Interview

Žižek: "Die westliche Apathie ist grenzenlos!"

Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek sieht in der Ukraine-Krise den Beginn eines Weltkrieges, er fordert eine fundamental neue europäische Sicherheitskoordination - und geht mit der pazifistischen Linken hart ins Gericht.

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Kann es noch schlimmer kommen? Zweifellos. Und das wird es auch, davon ist er überzeugt. Mit den Worten, er sei "krank und total deprimiert", beantwortete der Philosoph Slavoj Žižek vor vier Wochen eine Interview-Anfrage von profil: "In welcher Zeit leben wir nur?" Dennoch zeigte er sich bereit, für ein Gespräch zur Verfügung zu stehen - nur bitte nicht länger als 30 Minuten: Er werde so schnell müde.

Dienstag vergangener Woche findet das Interview statt, es ist allerdings nur telefonisch möglich, denn inzwischen leidet Žižek, 73, daheim in Ljubljana auch noch an einer Omikron-Infektion. Er sei auch deshalb so verzweifelt, weil die europäische Linke die Chance gehabt habe, für die Ukraine einzutreten. Stattdessen scheinen alle Anstrengungen, die in einem offenen Brief an den deutschen Kanzler Olaf Scholz vergangene Woche kulminierten, nur der Erhaltung unserer apathischen, aber relativ luxuriösen Existenz zu gelten. Es sei ein Alptraum, auch diese Covid-Plage, die er bislang so konsequent hatte vermeiden können, sagt er einleitend, er hoffe aber, seine Stimme werde ihm den Dienst nicht versagen. Lakonischer Zusatz: "Wenn ich kollabiere, gebe ich Bescheid." Unnötig zu sagen, dass Žižek sich im Lauf des hier wiedergegebenen Gesprächs in Rage reden und die veranschlagten 30 Minuten am Ende locker verdoppelt haben wird. Seinen Galgenhumor hat er jedenfalls nicht eingebüßt: Intellektuellen könne man grundsätzlich nicht vertrauen, erklärt er zum Abschied, deshalb bitte er um eine gleichsam "stalinistische Zensur". Und mögen wir hoffen, sagt er noch, dass die Telefonrechnung, die nächstes Mal, wenn wir einander wieder hören, fällig werde, nicht schon in Rubel zu bezahlen sein werde.

profil: Sie schrieben unlängst, der Dritte Weltkrieg habe "in gewissem Sinn" bereits begonnen. In welchem Sinne denn?
Žižek: Die gegenwärtige Krise geht über Russland und die Ukraine weit hinaus. Ich glaube, im Hintergrund wird an der Vision einer alternativen Globalisierung gearbeitet. Der West-Kapitalismus mit seiner Fixierung auf Dollar und Euro soll zu Fall gebracht werden, Russland und China wenden sich an die sogenannte Dritte Welt. Die Globalisierung ist auf westliche Werte abgestimmt, sie soll durch eine neue, andere Globalisierung ersetzt werden, die auf Dekolonisierung zielt. Russische Medien stellen den ukrainischen Widerstand als Protest gegen die Dekolonisierung dar, als wäre die Ukraine eine westliche Kolonie gewesen und Russland "befreie" sie nun gegen ihren Willen.

profil: Aber inwiefern ist dies schon ein Weltkrieg?
Žižek: Sehen Sie sich an, was gerade in Lateinamerika oder in Indonesien passiert. In Syrien und vielen afrikanischen Ländern operiert Putins inoffizielle Söldnertruppe, die rechtsextreme "Gruppe Wagner". Freunde in Afrika erzählen mir, wie kolonial China agiert und etwa Kupferminen in Sambia ausbeutet - und wie brutal dies geschieht. Wir erleben also nicht nur einen kulturellen Krieg gegen den westlichen Liberalismus, sondern auch ein globales neues Wirtschaftsprojekt. Russland und China bereiten ihre eigene Spielart der Globalisierung vor; sie sieht ständige militärische Interventionen zur Stärkung lokaler autoritärer Regime vor. Und sie beuten trickreich auch die westliche Heuchelei aus. Warum gilt Wladimir Putin plötzlich als Verbrecher, wenn er Kiew bombardiert? 2015 bombardierte er Aleppo nicht weniger brutal. Wieso wurde das toleriert?

