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Alltagskultur

Eine Tour durch Geschichte und Geheimnis des Fahrrads

Das Strampelvehikel ist das erfolgreichste Verkehrsmittel: Der globale Fahrradmarkt wird bis 2027 ein Volumen von 80 Milliarden Dollar erreichen.

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Jody Rosen erfährt die Vorhölle des Verkehrs hautnah. Der Journalist und ehemalige Fahrradkurier stürzt sich seit Jahrzehnten mit dem Fahrrad in New Yorks Straßenschluchten, in denen velozipierende Menschen im Zweifelsfall taxfrei zum Abschuss freigegeben sind und von der Polizei ungleich härter angefasst werden als die motorisierten Nebenbuhler. So berichtet es Rosen, 53, in seinem Buch „Zwei Reifen, eine Welt“ ,einem 500-SeitenKompendium, vollgestopft mit Wissen, Wissenschaft und Witz, in dem sich alles in Form von Reportagen, Gesprächen und Essays ums Fahrrad dreht. Weil Rosen nicht nur ein couragierter Radler ist, sondern von seiner Leidenschaft auch zupackend zu berichten weiß, ist „Zwei Reifen, eine Welt“ eine Lesereise durch 200 Jahre Fahrradgeschichte geworden, die ihren Reiz dadurch gewinnt, dass der Autor keine vorschnelle Inthronisierung des Strampelvehikels vollzieht. Hinter jedem Verabsolutieren lauert die Ambivalenz, selbst bei einem so banalen Gegenstand wie dem Fahrrad – das Transportvehikel wie umkämpftes Politikum ist. Der allergrößte Teil der Menschheit fährt Rad. Fahrradfahren ist einem, einmal erlernt, so geläufig wie Schnürsenkelbinden und Zähneputzen. „Beinahe halb Mensch und halb Fahrrad“, staunte der irische Dichter und Säufer Flann O’Brien. Studien, die Rosen zitiert, sagen voraus, dass der globale Fahrradmarkt bis 2027 ein Volumen von 80 Milliarden Dollar erreichen wird. Eine Tour in sieben Gängen.

Gang 1: Losfahren

Am Anfang steht, wie so oft, polternder Nationalismus. Den ersten Schritt in der Entwicklung des Fahrrads vom klobigen Ding mit zwei Rädern zum Hightech-Traum aus Federleichtrahmen, Pedalen, Kette, Tretkurbel, Gabel und Speichenrad beanspruchen England, Frankreich, Italien, Russland und China jeweils für sich. 1897 erklärte ein chinesischer Diplomat, ein fahrradähnliches Gefährt namens „glücklicher Drache“ sei 2300 Jahre vor unserer Zeitrechnung in der Yao-Dynastie erfunden worden. Ganz Russland träumt von Jefim Artamonow als Schöpfer des Fahrrads. Die entscheidende Idee, den Menschen mit der Maschine zu vereinen, wobei der Mensch zugleich deren Antreiber ist, stammt nachweislich von Karl Freiherr von Drais (1785–1851), einem deutschen Forstbeamten und Tüftler. Am 12. Juni 1817 präsentierte Drais seine „Laufmaschine“. Eine große Idee war in der Welt. Es dauerte Jahrzehnte von der „Laufmaschine“ über die sogenannten Knochenschüttler und Hochräder der 1860er-Jahre bis zur Erfindung des „Sicherheitsniederrads“ am Ende des 19. Jahrhunderts, das zur für heute noch gebräuchlichen Rahmenform führte.

Gang 2: Unterhaltung mit dem Esel

Globale (historische) Spitznamen für das Fahrrad: „Ironhorse“ (Eisenpferd) wird das Vehikel in der englischsprachigen Welt genannt; in Frankreich sprach man vom „cheval mécanique“ (mechanisches Pferd); in China nannte man das Fahrrad einst „fremdländisches Pferd“. Freiherr von Drais’ Urlaufmaschine war als „Dandy Pferd“ und „hobby horse“ (Steckenpferd) bekannt. Bis heute verweist der Sattel, der gepolsterte Sitz eines Fahrrads, auf die TierRad-Beziehung (siehe auch Gang 4). Im deutschsprachigen Raum setzte sich der Esel durch: Es ist den Übersetzern von „Zwei Reifen, eine Welt“ hoch anzurechnen, dass sie auf das abgegriffene Wort vom „Drahtesel“ homöopathisch zurückgreifen.

Gang 3: Zwei Räder gut?

Fahrradfahren ist nützlich und gesund. Wer Fahrrad fährt, rettet den Planeten. Zwei Räder gut. Vier Räder böse. Doch gibt es ein kleines Unglück im großen Fahrrad-Glück: „Die Herstellung eines Fahrrads hat ihren Preis, hinterlässt einen Fußabdruck“, schreibt Rosen. Gern verdrängte Fragen stellen sich: Aus welchem Tagebaugebiet stammt das Bauxit, aus dem das Aluminium des Rahmens gewonnen wird? Woher kommt der Gummi für die Reifen? Historisch betrachtet, ist der Fahrradbonus längst verspielt: Der Kautschuk für die Erfindung eines gewissen John Boyd Dunlop, durch die das Fahrrad erst Luft unter die stählernen Schwingen bekam, wurde unter kolonialer Terrorherrschaft in Belgisch-Kongo gewonnen. Menschen auf Rädern fühlen sich jenen in Autos gern moralisch überlegen. „Nur das Fahrrad bewahrt ein reines Herz“, frohlockte bereits 1965die Dichterin Iris Murdoch. Fahrräder sind aber nicht per se grün und gut. Grüner als Autos, aber eben nicht nur.

