Wolfgang Dietrich: "Angst, Eifersucht und Hass spielen tragende Rolle"
Interview: Sara Hassan und Stephan Wabl
profil online: Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern scheint ein ewiger Teufelskreis zu sein. Wie beurteilen Sie den Dauerkonflikt als Friedensforscher?
Wolfgang Dietrich: Die friedenswissenschaftliche Sicht unterscheidet sich von einer politischen oder journalistischen Betrachtungsweise, die sich sehr stark an der Oberfläche orientiert. Sehen wir uns die aktuelle Situation an: Es wird geschossen, Menschen sterben, das wollen wir beenden. Das ist die kurzfristige Sichtweise. Der wissenschaftliche Zugang geht aber auch auf die tieferen Strukturen ein. Eine davon ist die historische Dimension, die uns zur Frage der Staatengründung führt, im konkreten Fall die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948. Darüber hinaus geht es um die gesamte Ordnung, die im Nahen Osten nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen wurde, und damals zunächst postimperialen Charakter hatte. Diese Strukturen wurden nie wirklich repariert.
profil online: Lässt sich ein derartiger Konflikt überhaupt lösen?
Dietrich: Im Lichte der völkerrechtlichen Grundprinzipien kann so etwas nicht einfach am Reißbrett verändert werden. Dazu kommen die gewachsenen sozialen und kulturellen Strukturen der letzten hundert Jahre. Diese kann man ebenfalls nicht beliebig verändern. Es geht um einen Zeitraum, der mehrere Generationen umfasst. Die Friedens- und Konfliktforschung spricht daher von Konflikttransformation, nicht von Konfliktlösung. Denn Konflikt ist im eigentlichen Sinn des Wortes nicht lösbar, bestenfalls transformierbar.
profil online: Es sollte also eine Kombination aus kurzfristigen politischen Entscheidungen und längerfristiger Aussöhnung geben?
Dietrich: Ja, zuerst muss die Gewalt eingestellt werden. Aber selbst wenn das momentan gelingt - was in diesem Fall schon ein großer Erfolg wäre - ist noch kein Ziel erreicht. Da fängt die eigentliche Arbeit erst an.
Transformation ist nicht das Erreichen eines paradiesischen Zustands. Wir sprechen davon, wenn eine Änderung erzielt wird, die aus der Sicht der betroffenen Parteien das Leben irgendwie angenehmer macht. Mit jeder Transformation wird eine neue Situation geschaffen, die ihrerseits neue Herausforderungen birgt.
profil online: Apropos wirkungsvolle Methoden: Wie sinnvoll sind Sanktionen?
Dietrich: Ich mag das Wort "Sanktion" überhaupt nicht. Dabei schwingt mit, dass es eine übergeordnete Autorität gibt, welche die Untergeordneten bestraft. Das verschleiert den eigentlichen Sachverhalt. In der Ukraine zum Beispiel ergreift die EU ohne Zweifel eine Partei. Sie kann sagen, wenn die Gegenpartei sich so verhält wie sie es tut, wollen wir mit ihr nicht und ergreifen diese und jene Maßnahme. Das ist im eigentlichen Sinn des Wortes, nämlich heiligen, aber keine Sanktion. Einseitige Maßnahmen im Konflikt sind weder heilig, noch heilen sie.
Ich bin bezüglich der transformativen Kraft von solchen Sanktionen skeptisch. Es mag die eine oder andere Maßnahme greifen, aber historisch betrachtet sind die Erfolgsgeschichten ausgesprochen rar.
profil online: Wie arbeitet die Konfliktforschung, was sind ihre Grundprinzipien?
Dietrich: Ein Prinzip des friedenswissenschaftlichen Zugangs ist, dass man den Konflikt nicht mit den Methoden lösen kann, die ihn geschaffen haben. Konflikte drehen sich immer um menschliche Zusammenhänge. Daher muss man fragen: Was beeinflusst uns jenseits des Verstands? Mit reinem Verstand wäre der Konflikt lösbar wie eine mathematische Gleichung. Wir Menschen sind aber viel mehr als nur Verstandeswesen.
profil online: Wenn Konflikte nicht nur durch Vernunft lösbar sind, an welchen Stellen sollte man ansetzen?
Dietrich: Der Mensch ist ein facettenreiches Wesen. Wir sind von Sexualität, Emotionalität, Mentalität und Spiritualität getrieben. Unser Konfliktverhalten wird beeinflusst durch Familie, Gemeinschaft und Gesellschaft. Darum spielen Größen wie Angst, Eifersucht und Hass eine tragende Rolle. Sie sind oft mächtiger als der Verstand.