Diese Heuchelei kommt nun zum Vorschein.

profil: Sie scheint sich unter dem Druck der Ereignisse sogar noch zu verstärken.
Žižek: Warum hegen so viele Linksliberale immer noch Sympathien für Russland? Weil sie den amerikanischen Imperialismus als das große Böse sehen. Der öffentliche Diskurs in Moskau hat sich inzwischen auf die Ebene Trumps oder noch tiefer gesenkt. Die Kriegsveteranen im Land fordern viel drastischere Maßnahmen, rufen explizit nach einem "wirklichen Krieg" statt der "Masturbation", die gerade stattfinde. Diese Vulgarität prägt derzeit die Atmosphäre.

profil: Wie sollte der Westen auf solch unverhohlene Kriegslust reagieren?
Žižek: Natürlich müssen wir einen drohenden Weltkrieg verhindern. Aber das Schlimmste wäre jetzt, in einen abstrakten Pazifismus zu verfallen. Pazifismus war stets ein Hauptanliegen aller Besetzer. Natürlich will Israel Frieden im Westjordanland, nur dann können sie unbehindert ihre Siedlungen aufbauen. Wollte Deutschland 1940 Frieden in Frankreich? Na sicher! Ich frage meine pazifistischen Freunde also, was genau sie mit dem Begriff Frieden meinen? Sollte die Ukraine einfach aufhören zu existieren? Sich mit friedlichem Widerstand bescheiden? Das wäre doch verrückt! Die Russen würden lachen, das Land besetzen, dessen Kultur verändern und die Geschichte umschreiben.

profil: Besonders gut läuft es für Russland gerade nicht.
Žižek: Es ist verrückt: Indem die Russen intervenieren, provozieren sie exakt das, was sie zu bekämpfen vorgeben. Viele Länder wollen plötzlich unter den Schutzschirm der NATO. Und eine echte ukrainische Identität haben nun erst die Russen fixiert, vorher lebte in der Ukraine eine durchmischte, entspannte Gesellschaft. Mir bereitet nicht nur der Krieg Sorgen, sondern seine Kombination mit anderen globalen Krisen. Weltweit herrschen Trockenheit, Lebensmittelknappheit, Pandemie. Die vier apokalyptischen Reiter kommen bereits bei uns an. Wir haben die Pest-Covid und andere Seuchen-, wir haben Krieg, Hunger und Erderwärmung. Um meine Freunde zu provozieren, fordere ich einen neuen Kommunismus. Damit meine ich natürlich einen Kriegskommunismus, nicht Terror und Diktatur: eine globale soziale Koordination der Produktion von Sicherheit. Wir brauchen eine weltweit koordinierte Pandemiebekämpfung und Lebensmittelverteilung. Wenn wir dies nicht erreichen, wird es unvorstellbare Konsequenzen geben. Aber das ist der Wahnsinn der Menschheit: In einem Augenblick, da eine solche globale Koordination nötiger denn je wäre, geschieht dieser Krieg.

profil: Wie wird er sich entwickeln?
Žižek: Etwas Seltsames ist in den letzten zwei, drei Wochen passiert, das mich an den Beginn der Pandemie erinnert. Damals war die Rede von maximal zwei bis vier Wochen, dann sei alles vorbei. Aber nichts endete. Auch in Bezug auf diesen Krieg haben wir uns unbewusst darauf eingestellt, dass die Ukraine schnell verlieren werde. Sie leistete aber Widerstand, was uns in eine völlig neue Situation gebracht hat. Nun machen wir uns mit dem Gedanken vertraut, dass dieser Konflikt andauern werde, dass der Krieg normalisiert werden müsse. Und Russland hat einen gut ausgedachten Plan. Trotz des Krieges fließt russisches Gas durch die Ukraine in den Westen, Russland erhält dafür sehr viel mehr Geld, als Europa an Unterstützung für die Ukraine ausgibt. Das ist das russische Modell: Wir haben lokale Kriege, aber die kapitalistische Versorgung läuft problemlos nebenher. Auf diese neue, furchterregende Normalität, die ich "Heißen Frieden" nenne, setzt Russland.

profil: Ist ein heißer Frieden nicht besser als ein prolongierter Krieg?
Žižek: Nein. Es gibt eine Art von Frieden, der schlimmer wäre als ein Krieg, der wenigstens eine gewisse Logik hat: Die Dinge explodieren, und dann sind sie vorbei. Was nun passiert, könnte sich immer weiterschleppen. Das ist die russische Logik: Wenn Europa sich zu sehr widersetzt, wird vor immer ernsteren Konsequenzen gewarnt. Die Situation wird dadurch immer schlimmer, aber stets als der gute Wille präsentiert, immerhin die totale Katastrophe vermieden zu haben. Alle Kompromisse, die wir bemühen, um diese Katastrophe zu vermeiden, werden dazu führen, dass die Situation außer Kontrolle gerät.

