Schlüsselressource

Gesundes Wachstum

Die Schlüsselressource der Zukunft? Gesundheit! In einer alternden Gesellschaft verbessert ihre Förderung nicht nur die individuelle Lebensqualität und Leistungsfähigkeit, sondern wird zum entscheidenden Wirtschaftsmotor und zur Voraussetzung für gesellschaftliche Stabilität.

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Im März erhielt die deutsche Bundesregierung Post: Ein Kollektiv von Gesundheitsprofis forderte sie auf, Gesundheit ins Zentrum der Politik zu stellen. Tenor des vom WifOR-Institut veröffentlichten Positionspapiers „Mit Gesundheit aus der Wachstumskrise“: Eine proaktive Gesundheitswirtschaft entlaste nicht nur die Sozialsysteme und Arbeitgeber:innen. Eine gesunde, länger im Job aktive Bevölkerung sei auch die Grundlage für Wirtschaftswachstum und Wohlstand. Durch Prävention und Gesundheitsförderung werde die Produktivität direkt gesteigert, „ein unverzichtbarer Faktor für die Zukunftsfähigkeit des Landes.“ 

Eigentlich ein „No na“ angesichts einer alternden Gesellschaft, steigenden Fachkräftemangels und explodierender Krankheits- und Ausfallkosten. Dennoch wird Gesundheit, gerade aufgrund der genannten Faktoren, immer noch vorrangig als Kostenpunkt und nicht als Schlüsselressource betrachtet. Auch hierzulande. 

Sicher: Es wird gern betont, dass Gesundheit ein Wirtschaftsfaktor von zunehmender Bedeutung für Österreich ist. So zeigten Studien des Instituts für Höhere Studien (IHS), die im Auftrag von WKO und Wirtschaftsministerium durchgeführt wurden, schon 2017, dass die heimische Gesundheitswirtschaft stärker wächst als der Durchschnitt der Gesamtwirtschaft. Bereits damals entstanden fast elf Prozent der österreichischen Wertschöpfung direkt in der Gesundheitswirtschaft, jede:r siebte Beschäftigte war dort tätig. Verflechtungseffekte einbezogen, wurden sogar 16,5 Prozent der Wertschöpfung direkt, indirekt oder induziert durch Nachfrage in der Gesundheitswirtschaft geschaffen. Doch damit ist die Bedeutung von Gesundheit(sförderung) nur unvollständig abgebildet. Es geht nämlich nicht (nur) um Umsatz, den die steigende freiwillige und unfreiwillige Nachfrage nach Gesundheits(dienst)leistungen klarerweise bringt. Sondern um Ressourcen. Wachstum und Wohlstand entstehen, wenn Menschen länger gesund und produktiv bleiben.

Ein Paradigmenwechsel hin zu einer prädiktiven, präventiven und partizipativen Medizin muss her. Und die WifOR-Expert:innen sind nicht die Einzigen, die ihn fordern. Einer, der ihn schon seit Jahrzehnten postuliert, ist Erik Händeler. Für den deutschen Wirtschaftswissenschaftler und Zukunftsforscher ist klar: Der Gesundheitszustand der Bevölkerung ist die größte, bislang ungenutzte Ressource der Volkswirtschaft. Und nicht nur das: Für ihn liegt in der Gesundheit, insbesondere der psychosozialen, auch der Schlüssel zu den gesellschaftlichen Problemen unserer Zeit.
 

Herr Händeler, Sie sagen, der nächste große Wirtschaftsaufschwung werde vom Bedürfnis nach umfassender Gesundheit getrieben, zusammen mit dazu gehörenden Innovationen. Das ist etwas völlig anderes als das Narrativ vom Aufschwung durch smartere Maschinen, Digitalisierung und KI ...

