Zwei Jahrzehnte Europa-Politik: Asselborns letzte Etappe
Von Siobhán Geets
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Jean Asselborn sitzt jetzt wieder öfter hinter dem Steuer. Es ist lange her, dass er selbst fahren musste, als Außenminister war er stets mit einem Chauffeur unterwegs, und er muss sich wieder daran gewöhnen. Zum Treffen mit profil in Luxemburg kommt er mit dem Auto, die schmale Lücke in der Parkgarage macht ihm ein wenig zu schaffen. Der Tesla, den er sich vor Kurzem zugelegt hat, ist breiter, als man denkt, dann ist noch eine Betonsäule im Weg und Asselborn muss zurückschieben. „Meinen Führerschein habe ich auch vergessen“, sagt er. Das macht nichts, man kennt ihn hier.
Ganze 19 Jahre lang war Jean Asselborn Spitzendiplomat von Luxemburg. Er war länger im Amt als jeder andere Außenminister in der EU. Anfang Oktober hat seine Partei, die sozialdemokratische LSAP, die Wahlen verloren, Mitte November trat Asselborn ab. Seither hat er fast noch mehr zu tun. Europäische Medien, allen voran aus Deutschland, wollen noch ein letztes Interview, der „Spiegel“ widmete ihm vier Seiten, die „Süddeutsche“ fuhr mit ihm auf die Schlachtfelder nach Verdun. Ich habe Asselborn Ende Oktober gefragt, ob er mit mir Rad fahren gehen würde. Er war sofort dabei, wir verabredeten uns für Anfang Dezember. 40 Kilometer, schlug er vor, von seinem Heimatort Steinfort nach Mersch und zurück. Es sei eine Tour ohne Steigungen.
Anfang Dezember in Luxemburg: Es regnet. Es ist die Art westeuropäischer Regen, der von allen Seiten kommt, von links und rechts, vorn und hinten, von oben und, wenn man auf dem Rad sitzt, irgendwie auch von unten.
Als es an einem Freitag kurz aufklart, fahren wir los. Das Haus, in dem Asselborn mit seiner Frau lebt, liegt auf einem Hügel, ein Güterweg führt von dort die Felder entlang auf die Straße. „Genau die Strecke bin ich auch mit Kerry gefahren!“, ruft Asselborn. John Kerry, von 2013 bis 2017 Außenminister der USA, war damals in seinen 70ern – wenn er das geschafft hat, sollte ich das auch hinbekommen.
Doch dann fahren wir einen Hügel hinunter, Asselborn zischt davon, und ich mache mir Sorgen, wie ich da später wieder hinaufkommen soll.
Asselborn ist ein geübter Radler. Jeden Sommer fährt er seine eigene Tour de France, ein paar Hundert Kilometer durch Südfrankreich und den legendären Mont Ventoux hinauf. Auch in seiner Zeit als Außenminister tourte er, sooft es ging, mit dem Rad durch Luxemburg, auf rund 12.000 Kilometer kam er jährlich.
Held und Reizfigur
Asselborn hat ein kleines Land vertreten, Luxemburg ist gerade einmal so groß wie Vorarlberg, doch die Aufmerksamkeit, die er in Europa genoss, steht dazu in keinem Verhältnis. Das liegt einerseits an Luxemburg – das EU-Gründungsmitglied spielte in der Union stets eine bedeutendere Rolle, als es seiner Größe entspricht –, andererseits an Asselborn selbst. Der 74-Jährige ist bekannt für seine unmissverständlichen, teils provokanten Aussagen, das hat ihm zu einer gewissen Beliebtheit unter Journalisten verholfen. Er war viele Jahre Stammgast in deutschen Talkshows, gab unzählige Interviews und teilte ordentlich aus. Bei den Doorstep-Interviews nach den Ratstreffen in Brüssel wurde er stets von Reportern umringt. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass er etwas sagt, das zur Headline taugt.
Über die Politik in Österreich will Asselborn heute nicht mehr sprechen, an der ÖVP hat er sich ohnehin jahrelang abgearbeitet. Seinen damaligen Amtskollegen, den späteren Bundeskanzler Sebastian Kurz kritisierte er bei jeder Gelegenheit, und nicht nur ihn. Asselborn schimpfte über Italiens Rechte, bezeichnete den damaligen US-Präsidenten Donald Trump als „Verbrecher“ (worauf Außenminister Mike Pompeo seine geplante Reise nach Luxemburg kurzfristig absagte) und forderte 2016 gar den Ausschluss Ungarns aus der EU. Über den Krieg in der Ukraine sagte er, dieser könnte nur beendet werden, indem man „Putin physisch eliminiert“. Als Italiens damaliger Innenminister Matteo Salvini bei einem EU-Treffen in Wien im September 2018 gegen Flüchtlinge hetzt, wirft ihm Asselborn ein beherztes „Merde alors“ entgegen, was so viel bedeutet wie „Scheiße noch mal“. Das Video davon ging viral, Asselborns Fluch wurde auf T-Shirts gedruckt, es diente als Titel für einen Abend im Burgtheater und für eine Biografie der ehemaligen „Kurier“-Journalistin Margaretha Kopeinig über den Außenminister.
