Die schlimmste Drohung

Wird Putin Atomwaffen einsetzen, Mr. Hodges?

profil fragt den US-Generalleutnant a. D. Ben Hodges, wie riskant die Lage ist: Steht die Welt vor einem Atomkrieg? Oder blufft Putin?

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Wladimir Putin versucht noch einmal, den Westen einzuschüchtern. Der Krieg läuft nicht gut für die russischen Streitkräfte, sie müssen zurückweichen. Eine Teilmobilisierung von 300.000 Mann soll ihre Schlagkraft wiederherstellen. Zudem lässt Putin die bisher eroberten Gebiete mittels sogenannter „Volksabstimmungen“ quasi über Nacht in die Russische Föderation eingemeinden. Rückt die ukrainische Armee weiter vor, würde sie somit – aus Sicht des Kremls – Russland angreifen. Und darauf will Putin mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln reagieren – also möglicherweise auch mit Atomwaffen.

Wladimir Putin setzt auf Eskalation. Er kündigt eine Teilmobilmachung an und droht dem Westen mit dem Einsatz „aller zur Verfügung stehenden Mittel“ – also auch mit Atomwaffen. Beginnen wir mit der Frage der Truppenstärke: Was kann die Aufstockung der russischen Truppen um 300.000 Mann bewirken?
Hodges
Wenn überhaupt, dann kann dies erst in mehreren Monaten eine Veränderung bringen. Kurzfristig wird es keinen Impact haben. Es wird mindestens zwei, drei Monate dauern, diese Soldaten auszubilden, auszurüsten und in Verbände zu integrieren. Erst dann wird man sie an der Front sehen. Wie viele es tatsächlich sein werden, ist auch noch ungewiss.
Wird das die russischen Streitkräfte wesentlich stärken?
Hodges
Der zunehmende Mangel an Soldaten ist natürlich eines der Probleme der Russen, aber es ist nicht ihr größtes.
Was sind die Hauptprobleme?
Hodges
Ein Beispiel: Wir sehen von den Russen so gut wie keine Einsätze, bei denen die Luftwaffe die Truppen am Boden unterstützt. Derartige gemeinsame Operationen sind eine übliche Vorgangsweise, bei den Russen hingegen bekommen die Bodentruppen keine Hilfe aus der Luft.

Die russische Armee wirbt um Soldaten, unter anderem mit einem Gehalt von 3000 Dollar im Monat.

Langsam wird offenbar auch der russischen Öffentlichkeit bewusst, dass der Krieg nicht gut läuft. Ist Putins martialische Rhetorik ein Versuch, die Kampfmoral zu stärken?
Hodges
Putin hat in seiner Rede endlich öffentlich einbekannt, dass sich die Situation in der Ukraine aus Sicht der russischen Streitkräfte verschlechtert. Es wird schwierig für ihn, auf plausible öffentliche Unterstützung zu bauen. Er muss jetzt nach und nach all die Märchen, die er in den vergangenen sechs Monaten erzählt hat, zurücknehmen. Die Reaktion der russischen Bevölkerung zeichnet sich bereits ab: Wir sehen Proteste gegen den Krieg und Leute, die ausreisen wollen.
Viele sagen, Putin ist am gefährlichsten, wenn er in die Ecke gedrängt ist. Wird er Atomwaffen einsetzen?
Hodges
Er selbst verbreitet das! Etwa die Geschichte, als er als Bub in Leningrad eine Ratte jagte, die ihn angriff, als sie keinen Ausweg mehr hatte. Jetzt droht er wieder mit Atomwaffen, aber das tut er nun schon seit ein paar Jahren. Natürlich ist er gefährlich, und natürlich verfügt Russland über Tausende Atomwaffen. Aber es ist höchst unwahrscheinlich, dass er sie einsetzen wird.
Was macht Sie so sicher?
Hodges
Zwei Gründe: Erstens würde es ein Nuklearschlag den USA unmöglich machen, sich weiter aus dem Krieg herauszuhalten. Sie müssten militärisch reagieren, denn das Weiße Haus weiß, dass China, Iran, Nordkorea und andere genau registrieren, wie sich die USA in dieser Situation verhalten.

