Die Vereinigung Europas steht noch aus
Unser Konvoi aus schwarzen Autos schlängelt sich eine Gebirgsstraße entlang, vorne weg die Polizei mit Blaulicht, über uns ein Helikopter. Zwei Entsandte Österreichs sind zu Besuch in Albanien und Nordmazedonien: Bundespräsident Alexander Van der Bellen und die Justizministerin Alma Zadić.
Die raue Topografie ist ein Sinnbild für den Spalt, der sich zwischen den Ländern des Westbalkans (Nordmazedonien, Kosovo, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Albanien) und der EU aufgetan hat. Seit 20 Jahren warten sie auf den Beitritt. Und es sieht nicht danach aus, dass sich das in absehbarer Zeit ändert.
Wie konnte es so weit kommen?
Ist die Europäische Gemeinschaft falsch abgebogen oder der Balkan?
Auf dem Westbalkan leben 20 Millionen Menschen, ein Viertel der Population Frankreichs. Historisch, wirtschaftlich und nicht zuletzt menschlich sind uns Österreichern diese Menschen schon immer näher gewesen als die Schweden, Holländer oder Engländer. In Albanien wurde Van der Bellen letzte Woche auch deswegen so herzlich empfangen, weil schon die Habsburger enge Beziehungen zu dem kleinen Land pflegten und die Albaner in ihrer Unabhängigkeit unterstützten. Hunderte Juden – auch aus Österreich – flohen im Zweiten Weltkrieg in das Land an der Adria und überlebten so den Holocaust. Justizministerin Zadić, gebürtig aus Bosnien-Herzegowina, konnte sich in Skopje, der Hauptstadt Nordmazedoniens, mit ihren Gastgebern auf „BKS“ (Bosnisch/Kroatisch/Serbisch) unterhalten. Wien wird oft scherzhaft als die Hauptstadt eines Vielvölkerstaates bezeichnet, der nicht mehr existiert: Jugoslawien.
Und doch blicken wir mit einem gewissen Naserümpfen auf die Länder des Balkans herab: Die sind eben noch nicht so weit, heißt es oft.
Wer das sagt, macht es sich zu einfach. Denn auf dem Balkan geht es schon lange nicht mehr nur um Reformen allein.
Ändert euren Namen und alles wird gut
Exemplarisch dafür steht Nordmazedonien.
„Wie schön es wäre, wenn man uns wegen Korruption blockieren würde! Wir warten darauf!“, sagte vergangene Woche Nikola Dimitrov zu mir, der vor einem Jahr noch Teil der Regierung war. Der Proeuropäer ist heute schwer enttäuscht von der EU. Als Außenminister hat Dimitrov 2018 das sogenannte Prespa-Abkommen unterzeichnet. Sein Land hat seinen Namen von Mazedonien in Nordmazedonien geändert, um einen jahrzehntelangen Zwist mit Griechenland beizulegen. Innenpolitisch heikel. Man stelle sich vor, wir hätten uns in Ostösterreich umbenennen müssen, um der EU beitreten zu können.
Dimitrov unterzeichnete. Sein Land heißt heute anders. Und dann passierte: Nichts.
Fünf Jahre später haben die Verhandlungen noch immer nicht begonnen. Denn jetzt, wo Griechenland endlich zufrieden ist, hat Bulgarien ein Veto eingelegt. „Sie sehen in uns eine Art künstliche Nation, die nicht existieren sollte“, sagt Dimitrov, „ein bisschen wie Russland dies mit der Ukraine auch macht.“ Dimitrov befürchtet das Schlimmste. Bulgarien betreibe unter dem Deckmantel der EU-Erweiterung Geschichtsrevisionismus.
Was geht uns das an, wenn zwei Nachbarn „irgendwo da unten“ streiten? Mehr, als man glauben mag. Im Zweiten Weltkrieg war Bulgarien mit den Achsenmächten verbündet und hat weite Teile des heutigen Nordmazedoniens besetzt. Tausende Juden wurden in Konzentrationslager in Polen deportiert. Die bulgarische Regierung weigert sich bis heute, die Verantwortung dafür anzuerkennen.
Anstatt Bulgarien diplomatisch umzustimmen, hat die EU im Sommer 2022 einen historischen Fehler begangen. Brüssel hat den bilateralen Geschichtsstreit in den Erweiterungsprozess integriert. Mit den Beitrittskriterien der EU hat das nichts mehr zu tun. Sie legen fest, dass ein Staat nur in die EU aufgenommen werden kann, wenn er rechtsstaatlich und demokratisch verfasst ist und wenn seine Wirtschaftsordnung marktwirtschaftlich bereit ist. Da steht nichts davon, dass ein Land blockiert werden kann, weil einem Nachbarn seine Flagge, Sprache oder gar Geschichtsbücher nicht passen.
