Schwarz-Blaupause: Die Polit-Partnerbörse Wiener Neustadt
Von Franziska Schwarz und Jakob Winter
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Warum ausgerechnet Christian Stocker? Nach dem Rücktritt von Bundeskanzler und ÖVP-Obmann Karl Nehammer musste die Volkspartei über Nacht einen neuen Chef aus dem Hut zaubern, dem die undankbare Aufgabe zukam, die Kehrtwende hin zur FPÖ zu rechtfertigen. Das Griss um den Job war überschaubar.
Als Generalsekretär, der im tagespolitischen Infight steht, konnte Stocker weder große Sympathiepunkte sammeln noch zum „Vote-Getter“ werden. Bei der Nationalratswahl 2024 bekam er auf Bundesebene nur 578 Vorzugsstimmen. Die Personalie Stocker, Brotberuf Rechtsanwalt, hat aus ÖVP-Sicht dennoch eine tiefere Logik – und die hat mit seiner Heimatstadt Wiener Neustadt zu tun.
Dort zimmerten Stocker und seine ÖVP einen Pakt mit der FPÖ und drehten die Stadt, die zuvor 70 Jahre eine rote Hochburg gewesen war. Das war vor zehn Jahren, zu einer Zeit, als schwarz-blaue Bündnisse noch Seltenheitswert hatten. Die Koalition wurde damals als „bunte Stadtregierung“ verkauft, denn auch die Grünen stimmten im Gemeinderat für Schneeberger als Bürgermeister.
Mit dabei waren auf FPÖ-Seite von Anfang an Michael Schnedlitz, sein Bruder Markus und Udo Landbauer. Auf ÖVP-Seite zählte Stocker neben Schneeberger zum Schlüsselspieler. Einige von ihnen sollten später im Land und im Bund Karriere machen. Nun könnte das alte Netzwerk aus dem Süden Niederösterreichs für die Koalitionsverhandlungen zwischen Blau und Schwarz aktiviert werden.
Beste Feinde
Obwohl sich Schnedlitz und Stocker auf Bundesebene heftig attackierten, blieben sie auf Lokalebene über all die Jahre ziemlich beste Freunde. Stocker ist einer der wenigen ÖVP-Politiker auf Bundesebene, der einen guten Draht zu den Blauen hat.
Auf der großen Bühne unterstellt Schnedlitz Stocker „Manipulation“, „Panik“ und „pure Verzweiflung“. Im lokalen Gemeinderat gibt sich Schnedlitz versöhnlich: Das Verhältnis zu Bürgermeister Schneeberger beschrieb er in seiner Abschiedsrede im Dezember 2024 wie das zwischen Vater und Sohn: „Lieber Klaus, ich durfte viel von dir lernen.“
Auch für den damaligen Kontrahenten Stocker gab es von Schnedlitz freundliche Worte und anerkennende Blicke: „Lieber Christian Stocker, du hast einmal was Wichtiges gesagt: Es kommt immer auf die Menschen an, und ich gebe dir vollkommen recht.“
Eine weitere Episode aus der launigen Vorweihnachtssitzung 2024 zeigt, wie eng die Beziehung zwischen ÖVP und FPÖ in der Bezirkshauptstadt ist: Neben Schnedlitz erklärte noch ein weiterer FPÖ-Gemeinderat seinen Rückzug aus der Stadtpolitik, bei der Gemeinderatswahl Ende Jänner werden die beiden nicht mehr kandidieren. Schnedlitz witzelte darüber, dass der Blaue sich aus der Gemeindepolitik zurückziehe, weil dieser die Tochter eines ÖVP-Stadtrats sonst nicht heiraten dürfe. Gelächter im Saal.
Die Achse aus Wiener Neustadt ist aber nicht nur eine Partnerbörse, sie spielt auch auf der großen Bühne mit. Schon einmal halfen die Bündnispartner von 2015 mit, eine Koalition auf höherer Ebene zu schmieden.
Stadtchef Schneeberger war als Klubobmann im Landtag über Jahrzehnte einer der mächtigsten Strippenzieher der ÖVP Niederösterreich, die Nummer zwei hinter Altlandeshauptmann Erwin Pröll.
Die Wiener-Neustadt-Connection
Als die Verhandlungen mit der SPÖ zur Bildung einer Landesregierung in Niederösterreich im Jahr 2023 scheiterten, suchte die Volkspartei die Nähe zur FPÖ. „Da war natürlich die persönliche Beziehung zwischen Klaus Schneeberger und Udo Landbauer förderlich. Sie kannten sich gut aus Wiener Neustadt, und im Land waren ja beide Klubobmänner“, sagt Matthias Zauner.
Der Landesgeschäftsführer der ÖVP Niederösterreich, der nach der Landtagswahl-Schlappe das Ruder übernahm, ist ebenfalls ein Ziehsohn Schneebergers. Er orchestrierte den Gemeinderatswahlkampf 2015, wurde danach Büroleiter von Schneeberger und ist auch heute noch als Klubobmann im Wiener Neustädter Gemeinderat aktiv.
