Arbeitszeitverkürzung

Die Schlüsselfrage im SPÖ-Konflikt: Mehr Lohn oder weniger Arbeit?

Die SPÖ diskutiert nicht nur über ihren Parteivorsitz, sondern auch über eine Kernposition für den kommenden Wahlkampf: Höhere Gehälter oder geringe Arbeitszeiten? Die Sehnsucht nach mehr Freizeit ist groß. Aber wie wenig Arbeit können wir uns leisten?

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Vor drei Jahren entschied Michael Nader, ein Pilotprojekt zu starten. Der Optiker und Unternehmer musste seine Vision nicht mit der Gewerkschaft oder der Wirtschaftskammer besprechen, auch die Meinung von Hans Peter Doskozil war dafür irrelevant. Nader reduzierte einfach die Arbeitsstunden in seinem Betrieb – bei vollem Lohnausgleich. Seine einzige Mitarbeiterin und er arbeiten nun 30 Stunden die Woche, das Geschäft „My Optic“ in Wien bleibt über Mittag länger und am Samstag ganztägig geschlossen.

Die Umstände des Optikerbetriebs erleichterten ihm die Entscheidung. Die Arbeit im Geschäft, also den Verkauf, könne man steuern. Wer eine neue Brille möchte, soll sich vorher einen Termin ausmachen. „Wir haben dadurch weniger Leerläufe und sind produktiver“, sagt Nader. Die Arbeit in der Werkstatt, also das Verbinden von Gläsern und Gestell, erledigt das Duo am Morgen. So könne er die Nachfrage stillen, die allerdings, wie Nader zugibt, seit der hohen Inflation doch etwas nachgelassen habe.

Unternehmer über Zeitverkürzung: "Schon schön"

Über die Vorteile seiner Entscheidung kann Nader lange schwärmen. Die Regenerationsphasen, das längere Wochenende, die Mitarbeiterinnenbindung: „Das ist schon schön.“ Seine Kollegin mache in der Mittagspause Sport, er brauche die Zeit zur Erholung, immerhin sei es nicht mehr lange zur Pension. Das Pilotprojekt ist für ihn also erfolgreich. Trotzdem traut sich Nader keine Empfehlung zu – weder für andere Unternehmen, noch für den gesamten österreichischen Arbeitsmarkt.

„Es gibt einfach zu viele äußere Faktoren“, sagt der Optiker: den Fachkräftemangel etwa oder die steigenden Preise. „Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn dieses Experiment mit der Senkung der Lohnnebenkosten einhergehen würde.“ Und es liege auch an den Konsumenten, kleine Betriebe zu unterstützen.

Andreas Babler trägt zwar keine optische Brille, aber er wäre wohl ein guter Kunde. Der Bürgermeister von Traiskirchen ruft in seinem Wahlkampf um die SPÖ-Spitze lautstark nach einer Arbeitszeitverkürzung: 32 Stunden sind für ihn genug. Parteichefin Pamela Rendi-Wagner fordert ebenfalls eine Reduktion, wenn auch etwas vorsichtiger (siehe Kasten). Es ist eines der wenigen Themen, bei denen sich die beiden inhaltlich vom dritten SPÖ-Bewerber unterscheiden: Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil propagiert höhere Mindestlöhne statt niedrigerer Stundenanzahl. Die Abstimmung ist also auch eine Entscheidung darüber, welche Antwort die Sozialdemokratie auf die Teuerung geben will. In der Zwischenzeit wird heftig über die Frage diskutiert: Wie wenig Arbeit kann sich das Land leisten?

Durchschnittliche Arbeitszeit sinkt immer weiter

Die SPÖ könnte sich entspannt zurücklehnen und den Dingen ihren Lauf lassen: Denn die durchschnittliche Arbeitszeit befindet sich seit Jahren im geordneten Sinkflug. Und zwar nicht nur, weil es mehr Teilzeitkräfte gibt. Auch unter den Vollzeitkräften reduzierte sich die Stundenleistung (inklusive Überstunden) im 15-Jahres-Vergleich von 44,4 auf 41,9 Stunden pro Woche. Ein Minus von 2,5 Stunden.

Der Trend dürfte sich fortsetzen. Johannes Kopf, der Chef des Arbeitsmarktservice (AMS), beobachtet, dass sich die Verhandlungsmacht derzeit zugunsten der Arbeitnehmer verschiebt: „Beschäftigte können zwischen vielen offenen Stellen wählen – und entsprechend selbstbewusst auftreten. Auch beim Thema Arbeitszeit.“ Immer mehr Unternehmen versprechen im Wettstreit um die besten Mitarbeiter in ihren Job-Inseraten eine Vier-Tage-Woche. Neu sind auch Ausschreibungen, in denen zu lesen ist, dass die Arbeitszeit Verhandlungssache sei.

