Choreografin Florentina Holzinger: Kinder an die Macht
Es gibt diese eine Szene, über die alle sprechen. Bei der man im Publikum mit offenem Mund dasitzt und staunt, verbotenerweise sein Handys zücken will, um für Instagram oder Facebook ein Video zu machen. Auf der Bühne steht ein riesiges Schwimmbecken, darüber schwebt ein Helikopter. Allein das ist schon ein starkes Bild für eine Theaterproduktion. Aber dann seilt sich eine Handvoll unerschrockener nackter Performerinnen auf, kapert den strauchelnden Hubschrauber – und hat unter ohrenbetäubendem Lärm Sex mit ihm.
Diese Szene stammt aus „Ophelia’s Got Talent“, der jüngsten Show der Wiener Choreografin und Tänzerin Florentina Holzinger, 37, die an der Berliner Volksbühne im Vorjahr Premiere hatte und nun als Koproduktion des Wiener Tanzquartiers im Volkstheater zu sehen ist (17.–19. April, im Oktober gibt es weitere Vorstellungen). Eine der Darstellerinnen wird schwanger vom Hubschrauber und gebiert im
Wasser ein Baby. Wenn man Julia Ducournaus Film „Titane“ (2021) kennt, wird einem das nicht unbekannt vorkommen, darin kopuliert eine androgyne junge Serienkillerin mit einem Sportwagen. Aber niemand außer Holzinger würde auf die Idee kommen, eine ohnehin pointierte Filmszene im Theater toppen zu wollen. Ein Auto? Okay, wir nehmen einen Hubschrauber!
Mindset einer Profiboxerin
Holzinger erkennt Produktionsgrenzen nicht an. Jedes ihrer Werke wird noch extremer, gigantischer, aufwendiger, aberwitziger. Das Prinzip Größenwahn scheint ihr im Blut zu liegen. Sie hat das Mindset einer Profiboxerin, ist ständig auf der Suche nach der nächsten Herausforderung, die sie in den Ring steigen lässt. „Kein Applaus für Scheiße“ (2011) nannte sich eine frühe Produktion (damals noch gemeinsam mit Vincent Riebeek), die durchaus programmatisch für ihre gesamte Arbeit steht. Die Choreografin möchte ihrem Publikum etwas bieten, ihre Abende nennt Holzinger bewusst Shows.
Publikumsschwund? Dieses Wort kennt Holzinger höchstens vom Hörensagen. Ausverkaufte Vorstellungen sind für sie die Norm. An anderen Bühnen müht man sich ab, ihr scheint alles zuzufliegen. Seit sogar die „New York Times“ der Extremperformerin Holzinger im Vorjahr ein langes Porträt gewidmet hat, möchte jeder wissen, wie denn Europas gefeierte Tanz- und Theaterhoffnung aussieht. „Florentina Holzinger Makes Everyone Uncomfortable“ lautete der provokante Titel des Artikels.
Umso erstaunlicher ist es, wenn man der gehypten Choreografin gegenübersitzt. Beim Treffen im Wiener Café Sperl erkennt sie keiner, Holzinger trägt einen fliederfarbenen Wollpullover, eine Bauchtasche mit Jurassic-Park-Aufschrift. Wie ein Energiebündel, das nie stillsitzen kann, immer am Sprung für den nächsten Kick ist, wirkt sie nicht gerade. Es ist elf Uhr. Sie bestellt Kaffee und erzählt, dass sie zwar einerseits ein Adrenalinjunkie sei, aber gleichzeitig sehr gechillt, weil sie einen niedrigen Blutdruck habe. „Ohne Kaffee würde ich ewig nicht aus dem Bett kommen“, sagt sie.
