Dr. KI & Herzen aus dem 3D-Drucker
1873 erklärte der Präsident der Royal Medical and Chirurgical Society das Potenzial der Gesundheitswissenschaften für ausgereizt. „Wir haben die Grenzen dessen erreicht, was mit Medizin möglich ist“, so der Brite John Eric Erichsen.
Die Einschätzung traf nicht ganz zu. Allein 2023 wurden in der Medizintechnik europaweit 15.985 Patente angemeldet. Im selben Zeitraum empfahl die Europäische Arzneimittelagentur 77 neue Arzneimittel zur Zulassung, knapp ein Drittel davon revolutionäre Krebsmedikamente. Und der Fortschritt geht weiter: Für dieses Jahr hat das Forbes Magazin zehn Healthcare-Trends ausgerufen, die auch unser heimisches Gesundheitssystem von Grund auf verändern könnten.
Wenn da nicht eine kleine Hürde wäre: Technologische und soziale Innovationen sind teuer. Und Österreichs Gesundheitsausgaben stiegen seit 2015 bereits von 35,7 auf 52,3 Milliarden Euro. Wird Otto Normalpatient hierzulande überhaupt in den Genuss des Fortschritts kommen? Public-Health-Experte Richard Felsinger von der MedUni Wien ordnete für profil Extra die zehn Top-Trends des Jahres ein.
1. Organe aus dem 3D-Drucker
Wenn Niere, Herz oder Leber schlappmachen, ist ein Spenderorgan oft die letzte Rettung – aber meist nicht verfügbar, wenn es dringend gebraucht wird. Die Lösung könnten Organe aus dem 3D-Drucker sein, die aus körpereigenen Zellen zusammengesetzt sind (und damit auch die gefürchtete Abstoßungsreaktion verhindern). Am Herz aus dem Drucker wird zum Beispiel an der Universität von Stanford oder am Massachusetts Institute of Technology (MIT) geforscht. Eine Transplantation gelang bislang aber noch nicht.
profil Extra: Wann bekommt Österreich das erste Herz aus dem 3D-Drucker?
Felsinger: Meine Hoffnung: In fünf bis zehn Jahren. Was uns aber schon heute gelingt, sind individuelle Hüftprothesen aus dem 3D-Drucker. Die wurden in Österreich bereits erfolgreich eingesetzt.
2. Generative KI
Künstliche Intelligenz, die selbstständig Texte, Audiofiles, Bilder oder Videos erzeugt, ist uns spätestens seit ChatGPT geläufig. Künftig wird sie auch im Gesundheitssystem eine wichtige Rolle spielen – zum Beispiel bei der Aufbereitung von Daten für die Forschung oder zum Trainieren von Algorithmen. Sie würde aber auch viele Prozesse im (kostspieligen) Kontakt von Patient:innen und Gesundheitssystem vereinfachen. So könnten etwa Chatbots oder virtuelle Assistenten medizinische Fragen beantworten, die Terminvergabe beim Arzt vereinfachen oder beim Abrechnen von Leistungen durch den Bürokratiedschungel führen.
profil Extra: Schreibt uns künftig die KI krank?
Felsinger: Die KI wird auch weiterhin nicht ohne Mediziner:innen auskommen, die Mediziner:innen aber auch nicht ohne KI – darum integrieren wir die Wissensvermittlung über Künstliche Intelligenz schon jetzt in alle Curricula. Der Jackpot wäre, wenn die KI durch vernetzte Daten Diagnosen stellen könnte. Das schafft sie vorerst nur in Spezialdisziplinen wie der Hautkrebserkennung.
3. Personalisierte Medizin
Bis 2030 wird das globale Marktvolumen für personalisierte Medizin auf 923 Milliarden US-Dollar steigen, schätzt Statista. Maßgeschneiderte Medikamente und Therapien könnten Krankheiten künftig schneller und effizienter heilen als herkömmliche One-fits-all-Lösungen. Wirksamster Schlüssel ist dabei die Genomik, also die Abstimmung von Präparaten und Methoden auf das individuelle Erbgut.
profil Extra: Gibt’s bald nur noch Medizin nach Maß?
Felsinger: Hoffentlich! Das gerade in Bau befindliche Eric Kandel Institut für Präzisionsmedizin soll Wien zu einem der diesbezüglich führenden Forschungszentren weltweit machen. Durch die Lage direkt am AKH-Campus wollen wir es stark mit der Klinik vernetzen, sodass die Patient:innen schnell von neuen Erkenntnissen profitieren.
Die Technologien müssen noch niederschwelliger werden, um die älteren Bevölkerungsgruppen zu erreichen
4. Virtuelle Gesundheits-Assistenten
Früher konnten sich nur die Superreichen einen eigenen Leibarzt leisten. Künftig stellt der Fortschritt jedem von uns seinen persönlichen Gesundheits-Coach zur Seite – in Form von Apps und Sensoren, die unsere Gesundheitsdaten vernetzen sowie Prävention oder Behandlung managen.
profil Extra: Woran muss ich künftig nicht mehr selbst denken?
Felsinger: Zum Beispiel an die Medikamenteneinnahmen, Impftermine oder Sport – meine Smartwatch hat mich gerade eben wieder daran erinnert, ein bisschen Bewegung zu machen. Die Herausforderung: Die Technologien müssen noch niederschwelliger werden, um die älteren Bevölkerungsgruppen zu erreichen, die am meisten von ihnen profitieren würden.