Die gesetzliche Normalarbeitszeit von 40 Wochenstunden hat für den Großteil der Beschäftigten ohnehin keine Relevanz mehr, haben die Gewerkschaften doch in vielen Kollektivverträgen niedrigere Werte durchgesetzt. Ab Oktober 2023 gilt auch für Angestellte in der Logistikbranche: 38,5 ist das neue 40.

Das geringste Wochensoll gilt seit einem Jahr für Mitarbeiter von sozialen Vereinen wie der Volkshilfe oder dem Hilfswerk: 37 Stunden haben die Gewerkschaften vida und GPA durchgeboxt. Mit jeder Branche, in der es zur Arbeitszeitverschiebung kommt, steigt auch der Druck für andere Wirtschaftszweige, nachzuziehen.

Arbeitszeitverkürzung birgt Gefahren

„Eine Arbeitszeitverkürzung bringt Wohlfahrtseffekte“, sagt WIFO-Ökonomin Ulrike Huemer: „Damit verbessert sich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, es bleibt mehr Zeit für ehrenamtliches Engagement, und es gibt natürlich auch positive Auswirkungen auf die Gesundheit.“

Trotzdem werden die roten Pläne, weniger work und mehr life nun auch gesetzlich durchzusetzen, von Fachleuten skeptisch gesehen: profil sprach mit Ökonominnen, Mitgliedern des Fiskalrates und dem AMS-Chef. Sie alle hoffen, dass die Lohnbildung und die Arbeitszeitregeln weiterhin Sache der Sozialpartner bleiben.

Huemer warnt davor, zu stark an der Stechuhr zu drehen, das sei „sehr sensibel“: „Wie können denn die Betriebe reagieren, wenn die Arbeitszeit sinkt? Teilweise können sie Produktivitätsreserven heben. Dann finanziert sich die Zeitverkürzung von selbst. In einigen Branchen gibt es keine Reserven, dann brauchen die Unternehmen mehr Personal für die gleiche Arbeitsleistung, was steigende Arbeitskosten bedeutet. Die Mehrausgaben kann der Betrieb zwar an die Endverbraucher abwälzen, dann kann es aber sein, dass die Nachfrage sinkt. Und wenn das Abwälzen der Kosten gar nicht geht, kann es passieren, dass Betriebe Arbeiter durch Automatisierung ersetzen – oder ins Ausland abwandern.“

Als die SPÖ 1969 ein Volksbegehren für die 40-Stunden-Woche initiierte, war das Land kein Vorreiter. Deutschland hatte schon erste Schritte gesetzt. Die regierende ÖVP einigte sich mit der SPÖ schließlich auf die langsame Verringerung der Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich. 1975 war es dann so weit.

32-Stunden-Woche ist mehrheitsfähig

Die Idee, heute die Wochenstunden weiter zu reduzieren, ist allerdings mehr als nur die populistische Utopie einer Partei in der Krise. Der Wunsch, weniger zu arbeiten, ist in der Bevölkerung da. Es zeigt sich unter anderem in der aktuellen Umfrage des Instituts Unique Research für profil. Die 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich wäre beinahe mehrheitsfähig: 49 Prozent der Befragten sprechen sich für eine Arbeitszeitverkürzung aus, 39 Prozent sind dagegen. Unter den deklarierten SPÖ-Wählern ist die Zustimmung noch deutlicher, sie liegt bei 67 Prozent. Selbst NEOS-Anhänger haben eine klare Präferenz für weniger Arbeitsstunden. Nur die Wähler der ÖVP sorgen sich deutlich um die Auswirkungen auf die Wirtschaft und lehnen die Forderung mehrheitlich ab.

