Protokoll

Eva Menasse zu Deutschland: „Ich wurde schon aus dem Zug evakuiert“

Die Schriftstellerin Eva Menasse, die seit 1999 in Berlin lebt, wundert sich seit zwei Jahrzehnten über das zur Routine erstarrte Chaos in ihrer Wahlheimat.

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Dass die Bahn am Kollabieren ist, weiß ich aus Erfahrung, weil ich für die Lesereisen in der Regel wochenlang mit dem Zug durch Deutschland fahre. In einem Interview sagte der Bahnchef unlängst, ab 2050 werde die Deutsche Bahn pünktlich laufen! 2050! Man kann sich eigentlich nicht mehr durch Deutschland bewegen. Wenn man das Auto nimmt, steckt man im Stau, weil alle Autobahnen mit Baustellen gepflastert sind, oder die Wagen krachen ineinander, weil es kein Tempolimit gibt. Die Flughäfen brechen immer wieder zusammen, weil es seit Corona viel zu wenig Personal gibt.

Einmal fuhr ich im Jänner mit dem ICE von Innsbruck nach Berlin, und schon in München funktionierte nur noch die Hälfte der Toiletten. Bis Berlin waren es nur noch wenige, da brechen sofort anarchische Zustände aus. Die ICEs, erfährt man dann, seien technisch eben kompliziert gebaut, und wenn es zu kalt ist, funktioniert die Hydraulik nicht mehr. Die französischen TGVs sind einfacher gebaut, weniger luxuriös, aber weit weniger fehleranfällig. Wenn es gut geht, rast man im Silberpfeil durch Deutschland, aber in letzter Zeit geht es eben meistens nicht gut. Ich wurde schon aus dem Zug evakuiert, habe alles erlebt. Über die Deutsche Bahn könnte jeder Romane schreiben.

Ich habe es mir zum Grundsatz gemacht, nach jeder Lesung gleich am nächsten Morgen weiterzufahren, weil man nie weiß, was wieder alles schiefgehen wird. Ich baue deshalb immer einen Puffer von mehreren Stunden ein, weiche manchmal auf Flix-Busse und Flix-Züge aus. Das Problem an der Bahn sind die vielen Flaschenhälse – wenn auf den Hauptstrecken etwas passiert, ruht der gesamte Nord-Süd-Verkehr. Ich saß einmal mehrere Stunden in Frankfurt am Main fest, in der Hoffnung, dass der Zugverkehr irgendwann wieder anrollen würde; ich musste nur nach Stuttgart (Fahrzeit eineinhalb Stunden!), wo ich an einer Diskussion teilnehmen sollte, die die Schriftstellerin und Literaturkritikerin Thea Dorn moderierte. Ich kam gerade noch mit dem Taxi vom Bahnhof direkt zum Theater, zog mich eiligst auf der Toilette um und war in dem Augenblick auf der Bühne, als wir verkabelt wurden.

Ich verstehe auch nicht, wie es etwa zu dem eklatanten Lehrkräftemangel kommt. Man kann das ja via Geburtenraten, Ab- und Zuwanderung halbwegs vorausberechnen und sogar mögliche Wirtschaftskrisen und Flüchtlingswellen einbeziehen. Einzig die bayerische Schulbehörde hat es jahrzehntelang geschafft, richtig zu rechnen und genug Lehrpersonal zu haben, die Berliner nie. In Bayern funktionieren die Dinge halbwegs, aber je weiter nördlich, desto chaotischer wird es. Nur ein Beispiel: Als ich 1999 kurz vor meiner Übersiedlung nach Berlin stand, erhielt ich eine Aufforderung von der Stadt Wien, man könne sich nun anmelden für das Pilotprojekt „Handy-Parken“. In Berlin kam die Möglichkeit, mit einem Mobiltelefon einen Parkschein auszufüllen, mehr als zehn Jahre später an. Es gibt immer noch Gegenden in Deutschland ohne Handyempfang und Internet. Oder: Vor zwei Jahren habe ich zwei Wochen lang auf das Nummernschild meines Autos gewartet. Und noch eine Berliner Geschichte: Im Spandauer Amt brach vor einigen Jahren jene Abteilung zusammen, in der Totenscheine ausgestellt werden. Damals verbreitete sich die Anekdote, dass alte Leute aus den Spandauer Altersheimen geholt und in andere Bezirke transferiert würden, um der Katastrophe vorzubeugen, dass man seine Angehörigen im Todesfall monatelang nicht beerdigen könnte.

Wenn man einen neuen Personalausweis braucht, muss man auf eines der Berliner Bürgerämter, das geht nur noch mit Online-Termin. Es gibt aber keine Online-Termine, seit Jahren nicht. Man kann jeden Tag zu jeder Uhrzeit auf diesen Kalender klicken – nichts, nie. Allerdings gibt es noch die verheißungsvolle Funktion „Termin berlinweit suchen“, wo man mit viel Glück manchmal einen einzigen Termin in einem entlegenen Außenbezirk findet – aber dann immer innerhalb der nächsten Stunde, bei den Berliner Entfernungen unmöglich zu schaffen. Der einzige Weg sind quasi-heimliche Telefonnummern, die man auf den extrem unübersichtlichen Websites erst einmal finden muss. Letztens fand ich eine, rief sehr früh am nächsten Tag an, wurde mit einem netten Beamten verbunden, der mir einen Termin vier Wochen später gegeben hat. Das gilt in Berlin als Lottogewinn.

Protokoll: Stefan Grissemann