Die europäische Linke hat Asselborn für seine undiplomatischen Worte gefeiert, Konservative, darunter die ÖVP, schäumten.
Hat er je etwas bereut?
„Überhaupt nichts“, sagt Asselborn, „ich habe immer im Sinne eines Europas argumentiert, das zusammenwächst.“
Asselborn mag in all den Jahren viele Menschen vor den Kopf gestoßen haben, er hat aber auch viele Freunde gefunden: den damaligen Außenminister und späteren Bundespräsident Deutschlands Frank-Walter Steinmeier, Ex-Bundespräsident Heinz Fischer, Frankreichs ehemaligen Präsidenten François Hollande – und Russlands Außenminister Sergej Lawrow. Mit Letzterem hat Asselborn seit Kriegsausbruch nicht mehr gesprochen, davor war das Verhältnis 15 Jahre lang ausgesprochen gut, geradezu freundschaftlich.
Er sei wie Steinmeier in Deutschland und Fischer in Österreich der Überzeugung gewesen, dass Europa mit Russland ein normales Verhältnis aufbauen kann, erklärt Asselborn. Das sei nun auch langfristig unmöglich geworden: „Sie haben unser Vertrauen mit Füßen getreten.“ Im Jahr 2009 war Lawrow bei Asselborn zu Hause in Steinfort, gemeinsam mit Steinmeier stießen sie auf Asselborns 60. Geburtstag an.
Hat er sich von seinen Gefühlen leiten lassen?
Asselborn will das so nicht sagen. Die Angelegenheit ist ihm sichtlich unangenehm. „Das ist ein anderer Mensch geworden“, meint er. Es sei, als habe ein guter Freund Frau und Kinder umgebracht.
Hoffnungsloser Optimist
Asselborn muss heute langsam fahren. Mit seinem supermodernen Rennrad ist er viel schneller als ich auf dem alten Trekking-Bike. „Wo haben Sie das her?“, fragt er kopfschüttelnd, „das ist kein Rad, das ist ein Pflug!“ Das Thermometer auf Asselborns digitalem Messgerät zeigt 0,4 Grad, die kalte Luft schneidet in der Lunge, die Oberschenkel brennen. Für ein notorisch flaches Land sind hier erstaunlich viele Hügel. Ich muss mich auch bergab anstrengen, um mit Asselborn mitzuhalten. Nach einer Dreiviertelstunde erreichen wir den Ort Septfontaines, bekannt für sein Schloss, das schon von Weitem zu sehen ist, weil es auf einer Anhöhe steht. Kurz fürchte ich, dass Asselborn hinauffahren will, aber nein, wir machen ein Foto vor den sieben Brunnen im Ortszentrum und beschließen, dass wir für heute weit genug gekommen sind.
Normalerweise fährt Asselborn bis Mersch, doch es ist zu kalt heute. Jeden zweiten Tag ist er hier unterwegs, auch während seiner Amtszeit ist er die Strecke regelmäßig gefahren.
Fast 20 Jahre sind seit dem Amtsantritt Asselborns vergangen. Es war eine andere Welt, ein anderes Zeitalter. Im Jahr 2004 heißt der Außenminister Deutschlands Joschka Fischer, in den USA regiert George W. Bush, und in Russland tritt Wladimir Putin seine zweite Amtszeit als Präsident an. Für Asselborn ist es der Start von zwei sehr turbulenten Jahrzehnten.
Insgesamt habe er 241 EU-Amtskollegen getroffen, der Schwierigste sei Witold Waszczykowski gewesen, ab 2015 Außenminister der Regierungspartei PiS: „Er hat den Geist der EU überhaupt nicht verstanden. Gespräche waren nicht möglich.“
Das schwierigste Jahr seiner Amtszeit sei 2016 gewesen. In Polen stellte die PiS erstmals die Alleinregierung; im Vereinigten Königreich sprach sich eine Mehrheit der Wahlberechtigten für den EU-Austritt aus; und in den USA gewann Donald Trump die Präsidentschaftswahlen. „Es waren Einschnitte in die Seele der EU“, sagt Asselborn, „Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Demokratie – das ging in eine andere Richtung.“
Und heute?