Keine Show mehr

Ballistische Raketen rollen auf dem Roten Platz während der Militärparade zum Tag des Sieges in Moskau.

Wie würden die USA reagieren?
Hodges
Das Pentagon hat für den US-Präsidenten eine Liste von Möglichkeiten ausgearbeitet. Wir kennen diese Liste nicht, und nur er weiß, für welche Option er sich entscheidet, aber es wird eine Antwort sein, die vernichtende Konsequenzen für Russland hat. Es wird allerdings höchstwahrscheinlich kein Atomschlag sein, sondern ein konventioneller Gegenschlag.
Wie könnte der aussehen?
Hodges
Ich kann Ihnen sagen, was ich empfehlen würde: Zum Beispiel einen Schlag gegen die russische Schwarzmeerflotte. Keinen Angriff auf russisches Territorium. Präsident Biden sagte kürzlich: „Was auch immer unsere Reaktion wäre, sie würde die Welt für Russland verändern.“
Viele sagen jetzt, auch wenn die Gefahr, dass Putin Atomwaffen einsetzt, gering sei, so müsse man sie dennoch ernst nehmen. Aber was bedeutet das konkret?
Hodges
Das ist eine gute Frage. Es geht um Abschreckung. Wenn Putin sieht, dass selbst das geringe Risiko eines Atomschlags bewirkt, dass der Westen einknickt und ihm etwa die Krim zugesteht oder was auch immer – was wäre die Lektion, die er daraus zieht? Er würde diese Drohungen fortsetzen. Vielleicht verlangt er bald Estland, und wenn man ihm das nicht zugesteht, droht er erneut mit Atomwaffen … Ich komme noch einmal auf das Risiko zurück: Ein Atomschlag bringt Putin keinen unmittelbaren militärischen Nutzen, Russland würde also nur die Nachteile – den Gegenschlag und die Ächtung – ernten.
Die Frage ist, ob Putin diese Entscheidung so rational trifft.
Hodges
Es gibt Leute in Russland – Oligarchen und andere –, denen klar ist, dass es ein Leben nach Putin geben wird. Das kann in einem Jahr sein oder in zehn Jahren. Sie müssen überlegen, was Putins Vorgehen für Russland, aber auch für sie selbst, für ihre Familien und Unternehmen bedeutet. Der Schlüssel ist, dass wir einen Weg finden, mit diesen Leuten zu kommunizieren, die dafür verantwortlich sind, dass Putin noch an der Macht ist. Ich spreche nicht von einem Coup oder einem von außen betriebenen Regimewechsel! Aber die Leute müssen Druck auf Putin ausüben und ihm klarmachen, dass er in dieser Sache nichts gewinnen kann. Ich vermute, dass verschiedene Regierungschefs bereits genau daran arbeiten.
Europäische Regierungschefs? 
Hodges
Nicht nur. Natürlich die USA, aber auch China, Indien … Sie müssen den Leuten in Machtpositionen sagen, dass Russland keine rosige Zukunft haben wird, wenn Putin so weitermacht. Von den Leuten rund um ihn muss der Druck kommen. Von Leuten, die viel zu verlieren haben.
Sie sagen, Sie befürworten keinen Regimewechsel von außen, und alle westlichen Regierungschefs beteuern dies. Aber meinen Sie nicht, dass Putin dies dennoch befürchtet? Immer wieder wird verlangt, dass er wegen Kriegsverbrechen vor den Internationalen Strafgerichtshof gebracht werden soll. Das würde bedeuten, er könnte lebenslang im Gefängnis landen. Was anderes wäre das als ein Regimewechsel?
Hodges
Ich widerspreche. Klar behauptet Putin, dass der Westen Russland zerstören und ihn stürzen wolle. Aber wie Biden vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen sagte: Dieser Krieg wurde von einer Person begonnen, nämlich von Putin. Ein Regimewechsel von außen hat selten etwas Gutes gebracht. Wenn das russische Volk sagt, es hat genug, dann muss es wissen, was es tut. Aber natürlich muss das, was Putin getan hat, Konsequenzen haben.