profil: Wie also sollte Europa der Gefahr der Eskalation begegnen?
Žižek: Europa muss sich neu koordinieren und Wege finden, russischem Druck auszuweichen. Niemand scheint darüber froh zu sein, dass ein kleines, schwaches Land Widerstand gegen einen viel stärkeren Gegner leistet! Das ist aber ein Triumph! Ich stimme mit Francis Fukuyama überein, der meint, dass sich da ein Wunder ereignet habe: Die westliche Apathie ist grenzenlos; wir wissen, dass wir ernstlich gegen Erderwärmung und Pandemie kämpfen müssten, aber wir tun es nicht, halten bloß große Reden auf wichtigen Konferenzen. In der Ukraine zeigen die Menschen, dass sie bedingungslos für liberale Werte kämpfen können, das ist einzigartig, darüber sollten wir uns freuen. Aber wir fürchten uns unbewusst vor dem ukrainischen Widerstand. Wir ziehen einen falschen Frieden vor, solange er nur schnell hergestellt wird. Das ist wie die Geschichte des Ödipus. Darin gibt es eine Prophezeiung: Der Sohn werde den Vater töten und die Mutter heiraten - und diese Prophezeiung wird wahr erst durch das Wissen darum und durch die Absicht, sie zu durchkreuzen. Etwas Ähnliches könnte sich in der Ukraine ereignen. Je vehementer wir versuchen, das Schlimmste zu verhindern, desto näher kommen wir ihm.

profil: Sie meinen ernsthaft, ein neuer Kriegskommunismus könnte die Lage verbessern?
Žižek: Ich meine ja nicht die Rückkehr zum Zentralkomitee. Aber wie soll es mit der vom Klima-Chaos ohnehin schon angeschlagenen Landwirtschaft weitergehen, wenn Westeuropa mehr als die Hälfte seiner Düngemittel aus Russland bezieht? Wir nähern uns offensichtlich einer Ausnahmesituation. Im Gegensatz zur "Dritten Welt" haben wir in Europa seit 1945 keine Erfahrung mit Langzeitkrisen. Dieser neue Krieg wird nicht einfach wieder verschwinden. Er ist nur der Anfang. Dutzende Millionen Menschen werden weltweit flüchten müssen.

profil: Kann in der Destabilisierung einer längst desolaten Weltordnung nicht auch ein Funken Hoffnung liegen?
Žižek: Putin arbeitet mit Hochdruck an der Zerstörung eines vereinten Europas; er setzte sich für den Brexit ein, freute sich über den Katalonien-Konflikt und die AfD. Alles, was Europa schwächte, war Putin recht - darin gleicht er Trump und Bannon. Es ist an der Zeit, dass Europa sich auf neuer Basis wirklich vereint. Ja, die alte Weltordnung bröckelt, aber wir müssen ehrlich sein: Die sich abzeichnende neue Weltordnung sieht noch schlimmer aus. Ein echter Cyber-Krieg etwa hat noch gar nicht begonnen. Die Supermächte könnten einander über Systemsabotage schwerste Schäden zufügen. Putin hat sich systematisch, auch materiell, auf diesen Krieg vorbereitet. Und die NATO nimmt de facto an diesem schon teil, wenn auch noch nicht offen. Russland aber wertet diese indirekte Beteiligung bereits als den Beginn eines Weltkrieges. Dieser kann noch gestoppt oder zumindest eingegrenzt werden - aber nur, wenn wir auch zugeben, was da bereits passiert.

profil: In dem umstrittenen offenen Brief deutscher Intellektueller an Bundeskanzler Scholz wird gefordert, Deutschland solle keine Kriegsmaschinen und Waffen mehr an die Ukraine liefern; implizit wird darin die Ukraine zur Kapitulation aufgefordert.
Žižek: Warum sagt man das nicht ganz offen? Das ist es, was ich so heuchlerisch finde. Wenn der Frieden unser zentraler Wert ist, heißt das einfach, dass die Ukraine aufgeben muss. Wir wissen aber von anderen Angriffskriegen, dass eine Kapitulation zu totalem kulturellen Abbau führen wird. Man muss die Linke davon überzeugen, dass die Unterstützung des ukrainischen Widerstands nicht automatisch bedeutet, den westlichen Imperialismus zu verteidigen. Wollen wir die Verteidigung eines authentischen Unabhängigkeitskampfs wirklich den Rechten überlassen? Das ist eine Tragödie, eine Katastrophe für die Linke.

