelrechte Aufschreie zur Folge. Dank Brexit fand auch dieser alltagskulturelle Niedergang ein Ende: Inzwischen darf wieder marmeladisiert werden, was bei aus heimischer Kleinproduktion entstandenen Waren, die beispielsweise auf Bauernmärkten angeboten werden, ohnehin durchgehend möglich war. Der Konfitüregau ist abgewendet. Marillenmarmelade für immer! Eine Erregungswelle, die dem beliebten Genre „Unsere Sorgen möchten wir haben!“ entsprungen schien, schwappte damals durch die Medien.
Die Krümmungsverbote für Gurken erhitzten die Gemüter nicht ganz so sehr, aber genauso wie der vorgeschriebene Dickegrad für Bananen festigten sie das Image von der Europäischen Union als schikanierende Gouvernante, die friedliche Bürger aus puren Machtgelüsten in ein willkürliches Verhaltenskorsett zwingen will.
„Hört’s endlich auf, die Leut’ zu quälen, ihr Brüssler Wappler.“
Doch auch die Ausrichtung von Gurken hatte einen vernunftbedingten, weil umweltschonenden Hintergrund: Bei strammen Exemplaren kommt im Großhandel weit weniger Verpackungsmaterial zum Einsatz, und die Gefahr, dass formoriginelle Gurken ihre Nachbarinnen durch kurviges Auftreten verletzen und dadurch ihre Haltbarkeit reduzieren, ist auch großteils gebannt.
Die Motivliste skurril anmutender Vorschriften und Verordnungen aus den letzten (fast) 30 Jahren basiert – mit einigen Ausnahmen – auf Umwelt- und Energieschonung und Verbraucherschutz. Dass Kühe durch eine EU-Verordnung aus dem Jahr 2014 „Windeln“ tragen müssen, wie in Protestkundgebungen des Bayerischen Bauernverbands gefürchtet wurde, ist aber ein Bilderbuchbeispiel von genussvoller Fehlinterpretation. Tatsächlich wollte man damals in Brüssel lediglich regeln, wie viel Dünger künftig auf Hanglagen zum Einsatz gebracht werden durfte, um die hohen Nitratwerte im Grundwasser zu vermindern. Dass die Almkühe ihr Geschäft deswegen nicht mehr auf ihren Wiesen verrichten dürften, stand nie in der Absicht dieser Verordnung. Bayerische Schollenhüter gingen auch auf die Barrikaden, als aus Brüssel eine Verordnung bezüglich Sonnen- und Lichtschutz bei Servierpersonal ruchbar wurde. Dirndltragende Kellnerinnen mit verhüllten Dekolletés auf der Wiesn wurden als Angriff auf die bayerische Identität gewertet.
„Die Abwendung von den selbstherrlichen Eliten der Europäischen Union“, wie der selbst ernannte „Volkskanzler“ Herbert Kickl gerne die Volksseele anstachelt und eine „Schubumkehr“ zwecks Souveränität des Volkes fordert, hat jedoch nichts mit Freiheit und Selbstbestimmung zu tun. Diesen Montag wird der 300. Geburtstag des Popstars der Aufklärung Immanuel Kant gefeiert. Kants Ideal von der Freiheit funktioniert nur dann, wenn sich diese innerhalb von Gesetzen bewegt und das Wohlbefinden der Allgemeinheit dadurch nicht irritiert wurde. Als vernünftig galt Kant nur jenes Verhalten, das im Dienste der Gemeinschaft und der gesellschaftspolitischen Gesamtverantwortung passiert. „Kant war insofern Optimist“, so der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann, „als dass er den Menschen für ein vernunftbegabtes Wesen hielt, das allmählich lernte, Vernunft zu seinem eigenen Nutzen und zu jenem seiner Mitmenschen zu gebrauchen.“ Kant glaubte außerdem fest daran, so Liessmann, „dass Handelsbeziehungen und kulturelle Beziehungen das Verständnis unter Nationen vertiefen“.
So gesehen wäre Kant Herrn Kickl wohl leidenschaftlich gern ein Dorn im Auge und überdies ein begeisterter EU-Fan gewesen. Und hätte, aus purer moralischer Verantwortung, möglicherweise ausschließlich gerade Gurken gegessen.