Bis zuletzt war Asselborn bei unzähligen Ratstreffen, hat nächtelang verhandelt, oft ohne Ergebnis. Ein europäisches Asylsystem, für das er sich jahrelang eingesetzt hat, gibt es nach wie vor nicht. Hat ihn das frustriert?
Anstatt zu antworten, holt Asselborn weit aus, spricht von den Mitgliedsländern im Süden, die allein gelassen würden, vom Chaos in Europa, einem kaputten Asylsystem und davon, wie all das droht, Schengen zu zerstören, die Reisefreiheit in der EU. Als er vor Kurzem im luxemburgischen Fernsehen darauf angesprochen wurde, dass Asylwerber in Luxemburg auf der Straße leben müssen, verlor Asselborn die Fassung und kämpfte mit den Tränen. Als eine seiner letzten Amtshandlungen hatte er Restriktionen bei der Unterstützung männlicher Flüchtlinge beschlossen – und danach sichtlich damit gehadert.
Eigentlich hat der Sozialdemokrat stets die menschliche Seite der Politik vertreten, in einigen Fällen half er persönlich, Menschen die Flucht nach Europa zu ermöglichen. profil-Journalistin Christa Zöchling schrieb Ende 2021 eine Reportage über die Flucht einer afghanischen Richterin und ihrer Angehörigen vor den Taliban. Asselborn half dabei, die Familie außer Landes zu bringen, seither lebt sie in Luxemburg.
„Wir haben den Zug verpasst“, sagt er über die Asylpolitik in der EU. Als der Europäische Gerichtshof feststellte, dass Flüchtlinge nach einem fairen Schlüssel auf alle Mitgliedstaaten verteilt werden müssen, hätte sich die EU-Kommission dafür einsetzen müssen, dass dieses Urteil auch umgesetzt wird. Doch einige Länder nehmen bis heute keine Menschen auf. „Wir haben die Chance sausen lassen“, sagt Asselborn.
Es ist eine für seine Verhältnisse ausgesprochen negative Beurteilung. Asselborn ist Optimist. „Das muss ich sein“, sagt er.
Dabei werden jene Kräfte, die Asselborn seit Jahrzehnten bekämpft, immer stärker. In den Nationalstaaten gewinnen Rechte und Rechtspopulisten immer häufiger Wahlen oder führen zumindest in den Umfragen. Bei den Europawahlen werden diesen Parteien große Gewinne vorhergesagt.
Doch Asselborn hat seinen Glauben an die Vereinigten Staaten von Europa nicht verloren. Er will eine EU, in der die Nationalstaaten mehr Kompetenzen an Brüssel abgeben, damit Europa endlich mit einer Stimme sprechen und sich als eigenständige Macht behaupten kann. „Das ist möglich“, sagt er, „aber es dauert noch eine oder zwei Generationen.“ Am Ende werde es eine europäische Regierung und einen europäischen Präsidenten geben.
Noch bevor man die Rechtsaußen-Regierung in Italien ansprechen kann oder die Umfragen in Österreich und Deutschland, bei denen die FPÖ den ersten und die AfD den zweiten Platz einnimmt, fallen Asselborn die Wahlen in Polen ein. Der Konservative Donald Tusk, ehemals Ratspräsident der EU, wurde dabei zwar Zweiter hinter der PiS, konnte aber eine Koalition mit anderen europafreundlichen Kräften bilden. „Sehen Sie“, sagt Asselborn, „man muss an die Demokratie glauben!“ Und überhaupt: Die EU funktioniere, „sonst würden nicht neun Länder an unsere Tür klopfen“.
Das ist es ja: Soll die Europäische Union um die Länder des Westbalkans sowie Moldau und die Ukraine erweitert werden, wird es Reformen brauchen, da sind sich Experten einig. Als Beitrittskandidaten müssen Staaten etliche Bedingungen erfüllen, der Rechtsstaat muss funktionieren. Einmal in der EU, gibt es kaum Mittel, den Demokratieabbau zu verhindern. Wenn Länder wie Ungarn jetzt schon regelmäßig Entscheidungen blockieren, wie wird das erst, wenn die EU auf 36 Mitgliedstaaten wächst? Einstimmige Entscheidungen könnten dann so gut wie unmöglich werden. Deshalb werden die Stimmen lauter, die eine Einschränkung des Einstimmigkeitsprinzips fordern. In Bereichen wie Außenpolitik soll künftig immer eine qualifizierte Mehrheit reichen, fordern sie.
Asselborn hält davon wenig. „Um davon wegzukommen, brauchen wir ja wieder Einstimmigkeit“, sagt er und lacht. Das könne man vergessen.
