Die Archäologen bei der Ausgrabung am Fluss Pedieos.
Zypern: Auf den Spuren von Vermissten

Zypern: Wissenschafter auf den Spuren von Vermissten

Anlässlich des heutigen "Internationalen Tages der Verschwundenen": Christoph Zotters Reportage aus Zypern - ursprünglich erschienen in der profil-Ausgabe Nr. 20/2017 vom 15. Mai.

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Da würde ich keine Leiche vergraben, zu viele Wurzeln“, sagt Noly Moyssi.

"Ja, aber dort ist gut. Weiche Erde, weißt du?“, sagt Maria Solomou.

Moyssi nickt. Die Archäologinnen stehen in der Nähe des Flusses Pedieos, der sich an einem zypriotischen Dorf vorbeischlängelt. Vor vielen Jahren ist hier ein Mord passiert. Deswegen gräbt sich heute ein Bagger in den trockenen Boden, lädt Schaufel um Schaufel mit Erde ab. Durch den Staub und ihre Sonnenbrillen starren Moyssi und Solomou in das Loch, suchen nach Hinweisen - Stofffetzen, ein Schuh, aber vor allem: Knochen.

Zwischen der Brücke und dem Eukalyptus müssen drei Leichen verscharrt worden sein, das wissen sie von einem der alten Dorfbewohner. Eines der morschen Skelette haben die Archäologinnen bereits entdeckt, fast vollständig, nur ein paar Meter von hier. "Das ist das beste Gefühl“, sagt Solomou. "Wenn man einen findet.“ Ist das geschehen, holen sie Kameras, legen mit Bürsten und Meißeln die Überreste frei und packen sie in braune Papiersäcke, die sie mit schwarzen Filzstift beschriften. So haben sie es im Studium gelernt. Nur, dass sie jetzt nicht nach byzantinischen Siedlungen suchen oder dem Grab eines römischen Feldherrn, bei dem es keinen Unterschied macht, ob sie ein Jahrzehnt früher oder später entdeckt, gesäubert und im Museum in Regale geschlichtet werden.

Solomou und Moyssi legen Knochen von Menschen frei, deren Partner, Freunde oder Kinder meist noch leben. Viele der Hinterbliebenen sind schon alt, für sie drängt die Zeit. "Deswegen müssen wir die Vermissten schnell finden und identifizieren“, sagt Solomou.

Opfer dramatischer Jahre

Rund ein halbes Jahrhundert liegen die Toten von Zypern schon im Boden der Insel. Sie sind die Opfer dramatischer Jahre: In den 1950er-Jahren begannen griechische Nationalisten mit einer Terrorwelle gegen die damalige Kolonialmacht Großbritannien. Die Briten wiederum rekrutierten Anti-Terror-Kämpfer aus der türkischsprachigen Minderheit, die noch dazu vom türkischen Festland aus unterstützt wurden. 1963, nur drei Jahre, nachdem sich Zypern für unabhängig erklärt hatte, begingen zyperngriechische Polizisten ein Massaker an zyperntürkischen Zivilisten. Die ersten Kämpfe brachen aus.

Viele kamen in dieser Zeit nicht von der Arbeit nach Hause, wurden verschleppt und ermordet. Noch mehr starben, als zehn Jahre später nach einem Putsch der zyperngriechischen Nationalisten der Krieg von 1974 ausbrach, die Türkei auf der Insel einmarschierte und ganze Dörfer vertrieben wurden. Die Opfer müssen irgendwo unter dem Asphalt der Autobahnen liegen, in verschütteten Brunnen oder neben beackerten Feldern. Auf den Friedhöfen warten leere Gräber auf sie.

Der Konflikt, in dem sie ihr Leben ließen, dauert bis heute an. Durch die Mittelmeerinsel Zypern verläuft ein Riss - genauer gesagt ein Zaun mit Stacheldraht, Wachtürmen und blutjungen Rekruten, die gelangweilte Gesichter zur Schau tragen. Im Norden leben - bewacht von rund 30.000 türkischen Soldaten, die im Jahr 1974 einrückten - die türkischsprachigen Zyprioten und im Süden die griechisch-sprachigen, die für das Land seit dem Jahr 2004 die Rolle als EU-Mitglied wahrnehmen. Früher wohnten beide Bevölkerungsgruppen Haus an Haus, teilten sich Dörfer, Schulen und Märkte. Heute wissen sie kaum, wie sie miteinander sprechen sollen. Schon gar nicht über die Toten von damals.

Vergangene Woche verhandelten die Inselhälften wieder, wie sie diesen Teil ihrer Geschichte ein Stück weit hinter sich lassen können. Zwei alte Herren sitzen sich dabei gegenüber: Nikos Anastasiadis, Präsident der Republik Zypern, und Mustafa Akıncı, sein Gegenpart der Republik Nordzypern. Die beiden navigieren durch ein historisches Minenfeld, jeder Bezug auf die Vergangenheit kann eine kleine Explosion auslösen. Im Februar verließ die türkisch-zypriotische Seite den Verhandlungstisch, weil das griechisch-zypriotische Parlament einen Gedenktag für die "Enosis“, die Vereinigung mit Griechenland, einführen wollte.

