Auf dem Weg zu personalisierter Medizin
Sie beschäftigen sich mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz in der molekularen Medizin. Was versteht man darunter?
Christoph Bock: Ich möchte vorausschicken, dass ich lieber den englischen Ausdruck Artificial Intelligence verwende, weil die deutsche Übersetzung etwas in die Irre führt. Mit der Intelligenz des Menschen hat die Technologie nämlich wenig zu tun, wir bauen keine Gehirne nach. Das englische Wort Intelligence umfasst auch die Beschaffung und Verarbeitung von Informationen, das trifft es viel besser. Würde man es so verstehen, gäbe es einige Vorurteile und Probleme mit AI nicht.
Zurück zu Ihrer Frage: Die molekulare Medizin versucht, die biologischen Zusammenhänge von Krankheiten zu verstehen und dann die Ursachen zu bekämpfen, statt nur die Symptome. Die AI hilft uns, diese molekularen Ursachen zu verstehen und gezielt zu behandeln. Zum Beispiel bei Krebs, aber auch bei seltenen genetischen Erkrankungen, die schwierig zu diagnostizieren und zu behandeln sind.
AI kann präzisere Diagnose sowie bessere Therapie ermöglichen. Gerade in der Diagnose sind viele Daten so komplex, dass sie auch ein Stück weit das menschliche Hirn übersteigen.
Christoph Bock, Professor für Medizinische Informatik an der Medizinischen Universität Wien
Was kann AI, was der Mensch nicht kann?
Bock: Der Großteil dessen, was wir heute machen, ist die klassische Reparaturmedizin. Dann gibt es das frühzeitige Abfangen von Erkrankungen, was wir unter Früherkennung verstehen. Einen Schritt weiter geht die tatsächliche Prävention, wo es schon einige erfolgreiche Anwendungen gibt. Die Vision für die Zukunft ist, dass wir für Patient*innen, bei denen bestehende Medikamente nicht weiterhelfen, personalisierte Medizin entwickeln. AI kann dabei präzisere Diagnose sowie bessere Therapie ermöglichen. Gerade in der Diagnose sind viele Daten so komplex, dass sie auch ein Stück weit das menschliche Hirn übersteigen. Wir arbeiten etwa mit Blutproben, in denen wir Spuren von Tumoren identifizieren: Bei Krebspatient*innen sterben regelmäßig Krebszellen, deren DNA noch einige Stunden im Blut zirkuliert. Daraus kann man erkennen, welche Tumorzellen wachsen und sterben, und so in das molekulare Profil des Tumors schauen und verstehen, wie er funktioniert. Die Datenmengen dafür sind aber derart groß und komplex, dass AI-Modelle die Auswertung unterstützen. Die medizinischen Entscheidungen bleiben natürlich weiterhin in der Hand des Arztes.
Werden dafür eigene AI-Modelle entwickelt?
Bock: Ja, und diese haben sich in den vergangenen Jahren fundamental verändert. Ursprünglich hat man dem Computer erklärt, wie er ein gewisses Problem lösen soll, mit klassischen Algorithmen. Man hat ihm beigebracht, worauf er achten muss, wenn Patient*innen dieses oder jenes Problem haben. Heute geht man anders vor: Man füttert die AI mit Daten – und zwar mit möglichst allem, was man über eine große Zahl von Patient*innen mit einer bestimmten Krankheit weiß. Dann wird dem Computer überlassen, hilfreiche Muster zu finden. Man kann so charakteristische Eigenschaften in komplexen Bild- oder Gendaten finden, die ankündigen, ob eine Krankheit da ist oder nicht, wie sie sich entwickeln wird und welche Arten der Therapie möglicherweise vielversprechend sind.
Wie kann AI das leisten?
Bock: AI-basierte Übersetzungsprogramme funktionieren so gut, weil in Datenbanken sehr viele Texte mehrsprachig vorliegen. Gibt man diese dem Computer zu lesen, dann können moderne neuronale Netze eigenständig lernen, eine Fremdsprache zu übersetzen, ohne dass ihnen Rechtschreibung oder Grammatik beigebracht wurde. So trainieren wir AI auch in der Medizin. Dementsprechend wichtig ist es, Zugriff auf umfassende Daten in hoher Qualität zu haben.
Wird die Bedeutung von AI in der medizinischen Forschung größer werden?
Bock: Ich denke, es wird ähnlich sein, wie sich Fabriken in den letzten Jahren und Jahrzehnten durch die Automatisierung verändert haben: In der Industrie übernehmen die Menschen nur mehr komplexe Dinge, die einfachen, kraftraubenden Tätigkeiten werden von Maschinen ausgeführt. Im 21. Jahrhundert zeichnet sich das für die Forschung ab – repetitive Aufgaben übernehmen die Computer, die Wissenschafter*innen konzentrieren sich auf die Entwicklung und Umsetzung vielversprechender Forschungsziele und Strategien. Dadurch kann ich als Forscher in kürzerer Zeit viel mehr erreichen, aber ich muss auch die ganze Zeit mein Gehirn viel stärker beanspruchen, weil einfache Aufgaben mehr und mehr wegfallen – das ist eine Freude und Herausforderung zugleich!
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