Holzinger hat im Gespräch keine 08/15-Antworten parat, sie denkt lange nach, überlegt genau, vermeidet Klischees. Zum Thema Hoffnung fällt ihr zunächst gar nichts ein, gesteht sie: „Mit dem Wort Zuversicht kann ich mehr anfangen. Ich beschäftige mich viel damit, unmöglich Geglaubtes auf unterschiedlichen Ebenen auszuprobieren. Es geht weniger um ein ‚Warum‘, eher um ein ‚Warum nicht?‘. Ich möchte Wege finden, das Unmögliche möglich zu machen, was ja meist nicht einfach ist; das erfordert jede Menge Arbeit und birgt Risiken.“
Wenn andere versuchen, ihr etwas auszureden, weiß sie, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Holzinger-Inszenierungen sind selbst für gut ausgestattete Stadttheatertanker und Großfestivals eine enorme Anstrengung. Es gibt keine Erfahrungswerte, wie man einen Swimmingpool einbaut, wie man einen Hubschrauber durch den Bühneneingang bugsiert. Bei aller Tüftelei für die Technik machen Holzingers Arbeiten beim Zuschauen aber auch einfach Spaß, weil sie selbstverständlich und lässig mit weiblicher Nacktheit umgehen. Eine eingeschworene Frauen-Gang mit sehr unterschiedlichen Performerinnen nimmt da völlig angst- und tabulos einen Bühnenraum in Beschlag. Sie spielen in „Ophelia’s Got Talent“ betrunkene Matrosen, überzeichnen dabei Macho-Rollenbilder, eignen sich diese aber gleichzeitig auch lustvoll an. Helene Fischers Schlagerhit „Atemlos“ wird eingespielt, in einer verzerrten, unheimlichen Version. Kinder tanzen zu Ed Sheerans „Bad Habits“. Eine Hypothese: Florentina Holzinger ist vor allem deshalb so cool, weil sie keine Angst davor hat, uncool zu sein.
Tatsächlich kennt sie keine Berührungsängste. Es gibt nichts, was man nicht als Material überprüfen könnte: Ballett ist auch für nicht genormte Körper möglich; Motocross, Hürdenlauf, Apnoetauchen lassen sich ebenso auf eine Bühne bringen wie Body Suspension, bei dem der Körper auf Haken gehängt wird (wie in ihrer gefeierten Produktion „Tanz“ von 2019). Auch Aerial Silk, eine Luftakrobatik, die vom Zirkus kommt, wurde in frühen Arbeiten eingesetzt. Holzinger geht völlig unironisch an all diese Dinge heran. Es ist die Virtuosität, die sie interessiert. Dazu castet sie Spezialistinnen der Körperbeherrschung, nur eben aus bühnenfernen Disziplinen wie der Freak-Show. Wahrscheinlich gilt Holzinger auch deshalb als derart große Hoffnung der Bühnenkunst, weil sie auf zeitgemäße Weise auch altmodische Werte vertritt: Kunst kommt von Können.
Eine der Entdeckungen in „Ophelia’s Got Talent“ ist die kleinwüchsige Performerin Saioa Alvarez Ruiz, die eine faszinierende Bühnenpräsenz hat – und absolut nicht macht, was man von Menschen mit Behinderung im Theater gewohnt ist. In einer Szene tritt sie als chauvinistischer Rapper auf, parodiert den berühmten Stripper Magic Mike. Bei Holzinger gehe es nie um die Kategorien „schön“ oder „hässlich“, sondern „schlicht um den Körper in seiner Funktionalität“, meinte Ruiz jüngst in einem Interview mit dem deutschen Fachblatt „Theater heute“. Für Menschen mit Behinderung sei das extrem befreiend, gerade weil ein nackter behinderter Körper „doppelt und dreifach mit Scham behaftet“ sei.