Erik Händeler

Dass Technologie die Produktivität steigert, ist schon richtig – für einen begrenzten Teil der Arbeitsprozesse. Wir haben die Produktion durchrationalisiert, Computer und KI nehmen uns die strukturierte Wissensarbeit ab. Doch bei schnell wechselnden Interessenslagen hilft keine Dingenskirchentechnologie. Etwa wenn zwei Abteilungsleiter nicht miteinander reden (können). Oder wenn sie über Ziele streiten, wie sie Ressourcen verwenden oder auf plötzliche dynamische Veränderungen reagieren sollen. Heißt: Der Kern der Produktivität ist in Zukunft etwas völlig anderes. Die Welt ist so komplex, dass wir viel mehr auf das Wissen und die Erfahrung anderer angewiesen sind als früher. Dabei werden die seelischen Schichten berührt. Wer eine gesunde Psyche hat, muss andere nicht heruntermachen. Er verfolgt das Projektziel und nicht sein Eigeninteresse in Form von Kostenstellen und Karriere. Und er wird konstruktiv um die bessere Lösung ringen. Kurz gesagt: Psychosoziale Gesundheit ist für die Produktivität heute das, was vor 250 Jahren die Dampfmaschine war.

Apropos Dampfmaschine: Sie argumentieren mit den langen Konjunkturszyklen, die der Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratieff (1892–1938) beschrieben hat. Wie kann eine 100 Jahre alte Theorie heute die Zukunft erklären?

Händeler

Die Konjunktur schwankt langfristig auch deshalb, weil die Produktivität nicht gleichmäßig wächst, sondern in Schüben. Wenn sich grundlegende Innovationen wie etwa die Dampfmaschine, die Eisenbahn oder der Computer ausbreiten, senkt das die Kosten, hebt die Gewinne. Es lohnt sich zu investieren, die Wirtschaft boomt – bis die neuen Technologien keinen großen zusätzlichen Nutzen mehr bringen. Dann stagniert die Produktivität. Am Markt werden Gewinne herunterkonkurriert, die Marge geht gegen Null. Das war nach dem Eisenbahnbau in der Krise nach dem Gründerkrach 1873 so, und auch nach der Elektrifizierung in der Weltwirtschaftskrise nach 1929. Das Gleiche erleben wir gerade, nachdem der Computer uns die vergangenen 40 Jahre die strukturierte Wissensarbeit abgenommen hat.

Wie genau wird Gesundheit zur Dampfmaschine des 21. Jahrhunderts?

Händeler

Kondratieff sagt, es gibt zu jeder Zeit einen bestimmten Mix an Werkzeugen, Kompetenzen, Produktionsfaktoren. Diese wachsen aber nicht im selben Maße wie die Wirtschaft. Deshalb verändern sie ihre Kostenstruktur untereinander, bis ein Faktor sich nicht mehr vermehren lässt und so knapp wird, dass es sich nicht mehr lohnt, zu investieren. Dann kommt es zu einer schweren Wirtschaftskrise. Mit der Dampfmaschine konnte man Bergwerke entwässern, Kohle und Erz fördern. Aber der Rohstofftransport wurde zum Engpass. Erst als die Eisenbahn gebaut wurde, konnte die Wirtschaft wieder wachsen. Heißt: Am knappsten Produktionsfaktor entsteht die Zukunft. Jetzt ist der Flaschenhals der Mangel an Gesundheit. Insbesondere psychische Erkrankungen nehmen zu, Lohnneben- und Krankheitskosten schnüren dem Standort die Luft ab.

Was wird also Ihrer Ansicht nach in den Geschichtsbüchern einmal über den nächsten Strukturzyklus zu lesen sein?