Der Deal mit Landbauer auf Landesebene sei einfacher gewesen, meint Zauner, denn „jetzt geht es um die Person Herbert Kickl, und zu dem gibt es keinen direkten Draht“. Es gebe eine Gesprächsbasis zu den Blauen, aber die Verantwortung, eine Regierung zu bilden, sieht Zauner bei Kickl. Stocker sei nun der Richtige, um es auch im Bund zu richten, glaubt Zauner.
Im Industrieviertel eint der gemeinsame Feind. Ein paar Monate nach der Machtübernahme in Wiener Neustadt starteten die beiden einen medialen Paarlauf: Sie waren auf Ungereimtheiten bei der Abrechnung von Gemeindewohnungen gestoßen, die in die Zeit fiel, als noch die SPÖ die Stadt regierte. Die beiden brachten eine Anzeige ein, die Staatsanwaltschaft ermittelte und klagte an. Die Causa endete mit einer Diversion.
Regieren via Handschlag
Die Stadtkoalition schlug einen rechten Kurs ein. Der damalige Stadtrat Landbauer ließ 2017 die Genehmigung des Imbissstands „Kebap-Ali“ nicht verlängern. Lokalmedien erklärte er: „Es gibt keinen Bedarf für einen mobilen Kebap-Stand.“ ÖVP-Bürgermeister Schneeberger schlug sich auf Landbauers Seite. Der Fall sorgte bundesweit für Empörung.
Ein Jahr zuvor setzte die FPÖ auf zivile Ordnungshüter im Gemeindebau, dort patrouillieren Securitys gegen Drogenkriminalität. „Wir handeln, während andere reden!“, so die Schnedlitz-Brüder 2016. Das Referat für „Zusammenleben und Vielfalt“ in der Stadt wurde aufgelöst.
Öffentlichkeitswirksam wurde die Zusammenarbeit der Stadtregierung betont, verbindender Nenner der zehnjährigen Periode war die Budgetkonsolidierung. Das angespannte Stadtbudget konnten ÖVP und FPÖ ein wenig in den Griff bekommen, zuletzt wurde ein Überschuss erwirtschaftet. Geholfen haben die Kontakte Schneebergers ins Land: Die Kommune bekommt seit dem Wechsel von Rot zu Schwarz deutlich mehr Bedarfszuweisungen.
Kenner der Lokalpolitik meinen, dass zwischen ÖVP und FPÖ in Wiener Neustadt kein Blatt Papier passe. Die Zusammenarbeit laufe gut, versichert Zauner, seit 2015 habe es keinen einzigen Gemeinderatsbeschluss gegeben, der nicht gemeinsam getragen worden wäre. Formalien wie verschriftlichte Koalitionsvereinbarungen gibt es in Wiener Neustadt angeblich nicht, ein Handschlag reicht aus, sagen ÖVP und FPÖ. Dafür bedankte sich auch Schnedlitz in seiner Abgangsrede im Gemeinderat. Für den grünen Klubobmann in Wiener Neustadt, Michael Diller-Hnelozub, ist das bezeichnend. De facto gebe es in Wiener Neustadt eine ÖVP-Alleinregierung mit blauem und rotem Beiwagerl.
Der frühere SPÖ-Bürgermeister Bernhard Müller hätte ein gutes Verhältnis zu Stocker gehabt, sagt Müllers ehemaliger Sprecher und heutiger SPÖ-Vizebürgermeister Rainer Spenger. Dass Stocker mit seinem Nein zur Kickl-FPÖ umfiel, überraschte den langjährigen Wegbegleiter nicht. Es sei nicht das erste Mal gewesen. Denn Stocker habe Müller stets versichert, Schneeberger werde nicht zurückkommen.
Nach oben gestolpert
Dass die Volkspartei die Stadt überhaupt drehen konnte, hat auch mit einer von Stockers Eigenschaften zu tun: Der Mann dürfte nicht besonders eitel sein. Jahrelang war er Vizebürgermeister in der roten Kommune gewesen. Für die Wahl 2015 machte er ohne Murren den Weg für Schneebergers Rückkehr als Spitzenkandidat frei, weil sich die Partei mit ihm bessere Chancen ausrechnete. In Innsbruck kam es bei einem ähnlich gelagerten Fall, der Rückkehr von Staatssekretär Florian Tursky, zu einer Spaltung der Partei.
Stocker tritt zur Seite, wenn es die Partei verlangt. Und er nimmt Jobs an, die sonst kaum jemand will. Ob im Untersuchungsausschuss zur ÖVP-Korruption, als Krisenmanager in der Parteizentrale oder nun als Parteichef.
Wird Christian Stocker Vizekanzler? Karoline Edtstadler soll nun in Salzburg nachrücken, Stefan Schnöll, bisheriger Salzburger Landeshauptmann-Stellvertreter, wird laut profil-Informationen als Vizekanzler gehandelt. Und Stocker? Justizminister, wird in Wiener Neustadt gemunkelt – und das nicht erst seit dem Ende der Koalitionsverhandlungen.
Franziska Schwarz
Seit Dezember 2024 im Digitalteam.
Jakob Winter
ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.