5. Telemedizin 2.0 & virtuelle Spitäler
Das Internet der Dinge ermöglicht auch jenen Patient:innen einen unbeschwerten Alltag, die ständige Überwachung brauchen. Die Messung und Übermittlung kritischer Daten erfolgt daheim auf der Couch oder draußen am Fußballplatz statt in der Spitalsambulanz. Nächster Schritt: Virtual Hospital Wards. Das bedeutet: Der Patient ist im eigenen Bett daheim mit dem Spitalspersonal vernetzt, das alle relevanten Werte jederzeit online im Blick hat.
profil Extra: Ist Telemedizin schon sicher genug?
Felsinger: In vielen Bereichen liefert sie uns schon wertvolle Dienste, etwa für Diabetiker:innen mit dauerhaften Messgeräten oder beim 24-Stunden-EKG. Virtual Hospital Wards sehe ich kritisch – auch wegen der Haftungsfrage.
6. Präventionsmedizin
„Wer nicht jeden Tag etwas Zeit für seine Gesundheit aufbringt, muss eines Tages sehr viel Zeit für die Krankheit opfern“, wusste Sebastian Kneipp schon vor 150 Jahren. Das Sprichwort funktioniert auch, wenn man Zeit durch Geld ersetzt. Darum werden die internationalen Gesundheitssysteme künftig stärker in Vorsorgemedizin investieren. Nötig wäre das auch in Österreich: Hier gehen aktuell nur 12,4 Prozent der relevanten Bevölkerung zur Vorsorgeuntersuchung, erhob die Österreichische Sozialversicherung.
profil Extra: Ist Vorbeugen besser als heilen?
Felsinger: Ja, aber es braucht auch eine Qualitätskontrolle der Präventionsmaßnahmen. Denn wir werden täglich von Gesundheits- und Ernährungstipps überschwemmt, die nicht alle kritischer Überprüfung standhalten. Besser an seriöse Quellen halten!
Wie verändert sich die Medizin?
Richard Felsinger ist Experte für Public-Health an der MedUni Wien. Für profil Extra ordnet der Allgemeinmediziner die zehn Top-Trends des Jahres ein.
7. Digitale Zwillinge
Moderne Computertechnik kann nicht nur Instrumente wie Nadeln oder Skalpelle digital darstellen, sondern auch ganze Organe. Mit dem detailgetreuen virtuellen Abbild des Körpers kann die Forschung zum Beispiel Operations- oder Behandlungsszenarien durchspielen und Erkenntnisse für die Praxis sammeln.
profil Extra: Hat der Hausarzt bald unsere Avatare in der Kartei?
Felsinger: Davon sind wir noch weit entfernt. Virtuelle Modelle sind für die Forschung schon jetzt wertvoll, für die Patient:innenversorgung spielen sie aber noch keine Rolle.
8. Mentale und körperliche Healthcare werden eins
Die Wechselwirkung von psychischer und physischer Gesundheit ist eigentlich keine ganz neue Erkenntnis. Trotzdem zählt sie zu einem der zehn Healthcare-Trends des Jahres – auch, weil die Learnings der COVID-Pandemie viele neue Daten geliefert haben.
profil Extra: Werden wir künftig ganzheitlicher behandelt?
Felsinger: Eigentlich sollte das biopsychosoziale Modell das Grundprinzip unseres ärztlichen Handelns sein. In Österreich tragen wir dem Trend mit der Entwicklung neuer psychosomatischer Abteilungen und mit neuen Schwerpunkten in der Ausbildung Rechnung.
9. Altenpflege
Mit 61 geht’s bergab: Laut Eurostat enden die gesunden Jahre der Österreicherinnen mit 61,3 und der Österreicher mit 61,5 Jahren – und damit zwischen sieben und neun Jahre früher als bei Skandinavier:innen und rund zweieinhalb Jahre früher als der EU-Schnitt. Die Folge: Immer mehr Alte brauchen Pflege beziehungsweise medizinische Betreuung. Auch weil typische Alterskrankheiten wie Demenz oder Parkinson zunehmen – in Österreich, aber auch in den meisten anderen hochentwickelten Ländern.
profil Extra: Warum verschärft sich das Pflegethema?
Felsinger: Weil wir Österreicher:innen immer älter werden, aber nicht im gleichen Maß länger gesund bleiben. Die Gründe dafür erforschen wir gerade – eine Rolle dürften Bewegungsmangel, schlechte Ernährung, soziale Isolation und ein großer Anteil von Raucher:innen sein.
VR-Brille als OP-Assistenz
Bei einer Operation können in der VR-Brille nicht nur Vitalwerte eingeblendet werden, sondern auch die Livebilder einer Kamerasonde aus dem Körperinneren.
10. Virtual & Augmented Reality
Von der Experimentierphase in den Mainstream: VR-Brillen könnten künftig Ärzt:innen und Patient:innen gleichermaßen das Leben leichter machen. Das gilt für die Chirurgin, die sich beim Operieren relevante Daten ins Gesichtsfeld einblenden lässt, aber auch für den Schmerzpatienten, der virtuellen Urlaub vom tristen Spitalsalltag braucht.
profil Extra: Ist Virtual Reality schon Realität in Österreichs Medizin?
Felsinger: Ja, zum Beispiel im Anatomiekurs, wo man keine realen Knochen oder Organe mehr braucht, um Aufbau und Strukturen zu verstehen. Oder in der Kindernotfallklinik, wo mit Avataren Erste Hilfe geübt wird. Ein spannendes Feld für die Zukunft wäre auch die Patient:innenaufklärung: Diagnosen und Therapien ließen sich damit viel leichter vermitteln.
Text: Alexander Lisetz