Die Fortpflanzung des marinen Borstenwurms Platynereis dumerilii wird vom Mond gesteuert.
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Mondsüchtig

Die Fortpflanzung des marinen Borstenwurms wird vom Mond gesteuert. Prof. Dr. Kristin Tessmar-Raible, Chronobiologin, erforscht, was zu dieser lunaren Rhythmik führt – und welche Rückschlüsse und welche Rückschlüsse durch den Modellorganismus für Ökologie und Menschen möglich sind.

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Wie kommt man auf einen Wurm?

Kristin Tessmar-Raible: Eigentlich war es ein Interesse an Evolution. Der Wurm besitzt sehr viele Gene, die einen gemeinsamen Ursprung mit Genen des Menschen haben. Schon während meines Studiums der molekularen Neurobiologie haben mich neurosekretorische Zellen fasziniert, also Zellen, die auf Signale der Umwelt Hormone ausschütten, und ich wollte wissen, wie die im Laufe der Evolution entstanden sind. Als ich herausfand, dass es bei diesem Wurm mitten auf dem Kopf lichtsensorische Zellen gibt, die Hormone ausschütten, war ich erst mal verblüfft und habe mich gefragt, was deren Funktion ist. Als ich las, dass diese Würmer einem durch Mondlicht gesteuerten Zyklus folgen, wusste ich: Mit der Biologie von Platynereis dumerilii habe ich ein Forschungsthema, an dem ich mich austoben kann. (lacht)

Dieser Borstenwurm pflanzt sich also bei Vollmond fort?

Nicht ganz. Der genaue Zeitpunkt wird durch einen inneren Kalender bestimmt. Dieser läuft mit einer Periodik von etwa 30 Tagen ab. Das nennt man einen inneren biologischen Oszillator, wie es auch die bekanntere tägliche oder circadiane Uhr ist. Solche Oszillatoren müssen aber durch die Umwelt eingestellt, man kann auch sagen phasengeeicht, werden. Bei der täglichen Uhr macht das im Wesentlichen die Sonne, beim inneren Kalender des Wurms das Vollmondlicht. Der Zyklus ist also da, aber der Vollmond stellt ihn ein.

 

Warum ist das wichtig?

Die Phaseneichung der Oszillatoren führt zu einer Synchronisation der Tiere. Die Würmer kommen dadurch bei der Reproduktion alle zugleich an die Wasseroberfläche und geben dort Spermien und Eizellen gleichzeitig ab. Wenn das nicht synchronisiert passieren würde, dann wäre die Wahrscheinlichkeit, dass Eier und Spermien sich in den Wassermassen finden, sehr gering. Das geschieht dann in den dunklen Phasen des abnehmenden Mondes. Die Würmer wollen nämlich nicht gesehen werden. (lacht)

Prof. Dr. Kristin Tessmar-Raible, Chronobiologin an den Max Perutz Labs der Universität Wien und des Alfred Wegener Instituts der Helmholtz Gesellschaft, erforscht die Fortpflanzung des marinen Borstenwurms Platynereis dumerilii

Was genau erforschen Sie nun an den Würmern?

Wir haben momentan zwei Fragen, die unklar sind. Erstens: Wie kann man molekular und auf zellbiologischer Ebene monatliche Oszillation produzieren? Zweitens: Wie nehmen die Würmer das Mondlicht wahr und unterscheiden es vom Sonnenlicht. Da tasten wir uns nun heran.

Wie läuft das ab?

Wir haben das Mond- und Sonnenlicht im natürlichen Habitat gemessen und Lichter entwickelt, die es nachbilden. Dann schauen wir uns an, wann die Würmer reif werden. Im Anschluss greifen wir molekularbiologisch ein, indem wir in der Erbinformation ein Gen für die Photorezeption ausschalten. Diese Würmer setzen wir wieder dem Licht aus, um zu sehen, wie sie sich dann reproduzieren. Und da sehen wir, dass es Veränderungen in der Reifungsrhythmik gibt. Daher wissen wir, dass dieser Photorezeptor Veränderungen auslöst, die der Wildtyp des Wurms nicht zeigt. Wir konnten dadurch etwa auch ein bestimmtes Eiweiß identifizieren, das notwendig ist, um Sonnen- und Mondlicht zu unterscheiden.

Provokant gefragt: Warum ist es wichtig zu wissen, wie der Borstenwurm auf Mondlicht reagiert?

Darauf gibt es verschiedene Antworten. Beispielsweise sind solche Würmer Bewohner von Seegraswiesen und in deren ökologisches Gleichgewicht eingebunden. Diese Wiesen sind wichtige Produzenten von Sauerstoff und sogenannte CO2-Senken. Etwa jedes zweite Sauerstoffmolekül, das wir einatmen, wird ja durch Ökosysteme im Meer produziert. Wir müssen verstehen, wie solche Ökosysteme auch zeitlich koordiniert sind, um zu wissen, wie sich z. B. Lichtverschmutzung und Klimawandel auswirken werden. Außerdem gehen wir davon aus, dass die Mechanismen, die wir finden, zumindest zum Teil auch in anderen Organismen auftauchen. Das Phänomen der mondlichtgesteuerten Fortpflanzung ist ja besonders in marinen Organismen weit verbreitet. Unsere Erkenntnisse können Kollegen, die etwa an Korallen forschen, wertvolle Erkenntnisse liefern. Auch Korallenriffe sind wichtige Ökosysteme für diese Erde. Studien zeigen aber bereits, dass nicht nur die Erwärmung die Reproduktionsfähigkeit der Korallen heruntersetzt, sondern auch das künstliche Licht der Städte an der Küste. Versteht man die Zusammenhänge genau, könnte man vielleicht relativ gut umsetzbare Maßnahmen finden, damit zumindest die Lichtverschmutzung verringert wird und damit die Reproduktionssynchronisation wieder besser funktioniert. Und: Auch der Zyklus der Frau findet monatlich statt. Es gibt ein Zusammenspiel zwischen dem Gehirn und dem Ovar, das noch nicht restlos geklärt ist. Beim Wurm haben wir interessanterweise Hormone, die die Äquivalente vom Menschen sind. Kann es also sein, dass wir, wenn wir die Monatsrhythmik beim Wurm verstehen, auch Zyklusstörungen bei Frauen verstehen? Das ist nicht komplett aus dem Nichts gegriffen, aber es gibt noch viel zu tun.

Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds

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