„Jetzt ist der Moment, in dem wir ausformulieren können, wie wir als Mensch in der digitalen Welt leben wollen“
Die Digitalisierung wirft viele Fragen auf. Wie kann der Mensch mit neuen Technologien umgehen, ohne seine Rechte zu verlieren? Wer achtet auf die Einhaltung ethischer Standards? Oder wer bestimmt über die Weitergabe unsere Daten? Der digitale Humanismus nimmt sich dieser und vieler weiterer Fragen an. Warum er so wichtig ist, erläutert Dr. Michael Stampfer, Geschäftsführer des Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) im Interview.
Wie verändert die Digitalisierung die Menschheit?
Da gibt es widersprüchliche Ansichten. Einerseits existiert die fast schon romantische Idee, dass die Digitalisierung zu einer besseren, demokratischen Gesellschaft führt und verbindend wirkt. Dem steht aber entgegen, dass das Internet auch zur Vereinsamung und Polarisierung führt, dass es kein Regulativ zwischen Lüge und Wahrheit, für die Unterscheidung zwischen Fakten und Desinformation gibt. Ein wichtiger Punkt ist, dass die großen Plattformen nicht demokratisch, sondern monopolistisch sind. Sie folgen brutalen erfolgswirtschaftlichen Prinzipien, nämlich denen der Börse und des eingesetzten Kapitals. Weil das so ist, dominiert Werbung die ganze Internetwirtschaft. Das Internet ist nicht frei, denn wir bezahlen die Nutzung mit Daten, die ohne unser Wissen in zielgerichtete Werbebeeinflussung verarbeitet wird.
Das klingt fast so, als würden die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien nur Nachteile haben?
Nein, natürlich nicht. Wir können viele Inhalte recherchieren, wenn wir nur willens sind, ein bisschen selbst nachzudenken, wir können uns mit vielen Leuten austauschen – ja, wir können die tollsten Sachen machen. Aber ohne dem, was wir uns in der analogen Zivilisation angewöhnt haben – nämlich Umgangsformen, Haftung für Verstöße, demokratische Meinungsbildung, Menschenrechte –, ohne dass wir uns ein Stück weit dieser Werte besinnen, die im rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Sinn auch Grenzen setzen und Verantwortungen zuweisen, wird es nicht gehen.
Geht es im digitalen Humanismus also in erster Linie um politische Forderungen?
Wir können diesem Phänomen, das sich innerhalb weniger Jahrzehnte von zehn Millionen auf fünf Milliarden Nutzer ausgebreitet hat und das von ein paar großen Playern dominiert wird, nicht nur durch individuelle Ethik entgegentreten. Die großen Plattformen hätten am liebsten, dass alle Probleme, die moderne Technologien mit sich bringen, Probleme des Individuums sind – ganz einfach, weil es am einfachsten ist, diese zu ignorieren. Eine Zeitung kann man schon schwerer beeinflussen, Gerichte oder eine entschlossene Regierung noch weniger. Aber eine demokratisch legitimierte, supranationale Organisation wie die EU kann man eigentlich gar nicht mehr negieren. Für mich gibt es in diesem Zusammenhang kaum einen besseren Beweis, wie wichtig die europäische Union ist. Würden lauter Einzelstaaten versuchen, regulative Schritte gegenüber diesen großen Unternehmen zu setzen, hätten wir schon verloren. Aber die EU repräsentiert einen 500-Millionen-Einwohnermarkt und kann sich mit verschiedenen Gesetzgebungsakten einbringen. Sie sagt: „Wenn ihr in Europa tätig sein wollt, müsst ihr ein gewisses Schutzniveau aufrechterhalten, Standards einhalten und hier Steuern zahlen.“ Eine proeuropäische Haltung ist also im Sinne des digitalen Humanismus, weil die EU mit all ihren Institutionen wirklich etwas dafür tut, als einzige auf der Welt, um Schutzmaßnahmen aufzustellen. Wenn wir uns als Kollektiv – und der Staat ist unser wichtigstes Kollektiv – nicht besser organisieren und uns wehren, wird das digitale Leben ausschließlich von den großen Plattformen erledigt, und dann werden wir am Ende deren Interessen ausgeliefert sein.
Was ist noch wichtig?
Eine weitere wichtige Säule des digitalen Humanismus ist Bildung, Aufklärung, Diskurs und Ausstattung universitärer Forschung. Es darf nicht sein, dass das ganze Know-how nur bei ein paar privaten Akteuren liegt, die darüber keine Auskunft geben. Die Interdisziplinarität ist dabei von immenser Bedeutung: Computerwissenschafter*innen müssen verstehen, was es gesellschaftlich und juristisch bedeutet, wenn sie bestimmte Anwendungen programmieren, was soziale Plattformen anrichten können und wie sie deshalb in Zukunft designt werden sollten. Umgekehrt müssen die Geistes- und Sozialwissenschaften verstehen, was Zivilisation, Rechtsstaat, soziale Marktwirtschaft und Freiheitsrechte in der digitalen Sphäre bedeuten. Man kann zwar von den gleichen Grundsätzen ausgehen, aber die Ausformung von zivilisatorisch hochstehenden Niveaus auf eine technische und strukturelle Art erfolgt anders als in der analogen Welt. Diese interdisziplinäre Arbeit ist enorm wichtig. Bisher haben Informatiker*innen allein für uns eine eigene Welt erschaffen. Jetzt ist der letzte mögliche Moment, in dem wir ausformulieren können, wie wir als Mensch in der digitalen Welt leben wollen – und nicht als Anhängsel von irgendwelchen künstlichen Realitäten. Was ich damit sagen will: Ich stehe der Digitalisierung positiv gegenüber und ich sehe ihre Vorteile, aber wir müssen sie in Richtung einer guten Gesellschaft weiterentwickeln. Und wir müssen uns bewusst sein, dass es für diese Fragen keine endgültige Lösung gibt. Es stehen einander große wirtschaftliche, gesellschaftliche, rechtliche und diskursive Widersprüche gegenüber, die immer wieder neu verhandelt werden müssen.
Was sind Ihre persönlichen Vorstellungen von digitalem Humanismus?
Erstens muss die soziale Marktwirtschaft aufrechterhalten bleiben. Es darf nicht sein, dass große Konzerne ganze Branchen durch ihre Geschäftsmodelle zum Verschwinden bringen und dafür nicht einmal Steuern zahlen. Zweitens darf die freie Rede, die ja durch das Internet erleichtert wird, nicht unter Desinformationskampagnen, Shitstorms und Verleumdungsstrategien leiden. Es muss eine faktenbasierte Medienlandschaft geben. Drittens ist eine starke Wissenschaftslandschaft nötig, die Wissen erzeugt, das auch verbreitet wird. Und last, but not least brauchen wir einen Rechtsstaat, der Haie aus dem Becken fangen kann, bevor sie alles andere auffressen.
Was trägt der WWTF zum digitalen Humanismus bei?
Wir sind einer von vielen Akteuren, die sich betätigen können und sollten. Unsere Grundaufgabe ist, Wissenschaft zu finanzieren. Innerhalb dieser Grundaufgabe haben wir uns zum Ziel gesetzt, Wissenschafter verschiedener Disziplinen zu gemeinsamem Arbeiten zusammenzubringen. Damit das gelingt, müssen sie eine gemeinsame Sprache erlernen und Projekte aufsetzen, die dabei helfen, sowohl die analoge als auch digitale Welt zu verstehen. Wir verbinden also Communities, um diese schwierigen Phasen über Disziplingrenzen hinaus anzugehen.