Weniger als 100 Kilometer westlich der Grabung am Fluss, im Niemandsland der geteilten Hauptstadt Nikosia: Bunte Badehosen trocknen auf den Balkonen des Ledra Palace. Das Hotel soll das schönste der Insel gewesen sein, heute sind UN-Soldaten in der fünfstöckigen Anlage stationiert. An der Nordseite des zerschossenen Baus liegt eine Tür - geschützt von Sandsäcken, Videokameras und Stacheldraht. CMP steht auf einem Schild, kurz für "Committee for Missing Persons“. Hier will man reden - vor allem über die Toten.

"Unscheinbar, aber immens wichtig"

Im Büro im zweiten Stock sitzt Paul-Henri Arni, grauer Anzug, Brille, graue Haare. Er ist UN-Diplomat und leitet die Mission aus Archäologen, Soziologen und Forensikern zusammen mit einer Türkisch-Zypriotin und einem Griechisch-Zyprioten. Es ist eines der wenigen Projekte auf der Insel, für das die beiden Republiken zu gleichen Teilen verantwortlich sind. "Die Wunden eines Krieges sind giftig, wenn man sie nicht anspricht“, sagt Arni, wenn man ihn nach den Friedensverhandlungen fragt: "Unsere Rolle ist unscheinbar, aber immens wichtig.“

Bereits im Jahr 1981 begann eine UN-Kommission damit, die Namen aller Vermissten zu sammeln. Sie trugen sie in eine Liste ein: 493 türkische Zyprioten und 1508 griechische. Weil sich das politische Klima zwischen den zwei Inselteilen verschlechterte, sollte es bis ins Jahr 2006 dauern, bis die ersten von ihnen identifiziert wurden. Die ersten Jahre arbeitete das CMP im Stillen, heute besuchen Delegationen aus dem Iran, dem Irak, dem Libanon, Aserbaidschan oder Armenien die Insel, um zu lernen, wie sie in ihren eigenen Ländern die Verbrechen der Geschichte aufarbeiten können.

Erdinç Usta steht in einem Raum voller Knochen und denkt nach. In der Hand dreht er einen Schädel. Auf dem Tisch: Finger, Rippen, Oberschenkel, Unterschenkel, Arme und Zähne, sorgfältig geputzt und nummeriert. Die einfachen Fragen hakt er schnell ab: Mann oder Frau? Wie alt? Wie groß? Dann die schwierigeren: Was hat der Tote gewogen? Woran ist er gestorben? Bis die alles entscheidende kommt: Wer ist das, der da vor mir liegt?

In einem klimatisierten Container auf dem Gelände des verlassenen Flughafens von Nikosia, mitten im zypriotischen Niemandsland, landet der ganze Horror, den die Archäologen draußen im Boden der Insel finden: ineinander verkeilte Gebeine aus Massengräbern, zertrümmerte und zerschossene Gebeine, Babyknochen. Hunderte Skelette liegen in Pappkartons in trockenen Kühlräumen, um vermessen, geordnet und immer wieder betrachtet zu werden. Das CMP arbeitet unter der Bedingung, dass keine Schuldigen identifiziert, keine Täter ausgeforscht werden. Die Familien sollen ihre Lieben wiederbekommen und ein Stück Gewissheit. Das ist alles.

Aufwendige Forschungsarbeit

Als Erstes versucht Usta, mit geschultem Blick die verschiedenen Knochen des Skeletts möglichst vollständig aufzulegen. Dann macht er sich an das Rätsel: Wer auf der Liste passt zu diesen Gebeinen und ihrem Fundort? Wenn sich Usta und seine Kollegen fast ganz sicher sind, fräsen sie ein kleines Quadrat aus einem der Überreste: die DNA-Probe. Kann diese einem der Verwandten der Vermissten auf der Liste zugeordnet werden, ist der Fall gelöst. Das dauert: Die DNA-Tests sind teuer, die wissenschaftliche Dokumentation aufwendig, die Forensiker müssen ganz sicher sein. "Die Verwandten sollen nicht jeden Monat einen Knochen bekommen, sondern alles auf einmal“, sagt Usta. Manchmal ist ein Finger alles, das er ihnen geben kann.

Das Team arbeitet in der UN-Pufferzone, nicht im Norden, nicht im Süden - das ist wichtig in einem Land wie Zypern. Als die CMP-Forensiker vor Jahren ihr DNA-Labor aus wissenschaftlichen Gründen über die Grenze verlegen wollten, stand das in der Zeitung. Wer Tests vertrauen solle, die von der anderen Seite gemacht werden, fragten die Journalisten.