Händeler

Dass sich endlich auch in der Wirtschaft genau das entfalten konnte, was den Menschen ausmacht. Je mehr wir in Technik investieren, umso wichtiger wird der Mensch dahinter, der in dieser Unübersichtlichkeit und bei widersprüchlichen Interessen Entscheidungen trifft. 200 Jahre Industriegeschichte hindurch haben wir die materiellen und energetischen Arbeitsprozesse produktiver gemacht, durch Dampfmaschine, Strom, Eisenbahn, Auto und schließlich den Computer, der uns die strukturierte Informationsarbeit, Datenanalyse, Maschinensteuerung etc. abgenommen hat. Was jetzt an Arbeit bleibt und neu entsteht, ist Arbeit am und zwischen Menschen und mit unscharfem, unstrukturierten Wissen. Etwa wenn Emotionen oder unterschiedliche Interessen die Zusammenarbeit erschweren. Bricht bei Kritik oder Widerstand dann gleich das gesamte Selbstwertgefühl zusammen oder schlägt jemand um sich, dann ist dieser Mangel an seelischer Gesundheit der größte Produktivitätskiller. Um Wissen produktiv anzuwenden, braucht es psychosoziale Gesundheit, um mit anderen – sei es im Unternehmen oder in anderen Firmen – gut kooperieren zu können. Auch Bildungskapital und Erfahrungswissen gewinnen an Bedeutung. Der Mensch wird also immer wertvoller. Und damit der nicht mit Ende 50 halbtot frühverrentet werden muss, werden wir mehr in Gesunderhaltung investieren müssen.

Zur Person

Erik Händeler (55) ist deutscher Wirtschaftswissenschaftler, Zukunftsforscher, Vortragsredner und u. a. Autor von „Die Geschichte der Zukunft“. 
www.erik-haendeler.de

Hier fällt auch den Unternehmen eine Rolle und Verantwortung zu …

Händeler

Bisher wurde man nach oben befördert oder in Frührente geschickt. Wenn wir aber wollen, dass jemand bis 67 oder 70 arbeitet, dann kann er das nicht so tun wie mit 37. Die Arbeitswelt muss sich ändern, etwa indem wir ab Ende 50 weniger arbeiten, Verantwortung abgeben. Dafür werden wir natürlich weniger Lohn bekommen, der aber immer noch mehr ist als die Pension. Die Firma kann das Erfahrungswissen und die Beziehungen der alten Hasen länger nutzen. Die Arbeitnehmer:innen profitieren, weil sie weiterhin sozial eingebunden sind und mitbekommen, was am Markt und im Unternehmen läuft. Das machen die Leute aber nur mit, wenn sie wertgeschätzt werden, die Unternehmenskultur gut und die Arbeit interessant ist. Da sind wir dann wieder bei den immateriellen Einflüssen von Gesundheit. Ein Umdenken reduziert Fehlzeiten, fördert eine Verbesserungskultur und macht Firmen auch für den Nachwuchs attraktiv.

Wie muss sich das Gesundheitssystem wandeln?

Händeler

Im System sollte mehr Geld verdient werden mit der Gesunderhaltung der Gesunden als mit Krankheitsreparatur. Die Botschaft ist, dass wir den Leuten in Zukunft etwas geben: mehr Lebensberatung, mehr von der Krankenkasse bezahlte Prävention, eine persönliche Gesundheitsreform. Ausgewogene Ernährung und moderate Bewegung sind so ziemlich die Medizin für fast alle Krankheiten. Aber das Ganze sollte Spaß machen, sonst wird das nichts. Die individuelle Einstellung „Wie ich mit meinem Leben umgehe, geht euch nichts an, aber wenn ich krank werde, dann müsst ihr alle dafür zahlen“ ist nicht mehr durchzuhalten. Ziel muss sein, gesund alt zu werden, damit sich das Leben produktiv entfalten kann. Zum eigenen Nutzen und dem der Gesellschaft.

Sie sagen, ein Produktivitätsschub durch Gesundheitsförderung könnte auch viele andere Probleme lösen …

Händeler

Nur wenn es uns gelingt, viel produktiver als bisher zusammenzuarbeiten, wird es uns gelingen, Wirtschaft und Politik zu stabilisieren. Sonst kommt es – wie in allen vorherigen Kondratieff-Abschwüngen – zu Massenarbeitslosigkeit, Verteilungskämpfen, Handelskriegen, dem Ruf nach dem „starken Mann“, der alle Probleme löst. In den 1880ern wurden in München die Juden auf der Straße verprügelt, weil sie angeblich Schuld waren an der langen Krise nach dem Eisenbahnbau. Auch aktuell spüren Leute, dass ihre Lebenspläne nicht mehr funktionieren, aber sie können es sich nicht erklären. Dann sind eben die Ausländer schuld, die Grünen, wahlweise eine ausländische Macht. Die heutigen Handelskriege und auch der Rechtsruck zeigen, dass wir schon mitten in einem langen Abschwung sind. Da kommen wir nur heraus, wenn wir gesamtgesellschaftlich produktiver werden. Und das erreichen wir durch mehr körperliche und vor allem psychosoziale Gesundheit.