Asselborn tut sich leicht auf dem Rückweg den Berg hoch, er ist es ja gewohnt. Die Straße ist steil – wie hat Kerry das damals geschafft? Ich schwitze trotz der niedrigen Temperaturen und bin froh, als wir oben ankommen. Zurück im Haus kocht Asselborns Frau Kaffee, eine Katze schleicht durchs Zimmer, meine Füße tauen langsam wieder auf.
Asselborn führt seinen Lieblingsgegner ins Treffen, an Viktor Orbán kann er sich stundenlang abarbeiten. „Bei Ländern, die ihren eigenen Weg gehen und die Werte der EU verwässern wollen, müssen wir politische Konsequenzen ziehen“, sagt er. Dass man Ungarn nicht aus der EU werfen kann, weiß auch Asselborn. Wenn Budapest blockiert, wie zuletzt etwa die EU-Finanzhilfen an die Ukraine, könnten die anderen dennoch voranschreiten – und künftig an Ungarn vorbeiarbeiten. „Das würde Orbán die Augen öffnen“, sagt er.
Es ist einer dieser Sätze, die zeigen, wie optimistisch Asselborn immer noch ist. Der Sieg der russlandfreundlichen Smer-Partei in der Slowakei? Halb so schlimm, immerhin könne Premier Robert Fico nicht allein regieren, sondern müsse eine Koalition bilden. Der erste Platz für den Rechtspopulisten Geert Wilders bei den Wahlen in den Niederlanden? „Wilders muss erst einmal Partner für eine Koalition finden, das ist nicht so einfach.“
Und die Europawahlen im Juni, bei denen rechte Parteien wohl deutlich dazugewinnen werden? „Das haben wir vor den Wahlen vor fünf Jahren schon besprochen“, sagt Asselborn. Die proeuropäische Mehrheit aus Konservativen, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen würde dem EU-Parlament auch diesmal erhalten bleiben. „Wir müssen uns aber die Frage stellen: Was können wir tun, damit die Rechten Europa künftig nicht dominieren?“
Wie lautet die Antwort?
„Man muss den Menschen erklären, dass Demokratie wichtig ist, um Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit in Europa zu garantieren“, sagt Asselborn. Das gelte vor allem für junge Menschen: „Die Bedeutung der Demokratie muss in der öffentlichen Debatte mit einfachen Worten immer wieder erklärt werden.“
Während der Radfahrt hat Asselborn sein Handy dabei. Er wartet auf den Anruf von der Redaktion der Talksendung „Anne Will“. Dort ist er für den übernächsten Tag eingeladen, die Flüge sind gebucht, von Luxemburg nach Berlin und dann weiter nach Wien, für eine Buchpräsentation im Rathaus.
Asselborn im EU-Parlament?
Noch bekommt Jean Asselborn viel Medienaufmerksamkeit. Aber was, wenn der Tumult vorbei ist. Fürchtet er sich davor?
„Ich fürchte mich nur, dass ich noch mehr rennen muss“, sagt er. Die Einladungen reißen nicht ab, dabei müsse er jetzt Ordnung im Kopf schaffen. „Ich muss erst einmal verdauen, was in den vergangenen 20 Jahren geschehen ist.“ Gewöhnungsbedürftig sei vor allem der neue Rhythmus. Kein Fahrer, keine Assistenten, „keine logistische oder didaktische Hilfe, das ist schwer“. Ins luxemburgische Parlament will Asselborn nicht einziehen, da war er schon einmal, das erste Mal vor mittlerweile 40 Jahren. „Ich muss jetzt ins Reine kommen.“
Will er vielleicht für die Europawahlen im Juni kandidieren? Asselborn als EU-Abgeordneter, man kann sich das gut vorstellen. Er wäre umgeben von Gleichgesinnten, die seine utopischen Ideen von einem vereinten Europa teilen. „Vielleicht“, sagt er, „das muss ich mit mir selbst und mit meiner Partei ausmachen.“ Eine Entscheidung werde wahrscheinlich im Februar fallen.
Nach dem Gespräch mit profil sitzt Asselborn wieder im Auto, das Ausparken fällt ihm leichter als das Einparken. Er wirkt ein bisschen wie jemand, der einfache Tätigkeiten des Alltags neu erlernen muss: Autofahren, Flüge buchen. Wohin kommt jetzt noch mal das Ticket von der Parkgarage?
Asselborn fährt die Ausfahrt hoch, das E-Auto surrt, es hat aufgehört zu regnen. Der Tesla biegt ab und verschwindet im Dezembernebel. Das Fahrrad passt viel besser zu ihm.
Siobhán Geets
ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.