Erdinç Usta lächelt schüchtern, wenn er diese Geschichte erzählt. Er ist in der "Türkischen Republik Nordzypern“ aufgewachsen und keiner, der hinter jeder Ecke der Container eine Verschwörung vermutet. Dafür arbeitet er schon zu lange mit dem ehemaligen Feind seiner Großeltern zusammen. Jedes Team besteht aus gleich vielen Wissenschaftern aus den beiden Inselteilen. Gesprochen wird auf Englisch, denn die Zyprioten haben keine gemeinsame Sprache, nur Türkisch oder Griechisch. "Ich mag es, wenn die Dinge kompliziert sind“, sagt Usta.

Wie lange die Zyprioten nach den Vermissten von damals suchen werden, kann niemand genau sagen. Die Augenzeugen werden älter. Sie sind es meist, die den Rechercheuren des CMP zuraunen, wo damals einer verscharrt oder einfach den Brunnen hinabgestoßen wurde. Manchmal liegt über der Stelle heute ein asphaltierter Platz, eine Autobahn oder ein Haus. Nicht immer können die Archäologen mit ihren Baggern einen Verdacht überprüfen, denn Privatgrundbesitzer reagieren mitunter ablehnend, wenn auf einmal eine UN-Organisation in ihrem Garten oder im Fundament ihres Wohnhauses nach Leichen aus der Vergangenheit suchen will.

753 Vermisste wurden bislang identifiziert, das sind rund 37 Prozent der Liste. Dass es irgendwann einmal alle sein werden, kann sich auch beim CMP niemand so richtig vorstellen. "Wenn wir über Jahre niemanden mehr finden, werden wir wohl an irgendeinem Zeitpunkt aufhören“, sagt Arni. Der politische Wille und das Interesse der Geldgeber würden wohl auch schwinden, immerhin kostet das Projekt mehr als drei Millionen Euro im Jahr. Doch selbst wenn niemand mehr geborgen wird, gibt es immer noch die vielen Hundert Kartons in den kühl temperierten Containern im Niemandsland. Jedem von ihnen muss ein Name zugeordnet werden.

Beide Inselteile kooperieren

Das Projekt soll auch um des Projekts willen weiterlaufen, auch wenn das so niemand sagen will. Immerhin ist es die erste wissenschaftliche Unternehmung, für die man aus beiden Teilen der rund eine Million Einwohner zählenden Insel zusammengekommen ist, um miteinander zu arbeiten, zu grübeln und zu suchen. Noly Moyssi sagt, sie habe viel über die im Norden gelernt, wie die dort ticken. Maria Solomou sieht es als ihre patriotische Pflicht, sich gemeinsam den Dingen von damals zu stellen. Erdinç Usta findet, dass die griechischsprachigen Kollegen in der Arbeit ihn nun ein bisschen besser verstehen, und er sie. Und manchmal bricht die Vergangenheit auch in den Containern ohne Vorwarnung in die Gegenwart durch, verschwimmt die wissenschaftliche Distanz in der eigenen Familiengeschichte: Eine türkischsprachige Forensikerin hat auf einem der mit weißem Tuch gedeckten Tische ihren eigenen Großvater identifiziert. Nun ruhen seine sterblichen Überreste auf einem Friedhof im Norden.

Ein dunkler Raum, ein paar Sesseln, ein weiß gedeckter Tisch, darauf steht eine Box mit Taschentüchern. Im Container im Niemandsland von Nikosia nehmen die Familien ihre nun nicht mehr vermissten Väter, Söhne, Töchter oder Mütter entgegen. Die Forensiker legen alle Knochen, die sie gefunden haben, ein letztes Mal auf den Tisch. Sie sollen, so gut es geht, vollständig aussehen. Die Wissenschafter erzählen, was sie über das Skelett erfahren haben. Wo sie es gefunden haben, die vermutliche Todesursache, jedes noch so unwichtige Detail.

Es ist das letzte Treffen. Nicht alle wollen glauben, dass die so lange schmerzlich Vermissten wirklich vor ihnen liegen. War Großvater nicht viel größer? Hatte Mutter nicht viel kräftigere Wangenknochen? Eine Frau fragte die CMP-Mitarbeiter einmal, ob sie sich den Finger ihres Mannes mit einer Kette um den Hals binden darf.

Die Aufbahrung nach so vielen Jahren gehört zuallererst den Familien, das respektiert hier jeder. Die Politik muss draußen bleiben und ist doch da. Denn in der Trauer trennt sich die Insel wieder: Steht eine türkisch-zypriotische Familie im Container, sind nur CMP-Mitarbeiter aus den Norden erlaubt; weint eine griechisch-zypriotische, nur welche aus dem Süden. Es ist eine Geste, die für Zyprioten normal wirkt: Schließlich möchte nicht jeder seine Liebsten von jemandem erhalten, der von der falschen Seite der Insel kommt.