Schneller als Schall

Putin verfügt nach eigenen Angaben über neuartige Hyperschallraketen.

Was erwarten Sie militärisch in den kommenden Monaten? Wird der Vormarsch der Ukraine durch den Winter gestoppt?
Hodges
Das glaube ich nicht. Die Ukrainer sind ja nicht aus Florida, so wie ich. Sie werden versuchen, den Druck auf die russischen Kräfte aufrechtzuerhalten, damit die sich nicht neu aufstellen können. Die Russen sind erschöpft und verwundbar, auch auf der logistischen Ebene. Ich vermute, die Ukraine wird die russischen Streitkräfte bis zum Ende dieses Jahres auf die Linie zurückdrängen, wo diese vor dem 24. Februar waren. Und Mitte des kommenden Jahres werden die ukrainischen Soldaten auf der Krim sein.
Was ist der Grund dafür, dass die Ukraine so viel stärker ist als erwartet?
Hodges
Sie haben recht, anfangs dachten die meisten, die Ukraine wäre weitaus schwächer. Ich selbst habe die russischen Fähigkeiten weit überschätzt, auch als ich noch Kommandeur der US-Armee in Europa war. Was mir damals noch nicht bewusst war, war die enorme Korruption im russischen Verteidigungsministerium, vom Minister abwärts. Die Soldaten zahlen den Preis dafür, wenn die oberen Hierarchien korrupt sind, wenn die Berichte über Fehler, Qualität und Ressourcen geschönt und mangelhaft sind. Man sagt zum Beispiel, man habe 100.000 Soldaten, obwohl es nur 70.000 sind, und so bekommt man das Geld für 100.000 und behält sich den Rest. Das passiert auf allen Ebenen. Ich kann Ihnen sagen, was jetzt gerade passiert: Einige der Leute, die beauftragt sind, 300.000 neue Soldaten zu finden, werden sehr reich werden. Weil sich viele von der Pflicht freikaufen werden, eine alte russische Praxis.
Ist der Moment gekommen, wo man darüber nachdenken muss, welchen Ausweg es für Putin geben könnte?
Hodges:
Es ist nicht unsere Verantwortung, Putin an der Macht zu halten.
Nein, aber möglicherweise eine Sorge des Westens, was passieren könnte, wenn er vor einer Niederlage steht?
Hodges
Die falsche Antwort wäre eine Art von Lösung, die ihn das Gesicht wahren ließe auf Kosten der Ukraine. Zudem wäre dieser Versuch zum Scheitern verurteilt. Wer glaubt denn, dass Putin sich damit zufriedengeben würde, ein Stückchen des Donbass oder der Krim behalten zu dürfen? Niemand glaubt das. Wir haben diese Fehler gemacht, als Putin 2008 in Georgien einmarschiert ist, als er 2014 die Krim annektierte und als er ab 2015 das Assad-Regime unterstützt hat. Wir, der demokratische Westen, haben nicht adäquat auf diese Ereignisse reagiert. Putin musste denken, er könne tun, was er will. Ich habe eine einzige Kritik am bisherigen Vorgehen meiner Regierung seit Beginn der Invasion in der Ukraine: Sie hat das Risiko einer angeblichen Provokation Putins überschätzt. Erinnern Sie sich, vor sechs Monaten haben wir uns bange gefragt, ob wir den Ukrainern Stinger-Flugabwehrraketen liefern können, denn falls die Ukrainer damit einen russischen Hubschrauber abschießen, könnte das die Russen provozieren? Aus heutiger Sicht erscheint das lächerlich. Das Einzige, was Putin provoziert, ist Schwäche.

Frederick Benjamin „Ben“ Hodges, 64,

ist Generalleutnant a. D. der Heeresstreitkräfte der US-Armee. Von 2014 bis Ende 2017 war er Oberkommandierender der US-Landstreitkräfte für das Gebiet von Europa und der Nachfolgestaaten der Sowjetunion – einschließlich Russlands. 

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur