Fütterungszeit: In einem gesunden Darm (rot/violett) freuen sich Billionen von Bakterien (grün) über Ballaststoffe (blau). 
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Der Boom ums Biom

Die Erforschung der diversen Mikroben-Gemeinschaft im Darm hat weltweit an Fahrt aufgenommen. Im Verdauungstrakt könnte schließlich der Schlüssel zu nachhaltiger Gesundheit, sogar zu personalisierter Medizin liegen. Vielversprechend oder doch zu viel versprochen? David Berry, Professor für Humane Mikrobiomforschung an der Uni Wien, ordnet ein.

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Manchmal weiß David Berry nicht so recht, ob er sich freuen soll. Etwa, wenn er mit der U-Bahn zum Uni-Wien-Biologiezentrum unterwegs ist und ein Fahrgast im Bestseller „Darm mit Charme“ schmökert. Einerseits begrüßt es der Professor für Humane Mikrobiomforschung, dass sich eine breitere Öffentlichkeit über die lange unterschätzte Bedeutung des Darmbioms für die Gesundheit und die Entstehung von Krankheiten informiert, die mit einem veränderten Biom assoziiert werden. Andererseits hat das wachsende Interesse an seinem Forschungsfeld auch Schattenseiten. Zum Beispiel die Geschäftemacherei rund um die Darmgesundheit – etwa mit Mikrobiom-(Selbst-)Tests. Sie geht zu Lasten vieler Laien, die, wie er sagt, nicht verstehen, „dass man sich trotz großer Fortschritte noch immer im Status der Grundlagenforschung befindet und es in vielen Bereichen für allgemeine Aussagen noch zu früh ist“.

Ein Henne-Ei-Dilemma. 

So belegen Studien zwar, dass sich die Darmflora von Patient:innen mit bestimmten Krankheiten – die Liste reicht von chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen über Allergien, Rheuma, Diabetes, Adipositas, Depressionen und Autismus bis hin zu Multipler Sklerose – von jener gesunder Menschen unterscheidet. „Jedoch ist nicht klar, ob Veränderungen des Mikrobioms diese Krankheiten auslösen oder sie eine Folge davon sind. Respektive könnte auch schlicht beides der Fall sein“, erklärt Berry. Zudem sind auch nicht alle, bei denen sich spezifische Abweichungen zeigen, an den damit assoziierten Leiden erkrankt oder werden daran erkranken. 

Den Boom von Mikrobiom-(Selbst-)Tests, die Einblicke in den Darm, den heutigen Gesundheitszustand und mögliche künftige Erkrankungen versprechen, sieht der Mikrobiologe daher kritisch. Die Tests würden zwar durchaus valide Momentaufnahmen der Zusammensetzung des Darmbioms liefern, aber eben auch für jede Menge Verunsicherung sorgen, weil sich die Befunde nicht einordnen lassen. „Wenn Sie etwa Ihre Leberwerte untersuchen lassen und sie sind zu hoch, liegt eine Leberschädigung vor, deren Ursachen man suchen und behandeln kann. Diese Klassifizierung gibt es beim Mikrobiom nicht“, sagt Berry. Es fehlt schlicht noch an einer Definition, welche Bakterienwerte und -zusammensetzungen für einen gesunden Menschen überhaupt als ,normal‘ gelten können und ob und wann Veränderungen zuverlässig auf das Entstehen oder Fortschreiten von Krankheiten hindeuten.

Um das zu durchschauen, reicht eigentlich ein Blick auf die harten Fakten des relativ jungen Forschungsbereichs. Was hier im Zentrum steht, ist eine diverse Gemeinschaft von Mikroorganismen (Bakterien, Pilze, Viren, Einzeller …), die zu Billionen den Darm bevölkern, zusammengenommen rund 1,5 Kilogramm wiegen und als Mikrobiota oder -biom bezeichnet werden. Die ungeheure Vielfalt der Darmflora schnell und präzise zu analysieren, ist erst seit den Nullerjahren möglich, dank neuer Technologien, wie etwa der Hochdurchsatzsequenzierung. Der Fokus lag dabei vor allem auf den Darmbakterien. Rund tausend verschiedene Arten wurden schon identifiziert. 