Gang 4: Zwei- und Vierräder, eine Liaison dangereuse

Das ewige Duell um die ideale Form der Mobilität ließe sich so formulieren: Pferd vs. Fahrrad vs. Automobil, wobei stets unerbittlich im Gesamthorizont des Politischen und Gesellschaftlichen argumentiert wurde und wird. Es geht immer um alles, sobald es ums Fahrrad geht. Mit entwaffnender Aggressivität bekämpften einander im 19. Jahrhundert die Lager der Cyclisten und Pferde-Agenten. Der Autor und Oberspötter Mark Twain kommentierte: „Kaufen Sie sich ein Fahrrad. Sie werden es nicht bereuen, wenn Sie dann noch am Leben sind.“ Von Tierwohl, Hygiene und Snobismus auf dem hohen Ross war beim Infight zwischen Radlern und Reitern die Rede, vom Überlebenskampf der Tradition gegen das moderne Leben, vom Widerstreit zwischen Land und Stadt, Maschine und Natur, Körper und Geist. „Der ideologische Kampf zwischen Fahrrad und Auto heute ist harmlos im Vergleich zum Kampf zwischen Fahrrad und Pferd im 19. Jahrhundert“, schreibt Rosen in „Zwei Reifen, eine Welt“. Auto und Rad wiederumlegtenlange Zeitgemeinsamein Stück des Weges zurück. Ohne die vorangegangene Radbegeisterung im 19. Jahrhundert wäre die automobile Revolution nur schleppend erfolgt: Fahrräder sollen fahren, nicht holpern – es waren Fahrradfanatiker, die dafür gesorgt hatten, dass die ersten Autos bereits eine Welt von Asphalt und Teer vorfanden. Das sogenannte „Rover-Fahrrad“ kam 1885 auf den Markt und machte das Veloziped für ein Massenpublikum zugänglich. Im selben Jahr stellte Carl Benz seinen „Patent-Motorwagen Nummer 1“ und Gottlieb Daimler sein erstes Motorrad vor. 20 Jahre bevor in Detroit schließlich Henry Fords revolutionäres Model T 1908 erstmals vom Fließband lief, schuf der Automagnat das Ford Quadricycle, einen vierrädrigen Fahrradvorläufer mit Stottermotor.

Gang 5: Neu gegen alt

In den 1890er-Jahren schwappte eine erste Fahrrad-Modewelle über Stadt und Land. Bald bekämpfte das Alte das Neue. Jody Rosen weist in „Zwei Reifen, eine Welt“ insbesondere auf die Bedeutung des Fahrrads als Katalysator innerhalb der Frauenbewegung hin. „Das Fahrrad zeigt immer mehr sein wahres Gesicht – als Zerstörer von Heim und Glück“, wusste die Tageszeitung „The Wichita Daily Eagle“ im Jahr 1896 zu berichten. Aufgerollt wurde der Fall der Elma J. Dennison, 23 Jahre alt, wohnhaft in der Fifth Street 513, Brooklyn. Dennison war ein sogenanntes „Fahrradmädchen“, das auf einem Herrenrad unterwegs war, dabei Bloomers trug, weit geschnittene und an den Knöcheln geraffte Oberhosen. Diagnose „Fahrradfieber“: Dennison lebe, lästerte das Blatt, nur für ihr Rad und auf ihremRad.DerdüpierteEhemannstrengte eine „Trennungsklage wegen Grausamkeit“ an – und präsentierte dem Gericht folgenden Brief als Beweis: „MeinlieberMann – komm zu unserem Treffpunkt Ecke 3rd Street/7th Avenue und bring mir die schwarze Bloomerhose, meine Ölkanne und mein Werkzeug mit.“

Gang 6: Schleppwunder

Fahrräder schreiben Geschichte, im Kleinen wie im Großen. Allen, die es hören oderauchnichthörenwollten,erzählteder Boxer und Maulheld Muhammad Ali gern die Anekdote, wie er zum Größten aller Zeiten wurde. Alles begann im Oktober 1954 in Louisville, Kentucky, mit einem gestohlenen Kinderfahrrad. Klein Ali weinte sich beim Polizisten Joe E. Martin aus, der nach Feierabend Betreiber einer Boxschule war. DerRest ist Sportgeschichte. Am 2. Februar 1967 wiederum ließ Harrison Salisbury, stellvertretender Chefredakteur der „New York Times“, mit der Aussage aufhorchen, die Großmacht USA würde den Krieg in Vietnam verlieren – besiegt von einer Fahrrad-Armada. Nordvietnams Armee verwandelte Fahrräder in veritable Schleppwunder, um damit entlang des Ho-Chi-Minh-Pfads Munition und Ausrüstung zu transportieren. Die US-Truppen überzogen das Land mit Brand und Bomben, während die Fahrradfrachtpaletten immer weiterrollten.

Gang 7: Ankommen

Zum Ankommen, ganz parteiisch, ein Lobgesang. Für den Architekten Adolf Loos war eine griechische Vase so „schön wie ein Fahrrad“. Es kann auch kein Zufall sein, dass die Brüder Orville und Wilbur Wright gelernte Fahrradmechaniker waren. Am 17. Dezember 1903 absolvierten sie am Strand der Stadt Kill Devil Hills, US-Bundesstaat North Carolina, die ersten Hüpfer mit einem Motorflugzeug. Dem Himmel nah, mit und ohne Fahrrad.

Jody Rosen: Zwei Reifen, eine Welt. Deutsch v. A. Jandl, S. Schmid u. V. Topalova. Hoffmann und Campe. 462 S., EUR 26,80

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.