Zu bedenken wären auch kulturelle Tiefencodes: Im Nahen Osten kann man diese relativ leicht ausmachen. Das Denken dreht sich stark um den Begriff der Gerechtigkeit - und zwar bei allen Akteuren. Moslems, Christen und Juden haben ein ethisches System entwickelt, für das Gerechtigkeit einer der zentralen Begriffe ist. Daher weiß die eine Partei ganz genau, was die andere meint, wenn sie von Gerechtigkeit spricht. Die Gerechtigkeit des einen ist die Gefahr für den anderen: Man fürchtet sich voreinander und trifft im Vorhinein Maßnahmen, die immer weiter in diese Spirale der Gewalt hineinführen. Das ist nicht rational und trotzdem entscheidend für den Fortgang des Konflikts.
profil online: Gab es eine Krise, die ein ähnlicher Teufelskreis wie der Israel-Palästina-Konflikt war, und erfolgreich bewältigt wurde?
Dietrich: Ein relativ gelungenes Beispiel wäre die Zentralamerika-Krise. In den 1980ern gab es klar definierte gegnerische Gruppen: In El Salvador und Guatemala hatten sich linke Rebellengruppen vereint, um nach der Macht im Staat zu streben. Auf der anderen Seite kämpften rechte Regierungen mit ihrer Armee dagegen an. Durch den Friedensprozess, der bis in die frühen 1990er hineinging, gibt es dieses Konfliktbild heute nicht mehr: Es wurde eine gewisse Transformation erreicht. Es ist sicher besser keinen Bürgerkrieg zu haben damit hat man aber nicht das Gewaltproblem gelöst.
Das Problem ist: Zwar ist der Rebellenkrieg heute vom Tisch, die sogenannte einfachkriminelle Gewalt ist aber so hoch, dass mehr Menschen eines gewaltsamen Todes sterben als während des Krieges. Heute sind das kriminelle Banden, die in Drogenhandel verstrickt sind. Dieser Umstand ist die unmittelbare Folge des Krieges.
profil online: Wenn man den menschlichen Faktor hervorkehrt: Gibt es Parallelen zwischen politischen und privaten Konflikten?
Dietrich: Jede politische Figur hat alle Eigenschaften eines Menschen - sowohl die rationalen als auch die psychologischen Seiten. Es gibt keine Figur, bei der die anderen Facetten keine Rolle spielen. Jeder, der einmal bei einer diplomatischen Verhandlungen war, weiß: Über diese Momente werden oft auch die großen Entscheidungen herbeigeführt.
profil online: Sie sind für die inhaltliche Gestaltung eines Sommerkurses für Jugendliche zu Fragen der Konfliktransformation zuständig: Welche Techniken werden den jungen Menschen hier nähergebracht?
Dietrich: Wir haben bei unseren Kursen von häuslicher Gewalt in der Familie bis zum internationalen Konflikt alles im Auge. Wie man Gewalt in der Schulklasse begegnet bis hinauf zu diplomatischer Ebene, wo es um zwischenstaatliche Gewalt geht - unter anderem auch mit den Mittel des Theaters. Im Laufe des Sommerkurses wollen wir 16-18-jährigen Schülern diese Methoden präsentieren.
profil online: Kann man Frieden überhaupt lernen und lehren?
Dietrich: Frieden kann man prinzipiell lehren allerdings ist das in unserem Bildungssystem schwierig, da in den Schulen und an den Universitäten alles auf Wettbewerb angelegt ist und der Wettbewerb das Gewaltpotential bereits in sich trägt. Das Prinzip des UNESCO-Lehrstuhl ist auf kooperatives Lernen ausgelegt. Uns interessiert nicht, wer der beste Student des Lehrgangs ist, sondern das gemeinsame bestmögliche Ergebnis. Ich bin überzeugt, dass man lernen kann, wie man Konflikte friedlich löst. Dafür braucht es eine gewisse Selbstreflexion und Verständnis dafür, wer ich als Mensch bin. Das ist auch der Grundstock, um anderen Menschen respektvoll begegnen und mit Konflikten umgehen zu können. Darum geht es auch in unserem Studiengang und beim diesjährigen Sommerkurs.
Zur Person: Prof. DDr Wolfgang Dietrich, 58, ist UNESCO-Chairholder für Friedensstudien an der Universität Innsbruck.
Der Sommerkurs "Acting for Peace" der Schulinitiative United World College (UWC) findet von 2. bis 16. August mit rund 30 Jugendlichen aus Europa, Nordafrika und dem Nahen Osten in Imst in Tirol statt.