profil: Als wäre das Recht auf Widerstand nicht selbstverständlich.
Žižek: Eben. Wir hören dauernd, wie sehr Amerika die Ukraine angeblich in den Krieg dränge. Aber als Russland seinen Einmarsch ankündigte, sagte Joe Biden etwas sehr Ambivalentes: Man müsste erst prüfen, ob es eine begrenzte oder eine groß angelegte Intervention sei. Damit machte er Russland ein Angebot: Wenn ihr nur den Donbass einnehmt, nicht die ganze Ukraine, könnte man über einen Deal nachdenken, wie damals im Fall der Krim. Das war ein extrem pragmatisches Angebot.

profil: Aber war es auch klug?
Žižek: Nein. Jeder gute Verhandler weiß, dass man seine Zugeständnisse nicht schon im Vorfeld bekannt geben sollte. Aber niemand kann Biden übermäßiges Säbelrasseln vorwerfen. Er lehnte auch alle Forderungen nach einer Flugverbotszone ab, denn das hätte den offenen Krieg zwischen Russland und der NATO bedeutet. Ich sehe die enorme Militarisierung der USA nicht; sie geben der Ukraine gerade genug, um den Widerstand am Laufen zu halten.

profil: Funktionieren die Sanktionen?
Žižek: Nein. Russland hat genug Lebensmittel und Ressourcen, wenigstens vorläufig. Aber es sieht auch dort nach Krise aus. Es ist jetzt entscheidend, nicht einen Kampf der Kulturen heraufzubeschwören, sondern den Kontakt zu den Kriegsgegnern und Dissidenten in Russland aufrechtzuerhalten. Schreibt den russischen Widerstand nicht ab! Ich habe vor ein paar Wochen einen Aufruf an jene Russen gestartet, die den Krieg ablehnen. Ich sagte ihnen: Ihr seid die wahren Helden, die echten russischen Patrioten. Ich finde ja, dass die Ukraine letztlich auch für die russische Freiheit kämpft. Man muss das betonen!

profil: Und die Linke verzettelt sich einstweilen?
Žižek: Die Linke hielt die Globalisierung für eine Katastrophe, nun kriegt sie eine viel schlimmere. Sie wägt ab, will unparteiisch bleiben. Die radikale Rechte ist an Putins Seite. Die Linke ist bloß opportunistisch. Nehmen Sie Sahra Wagenknecht: Mehr als pazifistisches Blabla kam von ihr nicht. Da wird über die Zukunft Europas entschieden, und alles, worum man sich in Deutschland sorgt, sind Gaslieferungen?

profil: Peter Sloterdijk sagt, man müsse Putin "beim Scheitern assistieren", ihn so sorgsam in die Niederlage begleiten, "dass wir nicht mit untergehen" und "dass man seine Tendenzen zum Verrücktwerden nicht verstärkt".
Žižek: Ich habe ein Problem mit dem "Assistieren". Denn Putin rechnet mit unserer Achtsamkeit. An Putins Irrsinn glaube ich übrigens nicht. Sich wie ein Wahnsinniger zu gerieren, ist Teil seiner Strategie. Er und Lawrow spielen ein doppeltes Spiel, indem sie ständig vor Eskalation warnen und diese zugleich befeuern.

profil: Putin nimmt wie Shakespeares Hamlet hinter der Fassade des Wahnsinns kaltblütig Rache.
Žižek: Absolut! Aber in der Politik gibt es keinen Wahnsinn, nur böse Taktik.

profil: Ist der Pazifismus am Ende?
Žižek: Die pazifistische Linke im Westen wird die große Verliererin sein. Sie wird ihre Glaubwürdigkeit einbüßen. Denn der Westen ist in seiner eigenen Melancholie gefangen: Wir wissen, was wir eigentlich tun müssten, sehen aber, dass wir es nicht zuwege bringen. Wenn wir uns nicht neu organisieren, sind wir verloren.

Slavoj Žižek, 73

Der aus Slowenien gebürtige Philosoph gehört zu den unkonventionellsten Geistesarbeitern der Gegenwart. Sein politisches Denken ist von Marxismus und Psychoanalyse geprägt, Lacan und Hegel sind seine Galionsfiguren. Žižek gilt als Popstar der Philosophie, dementsprechend groß ist die internationale Nachfrage nach seinen Texten und Lectures. Neben zahllosen Buchveröffentlichungen (zuletzt: "Heaven in Disorder",2021) und den vielen Symposien, an denen er teilnimmt, unterhält er Lehraufträge in Ljubljana, London, Seoul und New York. Derzeit fesselt ihn eine Covid-Infektion an sein Bett, aber Ende Mai, so hofft er, werde es wieder auf Reisen gehen.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.