Eva Zeglovits, Geschäftsführerin des Forschungsinstituts IFES, kennt die Einstellung auch aus der eigenen Empirie. Für manche Beschäftigte sei es ein dringendes Bedürfnis, die Arbeitszeit zu reduzieren. „Sie sind im Job überlastet und sagen: Ich kann nicht mehr, ich halte es keine drei Jahre mehr unter diesen Bedingungen aus.“ Am deutlichsten zeige sich das zum Beispiel im Pflegebereich, „aber auch in anderen Branchen sieht man das Phänomen.“ In der Debatte um die Arbeitszeitreduktion gehe es zwar oft um Freiwilligkeit. „Aber der Aspekt des Arbeitsdruckes fehlt. Es geht in einigen Fällen um etwas Grundlegendes: Die Menschen drücken es bis zur Pension nicht mehr durch.“

Jeder Dritte will Stunden reduzieren

Gemeinsam mit dem Institut SORA befragt das IFES viermal im Jahr jeweils 900 Arbeitnehmer im Auftrag der Arbeiterkammer. Zuletzt zeigten die Daten: Eine andere Verteilung der geleisteten Arbeitsstunden würde dem Wunsch der Beschäftigten entsprechen. Beinahe jeder dritte Mann in Vollzeitbeschäftigung gab an, weniger Stunden arbeiten zu wollen. Im Schnitt würden sie ihre Wochenstunden am liebsten von 41 auf 32 reduzieren. Bei den Frauen in Teilzeit geben 28 Prozent an, mehr arbeiten zu wollen. Meist sind sie 30 Stunden angestellt und würden gern vier Stunden mehr wöchentlich leisten.

Für die Arbeiterkammer und Teile der Sozialdemokratie ist das der Beleg für die Sinnhaftigkeit ihrer Forderung: Die Arbeitsleistung in Österreich wäre mit einer Verkürzung fairer verteilt. Die Beschäftigten wären zufriedener, gesünder und produktiver. Im Idealfall würden auch neue Jobs geschaffen.

Hergovichs Lösung für SPÖ-Streit über Mindestlohn

Wer immer die rote Urwahl gewinnt, könnte auf die Expertise eines roten Landesparteichefs setzen: Niederösterreichs SPÖ-Vorsitzender Sven Hergovich führte die Landesstelle des AMS, bevor er die marode Landespartei übernahm – und kennt die Probleme am Arbeitsmarkt. Seine Position: „Als Sozialdemokrat kann ich nicht akzeptieren, dass Menschen um 1500 Euro brutto Vollzeit arbeiten müssen. Das gehört verhindert, denn unter einem bestimmten Level wird man sich schwertun, sein Leben zu bestreiten.“

Was tun? Hergovich schwebt als gelerntem Sozialpartner statt eines gesetzlichen Mindestlohns ein Modell vor, das er „sanfter Druck“ nennt: „Warum denken wir nicht darüber nach, dass wir öffentliche Förderungen auf Unternehmen beschränken, die gewisse Mindestlöhne zahlen? Das wäre ein Weg zur Austrocknung des Niedriglohnsektors.“

Dass das Arbeitsplätze gefährden könnte, glaubt der rote Landesparteichef nicht und verweist auf Ordinationsgehilfinnen oder Reinigungskräfte bei Rechtsanwälten, die zu den Geringstverdienern zählen – obwohl sich ihre Arbeitgeber mehr Lohn locker leisten könnten.

Bei der Arbeitszeitverkürzung ist Hergovich ein wenig zurückhaltender: „Ich halte es für richtig, dass die Sozialpartner die passende Arbeitszeitreduktion verhandeln. Ich würde das nicht über Nacht machen, sondern stufenweise an den jeweiligen Gegebenheiten der Branche orientiert. Die Grundbotschaft soll aber sein: Die SPÖ will die Arbeitszeit reduzieren.“

Kann die SPÖ ihre Wünsche durchsetzen?

Das klingt mehr nach Hans Peter Doskozil. Und weniger nach Andreas Babler. Aber immer noch so, dass es bei Wirtschaftsvertretern auf wenig Gegenliebe stößt. Sie fürchten Arbeitszeitverkürzungen und Lohnerhöhungen gleichermaßen. Und bringen vor, dass sich der Fachkräftemangel noch zuspitzen werde, dass die Exportwirtschaft leiden würde und Österreich im internationalen Wettbewerb an Attraktivität verlieren könnte. Aber Wirtschaftskämmerer muss die SPÖ ohnehin nicht überzeugen.

Ob die SPÖ ihre Konzepte durchsetzen kann, entscheiden letztlich die Wähler, sagt AMS-Chef Kopf: „Die Debatte um die Arbeitszeit birgt viele Zielkonflikte. Entweder wir setzen auf mehr Wettbewerbsfähigkeit und riskieren Verarmung. Oder wir setzen auf mehr soziale Absicherung – auf die Gefahr hin, dass sich unsere Wirtschaftsleistung verschlechtert. Das ist ein Mitgrund, warum wir wählen gehen.“

Iris Bonavida

Iris Bonavida

ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.

Jakob Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.