Auch in Sachen Hochkultur hat Holzinger überraschende Lösungen parat: Sie nimmt die Romantik beim Wort, um deren dunkle, blutige, sexistische Seiten aufzudecken. Zu Franz Schuberts berühmtem „Forellenquintett“ spielen die Performerinnen zappelnde Fische am Haken. Die Geschichte von Leda mit dem Schwan wird mit einer tatsächlichen Vergewaltigung, von der eine Performerin erzählt, kurzgeschlossen. Außerdem fragt die Inszenierung, wie um alles in der Welt ausgerechnet Ophelia zum Prototyp der perfekten Frau in der Kunst werden konnte. Sind schöne Frauen am besten tot?
Auch Holzingers nächste Produktion, die 2024 bei den Wiener Festwochen zu sehen sein wird, ist an Herausforderungen nicht arm. Natürlich wird sie dabei erneut etwas ganz Neues ausprobieren: ihre erste Operninszenierung. Paul Hindemiths vom Expressionismus inspirierte Mini-Oper „Sancta Susanna“ erzählt von sexuell besessenen Nonnen. Holzinger wird für ihre schwarze Messe mit Noise-Künstlerinnen und -Künstlern zusammenarbeiten, um die 25-minütige Oper auch musikalisch zu erweitern. In der Religion sucht sie die perfekte Show. Inspiration hat sie sich dafür unter anderem in Las Vegas geholt, wo David Copperfield seine Zauberillusionen zeigt. Schließlich ist die Kirche auch ein magischer Ort.
Alles andere als jugendfrei
In „Ophelia’s Got Talent“ gibt es ebenfalls eine Premiere: Holzinger hat hier zum ersten Mal mit Kindern auf der Bühne gearbeitet. „Eigentlich wollte uns das auch jeder ausreden“, sagt die Choreografin – und kommt doch noch einmal auf das Thema der Hoffnung zu sprechen. „Kinder repräsentieren nun einmal die Zukunft. Mittlerweile gehöre ich ja selbst einer älteren Generation an. Ich wollte mich auf diesen Austausch einlassen, auch auf Fragen der Klimakatastrophe.“ Die sechsköpfige Mädchengruppe kapert die Bühne wie Piraten, erobert sich eine Show, die eigentlich erst ab 18 zugänglich, alles andere als jugendfrei ist. „Wir wollten unsere Arbeit nicht zensurieren, nur weil Kinder mitwirken“, erzählt Holzinger. „Gleichzeitig sollten sie aber wissen, worum es in dem Abend geht, und nicht nur auftreten und vom Rest nichts mitbekommen.“ Es wurde ein Coach eingeladen, um den Kids das Bühnengeschehen zu vermitteln.
Wenn Kinder auf der Bühne stehen, wird meist auf die Tränendrüse gedrückt. Sie sollen möglichst niedlich erklären, was alles falsch läuft in unserer Gesellschaft. „Wir wollen nicht in einem lächerlichen Stück mitspielen“, wehren die sechs Mädchen gleich zu Beginn ab. Am Ende ist die Bühne verwüstet, das Wasser blutrot gefärbt und voll mit Plastikflaschen, die vom Himmel gekracht sind. In jeder anderen Inszenierung wäre das unangenehm kitschig. Aber Holzinger schafft auch diesmal den Spagat zwischen Schmerz und Scherz, zwischen Kitsch und Tiefgang, Pop und Hochkultur, knalliger Oberfläche und echtem Anliegen. Die Kinder geben dem Tonmeister ein Zeichen, sie wünschen sich einen Song von Ed Sheeran.
Holzinger erzählt, dieses Lied sei tatsächlich deren Anliegen gewesen, sie zwinge niemandem etwas auf, vieles entstehe aus dem Input ihrer Performerinnen. Die Girls tanzen und hüpfen, planschen wild im Wasser herum. Das hat eine schöne Leichtigkeit. Die größte Hoffnung, das zeigt dieser kluge, sinnliche und überraschende Abend deutlich, liegt im Prinzip Selbstermächtigung: sich einen Raum zu erobern, um gemeinsam mit anderen spielerisch die Grenzen zu verschieben.