Was muss geschehen, um Gesundheit als Schlüsselressource der Zukunft in der Politik zu verankern?

Händeler

Bisher war Gesundheit etwas, das Geld kostete. Daher reden wir über Kürzen, Umverteilen, Verdichtung der Arbeit für Pflege und Ärzt:innen. Der neue Blick muss sein, dass Investition in Gesundheit etwas bringt: höhere Produktivität, geringere Lohnnebenkosten, mehr Mitarbeiter:innen. Dabei gilt es auch, Gesundheit weiter zu fassen als Medizintechnik, Pharma, Massagen. Denn da doktern wir an den Symptomen herum. Ursache für Krankheiten sind – neben unserem Lebensstil – auch Belastungen, auf die wir wenig Einfluss haben. Eine gute Führung in den Unternehmen, konstruktives Streiten, ein wertschätzender Umgang würden schon einen großen Teil der Belastungen wegnehmen, deretwegen wir mit körperlichen Symptomen zu kämpfen haben. Der neue Strukturzyklus funktioniert mit einer Kultur, in der der Einzelne sich in Freiheit entfalten, seine Gaben für das Gelingen des Ganzen einsetzen kann.

Ist Europa da vielleicht im Vorteil gegenüber anderen Kulturkreisen?

Händeler

Die US-Amerikaner sind, wie wir gerade erleben, zu einem großen Teil egoistisch, individualistisch. Auch eine Gruppenkultur wie im fernen Osten und auch Süden ist nicht ausreichend produktiv, wenn es darum geht, Wissen anzuwenden. Da sehe ich die Europäer mit ihrer Balance zwischen Individualismus und Gemeinwohl an der Spitze der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung.

Braucht es neben dem BSP einen Gesundheitsindikator?

Händeler

Am Ende zeigt sich am BSP, wie erfolgreich ein Land Gesundheit gewährleistet hat. Es ist aber nicht das Geld, das Gesundheit herstellt. Vieles, was unsere Gesundheit voranbringt – ein gutes Gespräch oder die Treppe zu nehmen statt des Liftes – kostet sogar gar nichts. Was uns voranbringt, ist das, was das reale Leben besser macht. Da hilft wieder Kondratieffs Sicht: Eisenbahnen haben im 19. Jahrhundert nicht deshalb die Wirtschaft angetrieben, weil die Leute Fahrkarten kauften. Sondern weil sie damit schneller von A nach B kamen als mit dem Pferd. So sparten sie Zeit ein, in der sie etwas anderes arbeiten konnten. Das war dann das Wirtschaftswachstum. Und auch bei der KI treiben nicht die Ausgaben für Server und Datenvolumen die Wirtschaft an, sondern die gewonnene Zeit bei Arbeitsabläufen. Nicht das Geld, das wir in Gesundheitsprodukte oder -dienstleistungen investieren, wird also den nächsten Aufschwung auslösen, sondern die höhere Produktivität. Weil die Leute länger am Jobleben teilnehmen und sich das Bildungskapital länger amortisiert.

Gesundheit als Zukunftsinvestition.

Dass der Paradigmenwechsel kommen wird, davon ist Erik Händeler überzeugt: Die steigenden Krankheitsreparaturkosten und die Notwendigkeit, die Produktivität zu steigern und wirtschaftlich resilienter zu werden, werden uns dazu zwingen. Umdenken muss aber nicht nur die Politik, auch Unternehmen, Gesellschaft und jede:r Einzelne sind gefordert. Gesundheit ist jedenfalls eine Schlüsselressource – zu einer florierenden Wirtschaft, zu einer humaneren Arbeitswelt, zu einer stabilen Gesellschaft und zu mehr individueller Lebensqualität. Zeit, dass wir auch so (be)handeln.

 

Text: Daniela Schuster