Rund 300 davon finden sich bei jedem Menschen. Doch weil vieles Einfluss aufs Biom hat – angefangen bei den Genen und den Umständen der Geburt über Lebensstil, Ernährung, Medikamente, Schadstoffe, Umwelteinflüsse, Hygiene bis hin zum Kontakt mit Haustieren –, setzt sich die Mikroben-Community im Detail von Mensch zu Mensch höchst unterschiedlich zusammen. Ihre Zusammensetzung ist sogar so individuell, dass Forscher:innen von einem „mikrobiellen Fingerabdruck“ sprechen. Schon deshalb kann es keinen „Biom-Standard“ geben, an dem man sich messen könnte. 

Jedenfalls noch nicht. In Zukunft könnte „die relativ günstige, individuelle Mikrobiom-Sequenzierung aber tatsächlich global die Gesundheitsversorgung verbessern, wenn sich daraus noch mehr belastbare Prognosen, Diagnosen sowie Therapieansätze ableiten lassen“, so Berry. Jedes neue Forschungsergebnis lässt diese Hoffnung berechtigter erscheinen.

Was es bereits gibt, sind Stuhltransplantationen, bei denen der aufbereitete Stuhl einer gesunden Person auf eine kranke übertragen wird. Ein Verfahren, das bei Betroffenen mit antibiotika-refraktärer Clostridioides difficile Kolitis angewandt wird, sehr erfolgreich übrigens. Das große Ziel wäre aber erst dann erreicht, wenn die Darm-Mikroorganismen als Therapeutikum eingesetzt werden können. Krankheiten ließen sich dann heilen, indem man die Zusammensetzung der Darmflora verändert, etwa die beim Krankheitsbild reduzierten Bakterien ersetzt. Idealerweise müssten Patient:innen dann nur noch ein individuell abgestimmter Bakteriencocktail oder isolierte Stoffwechselprodukte per Pille verabreicht werden. Erste vielversprechende Studien gibt es schon, zum Beispiel im Bereich Dickdarmkrebs. In Versuchen mit krebskranken Mäusen konnten am Universitätsspital Zürich jene T-Zellen aktiviert werden, die den Tumor abtöten, indem man ihnen genau die Bakterien oral verabreichte, die im Darm von Krebspatient:innen reduziert sind.

Diverses Biom, vielfältige Aufgaben.

Bis das Darmbiom zum Schlüssel für personalisierte Medizin werden könnte, ist es noch ein gutes Stück des Weges. Ein Schlüssel, um gesund zu bleiben, ist ein diverses Biom aber bereits heute. Je vielfältiger es nämlich zusammengesetzt ist, desto widerstandsfähiger ist und macht es. Krankmachende Mikroben finden schlicht keinen Platz in einem gesunden, dicht besiedelten Verdauungstrakt. Und: Ein diverses Biom ist auch fitter für seine vielfältigen Aufgaben. Diese gehen weit über die Mithilfe bei der Verdauung hinaus. Inzwischen weiß man: „Die Mikroorganismen stärken die Darmbarriere. Krankheitserreger aus dem Verdauungsorgan können dann nicht in die Blutbahn gelangen und umgekehrt. Sie fungieren zudem als Trainingspartner fürs Immunsystem und sind an der Bildung von Hormonen, Vitaminen und anderen Botenstoffen beteiligt“, so David Berry. 

Auf diese Weise beeinflussen die Darmbewohner den ganzen Stoffwechsel und die Organe. Über die so genannte Darm-Hirn-Achse kommuniziert der Unterleib sogar mit dem Kopf. Unter anderem gelangen von den Bakterien produzierte Substanzen über die Darmwand in den Blutkreislauf. Darunter auch solche, die zur Produktion von Serotonin und Dopamin beitragen. Eine unausgewogene Mikrobiota kann die Neurotransmitterproduktion hingegen beeinträchtigen und entzündliche Prozesse fördern, die zur Entwicklung depressiver Symptome beitragen können. 
 

„Der Fokus muss sein, evidenzbasierte, für die breite Masse zugängliche Lösungen zu entwickeln.“

David Berry, Mikrobiomforscher

Der Darm, das Superorgan. 

Kein Wunder also, dass das Mikrobiom als „Superorgan“ bezeichnet wird, wenn es neben der Gesundheit auch Denken, Verhalten und Gemütslage beeinflussen kann. Wie jedoch das komplexe Wechselspiel zwischen dem Menschen und seiner Darmflora genau funktioniert und welche Rolle die verschiedenen Bakterien spielen, beginnen Forscher:innen eben erst und nach und nach zu verstehen. 