Präsident Van der Bellen hat es während der Reise immer wieder angedeutet: Als Österreich 1995 nach ein bisschen über einem Jahr Verhandlungen beitreten konnte, waren die Anforderungen noch nicht so verfahren. Und er hat recht. Man stelle sich vor, Italien hätte unsere Aufnahme über Jahre hinweg wegen der Südtirol-Frage blockiert.
Etwas Ähnliches passiert jetzt in Nordmazedonien. Das Land kann erst Beitrittsgespräche starten, wenn es seine Verfassung ändert und die bulgarische Volksgruppe (3500 Menschen) anerkennt. Dafür fehlt die Zweidrittelmehrheit im Parlament. Und das Problem reicht weiter. Selbst wenn Skopje diesen scheinbaren Federstrich durchbringt: Wer garantiert dem Land, dass sich Sofia in ein paar Monaten nicht wieder querstellt?
Das Resultat: Der Zuspruch zur EU steht auf einem historischen Tief. Nicht einmal die optimistischen Proeuropäer wie Nikola Dimitrov, ehemals Außenminister, glauben mehr daran, dass die EU ihr Wort hält.
Das Ergebnis: Nationalismus und autoritäre Tendenzen erstarken in der Region, progressive Kräfte werden nicht gehört. Viele wandern aus. Das haben vor allem die Eliten auf dem Balkan zu verantworten, die es sich in diesem Limbo gemütlich gemacht haben. Aber nicht nur: Bilaterale Alleingänge sind an die Stelle unserer Vision getreten, die da lautet: Zusammenwachsen, um nationalistische Gräben zu überwinden.
Geeintes Europa – nicht ganz
Dafür, dass uns der Balkan geografisch und menschlich so nahe ist, vergessen wir in regelmäßigen Abständen, dass er existiert. Als Russland vor einem Jahr die Ukraine überfiel, war fälschlicherweise immer wieder vom ersten Krieg in Europa die Rede. Als ob es die Jugoslawienkriege nie gegebenen hätte.
Das liegt auch an einem historischen Missverständnis. Wenn es ein Jahr gibt, das man in Europa mit Einheit in Verbindung bringt, dann war es das Jahr 1989. Menschen tanzten auf der Berliner Mauer, Grenzzäune wurden mit Bolzenschneidern durchtrennt. Die Osterweiterung im Jahr 2004, als gleich zehn Länder gleichzeitig beitraten, waren noch von dieser Euphorie getragen. Der Balkan wirkt im Vergleich dazu wie ein lästiger Klotz am Bein. Nicht die auch noch!
Vielleicht, weil „unsere“ Wende von 1989 nicht zum Balkan passt. Dort steht das Jahr nicht für Frieden, sondern für Gewalt. Jugoslawien zerbrach in blutigen Zerfallskriegen, und selbst Albanien, das nie Teil von Titos Vielvölkerstaat war, steuerte auf ein Jahrzehnt zu, das von Anarchie und einem beispiellosen Massenexodus geprägt war.
Es ist nur konsequent und logisch, dass diesen Ländern 2003 eine europäische Perspektive geboten wurde. Denn auch die Geburtsstunde der EU war einst die komplette Zerstörung gewesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte endlich dauerhaft Frieden zwischen verfeindeten Nachbarn herrschen. Dass das gelungen ist, gilt als historisch einzigartiges Erfolgsbeispiel. Auch deswegen übt die EU eine solche Anziehung auf die Länder des Balkans auf. Hören wir auf, in ihnen nur krisengeplagte Nettoempfänger zu sehen! Die Menschen dort sehnen sich auch nach einer nachhaltigen Friedensvision. Jetzt, wo der Krieg nach Europa zurückgekehrt ist, mehr denn je.
Die EU mit Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin erhebt den Anspruch, eine geopolitische Union zu sein. Aber wie wollen wir das schaffen, wenn wir unseren Einfluss nicht einmal in der Peripherie sichern, die seit 20 Jahren im Schwebezustand ist und als Einfallstor für Russland und China gilt?
Die europäische Vereinigung, die nach dem Zweiten Weltkrieg eingeleitet wurde und die 1989 in eine neue Phase trat, ist erst dann abgeschlossen, wenn der Balkan beitritt.
Deswegen sollten wir jetzt das tun, worauf die Menschen, die dort leben, so sehr hoffen: ernsthaft und aufrichtig verhandeln.