Immerhin, bei allen Wissenslücken, die es in der Forschung noch zu schließen gilt, ist Eines ganz klar: Im Darm hausen Bakterien, die die Gesundheit günstig oder auch ungünstig beeinflussen können. Eine Disbalance zwischen „guten“ und „schlechten“ Bakterien oder eine eingeschränkte Vielfalt der mikrobiellen Mitbewohner kann sich unangenehm bemerkbar machen – in der mildesten Form als Magen-Darm-Beschwerden, leidvoller erfahren von Betroffenen mit Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa. Auch alle, die nach der Einnahme von Breitbandantibiotika, die bei Darmbakterien keinen Unterschied zwischen Freund und Feind machen, schon einmal Durchfall hatten, haben es schon am eigenen Leib gespürt. 

Damit das Biom aber gar nicht erst aus dem Gleichgewicht gerät und sich in den Dienst der Gesundheit stellen kann, braucht es wenig. Oder vielmehr: weniger. Weniger von unserem westlichen Lebensstil. Eine Ernährung mit einem hohen Anteil an gesättigten Fetten, hochverarbeiteten Lebensmitteln, viel Zucker und tierischen Proteinen reduzieren im Zusammenspiel mit Stress und Bewegungsmangel nämlich die Diversität des Mikrobioms. Blähungen und Verdauungsprobleme sind dann noch ein vergleichsweise kleines Übel. Denn gleichzeitig vermehren sich Bakterien, die mit entzündlichen Prozessen und Stoffwechselstörungen in Verbindung stehen. Sie produzieren Trimethylamin, einen Stoff, der im Verdacht steht, das Risiko für Arteriosklerose und damit für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erhöhen. 
Heißt: „Dem Mikrobiom und damit der Gesundheit zuliebe sollte man einen entschleunigten Lifestyle pflegen und auf eine nicht dringend angezeigte Einnahme von Antibiotika verzichten. Vor allem aber gilt es, dauerhaft und kontinuierlich auf eine ausgewogene, ballaststoff- und faserreiche Kost zu achten, die auf fermentierte Lebensmittel setzt, die probiotische Eigenschaften besitzen, und reichlich frisches Obst und Gemüse beinhaltet“, so Berry. Denn eine solche Ernährung unterstützt nicht nur das Wachstum nützlicher Bakterien, sondern trägt auch zur Produktion kurzkettiger Fettsäuren bei, die entzündungshemmend wirken und die Darmgesundheit unterstützen. 

Probiotika, selbst verschreibungspflichtige oder in der Apotheke frei erhältliche Produkte, seien für einen ausgewogenen Speiseplan leider kein bequemer Ersatz: „Man kann damit nicht gezielt bestimmte, ,gute‘ Bakterien füttern.“ Bei probiotisch angereicherten Produkten wie Joghurts oder Drinks fehle sowieso meist ein wissenschaftlicher Wirkungsnachweis. Allerdings: „Wem sie guttun, der soll sie nehmen.“ Und es kann auch helfen, sich zum Antibiotikum ein Probiotikum verschreiben zu lassen, etwa Saccharomyces boulardii, um das Mikrobiom zu stabilisieren und die Regeneration der Darmflora zu unterstützen.
Mehr Wissen und mehr Tun braucht es eigentlich nicht, um seine Mikroben zu hegen. Doch weil das Einfache oft zu einfach erscheint und neben populärwissenschaftlichen Ratgebern auch fast täglich schlagzeilenmachende neue Erkenntnisse die Neugier von Otto-Normal-Gesundheitsbesorgten befeuern, wird ums Biom gerade ein Riesenhype und Geschäft gemacht. Mikrobiologe Berry warnt jedoch vor unhaltbaren Versprechungen – nicht nur im Bezug auf kommerzielle, probiotische Produkte, spezielle Diäten oder Biom-Tests. Er mahnt insgesamt, bisherige Ergebnisse nicht überzuinterpretieren. „Der Fokus muss sein, evidenzbasierte und für eine breite Öffentlichkeit zugängliche Lösungen zu entwickeln.“ 
 

Evidenz statt Hype. 

Dass manche dieser Lösungen – wie etwa seine Ratschläge für einen biomfreundlichen Lebensstil – weit weniger neu und sexy sind als Berrys faszinierendes Forschungsgebiet, wird wohl einer der größten Knackpunkte werden. „Dabei“, so der Experte, „ließe sich schon mit diesem kleinen Schritt wirklich Großes erreichen.“ Wenn Billionen Mikroben jubeln, spürt man das einfach.

Text: Daniela Schuster