Gender Gap

Männergesundheit: Warum sie früher sterben

Fünf Jahre leben Frauen in Österreich im Schnitt länger als Männer. Warum diese Gender Gap ausnahmsweise einmal zu ihren Gunsten ausfällt? Die Forschung hat keinen Grund, sondern gleich ein ganzes Bündel von Faktoren gefunden.

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Wer mit dem Tod das Geschäft seines Lebens machen will, riskiert mehr als nur das Seelenheil. André-François Raffray bezahlte seine Wette jedenfalls teuer. 1965 hatte der Anwalt, selbst Mitte 40, einer 90-Jährigen ihre Wohnung abgekauft. Gegen eine monatliche Leibrente sollte sie nach ihrem Dahinscheiden ihm gehören. Doch seine Vertragspartnerin überlebte ihn, seine Witwe zahlte weiter. Insgesamt erhielt Jeanne Calment mehr als das Doppelte des Marktpreises für ihr Apartment. Sie wurde 122 Jahre alt.

Menschen, die wie Jeanne Calment 110 und älter werden, nennt die Wissenschaft Supercentenarians. 80  Prozent sind weiblich. Und auch wenn es sich bei ihnen natürlich um Ausreißer in der Statistik handelt, hat die Investmentbranche seit Raffray doch dazugelernt. Die allgemein höhere Lebenserwartung von Frauen, eines der bekanntesten demografischen Phänomene, ist bei Leibrentenmodellen inzwischen eingepreist.

Eine Frage der Gene? 

In Österreich beträgt die Lebenserwartungsdifferenz zwischen den Geschlechtern aktuell rund fünf Jahre. Eine Gender Gap von gut sechs Prozent. In anderen Ländern ist sie zum Teil noch größer. Beim Gehalt würde man(n) das kaum akzeptieren. Bei der Lebenszeit jedoch zucken die meisten mit den Achseln: It’s the biology, stupid. Schließlich werden auch im Tierreich Weibchen meist älter. Und überhaupt: die Gene! 

Sicher spielen die Gene eine wichtige Rolle. So haben Forscher bei uralten Menschen auffällig häufig die günstige Genvariante ApoE2 gefunden, die entscheidend bei Cholesterinabbau und Entzündungsreaktionen mitwirkt. Die Gender Gap lässt sich dadurch aber nicht erklären. Die langlebigkeitsfördernde Variante kommt bei beiden Geschlechtern vor. In Europa tragen sie bis zu zwölf Prozent der Menschen, fand ein Team an der Kieler Universität heraus. 

Nicht von der Hand zu weisen ist hingegen: Frauen sind biologisch im Vorteil – schon vor dem Start ins Leben. Die University of Exeter konnte zeigen, dass insbesondere späte Fehlgeburten bei Jungen häufiger vorkommen. Ebenso Frühgeburten. Frühgeborene Buben haben zudem schlechtere Überlebenschancen.

Im späteren Leben ist das doppelte X-Chromosom, auf dem sich viele Abschriften befinden, die lebenswichtige Vorgänge steuern, ebenfalls ein Plus. Ist ein X-Chromosom fehlerhaft, kann es bei Frauen durch die intakte Kopie ausgeglichen werden. Wie Forscher der Universität Gent herausfanden, sind sie dadurch etwa besser vor Krebs geschützt als Männer, deren Erbgut nur ein X-Chromosom enthält. Manche Forscher vermuten, dass ihr Y-Chromosom zudem im Alter in einigen Zellen verkümmert, was zusätzlich Erkrankungen begünstigt. Diskutiert wird auch, ob Frauen deshalb länger leben, weil sie über mehr Radikalenfänger verfügen, die Zellschäden verhindern. Die Informationen dafür liegen auf dem X-Chromosom. 

Hormonell scheinen Männer ebenfalls benachteiligt. Sie sterben etwa häufiger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen – und es deutet einiges auf eine kausale Ursache von Testosteron hin. Eunuchen-Studien zeigen jedenfalls: Kastrierte Ratten leben länger. Und auch eine Auswertung der Lebensspanne von Eunuchen aus der Chosun-Dynastie ergab, dass sie 14 bis 19 Jahre älter wurden als ihre unversehrten Geschlechtsgenossen. 

Vor dem Wechsel sorgt zudem das weibliche Geschlechtshormon Östrogen bei Frauen für ein besseres Verhältnis zwischen dem guten HDL- und dem gefäßschädigenden LDL-Cholesterin. Mit ein Grund, weshalb sie erst zehn bis 15 Jahre später einen Herzinfarkt erleiden. Und selbst wenn eine Frau zu viel wiegt: Der weibliche „Birnentyp“ mit Fettdepots an Hüfte und Gesäß ist weniger durch Diabetes und koronare Herzkrankheit gefährdet als der männliche „Apfeltyp“ mit Einlagerungen im Bauchraum. 

Bei Frauen ist das Immunsystem zudem robuster. Sie verfügen über eine größere Anzahl von T-Abwehrzellen. Dank bester medizinischer Versorgung und hoher Hygienestandards ist dies in unseren Breiten zwar nur mehr ein kleiner Benefit. Im globalen Süden jedoch sterben fast viermal so viele männliche Nachkommen an Infektionen oder Parasiten.

Kein Naturgesetz

Dennoch ist eine frühere Männersterblichkeit kein Naturgesetz. Für den großen Einfluss nicht-biologischer Faktoren auf die Lebenserwartung sprechen schon die Gender-Gap-Daten aus anderen Ländern oder Zeiten, die recht unterschiedlich ausfallen. Marc Luy, Bevölkerungswissenschaftler an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, zeigt in seinen Publikationen, dass die Lücke bei der Lebenserwartung Ende des 19. Jahrhunderts mit drei Jahren noch deutlich geringer ausfiel. Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, für die besonders junge Frauen anfällig waren, und eine hohe Müttersterblichkeit hielten die Gap klein. 

Antworten aus dem Kloster

Die moderne Medizin ließ die Lebenserwartung beider Geschlechter seitdem kontinuierlich ansteigen. Bei den Frauen jedoch rascher. Bis zum Ende der 1970er-Jahre vergrößerte sich der Geschlechterunterschied hierzulande daher auf rund sieben Lebensjahre. Die komplexen Mechanismen hinter der Gap hat Marc Luy über die vergangenen 25 Jahre untersucht. Neben biologischen Faktoren sah er sich auch andere Determinanten an. Dazu gehören der Lebensstil, berufsbedingte Gesundheitsrisiken oder das Risikoverhalten, etwa im Verkehr oder bei der Freizeitgestaltung. Aber auch der Sozialstatus – ein Konstrukt aus Bildung, Beruf, Einkommen und Wohlstand.

Um herauszufinden, welcher Anteil auf die unterschiedlichen Faktoren entfällt, suchte Luy nach Orten, an denen sich Männer und Frauen in ihren Lebensumständen, Verhaltensweisen und Berufsrisiken nur sehr geringfügig voneinander unterscheiden. Er wurde hinter Klostermauern fündig. Das Ergebnis seiner Deutsch-Österreichischen Klosterstudie: Die Differenz in der Lebenswartung von Nonnen und Mönchen lag bei nicht mehr als einem Jahr. 

Luys Schlussfolgerung – auch für die Allgemeinbevölkerung: Für die Höhe der heutigen Unterschiede in der Lebenserwartung spielt die Biologie nur eine untergeordnete Rolle. Lediglich etwa ein Jahr der aktuellen Fünf-Jahre-Differenz gehen tatsächlich auf das Konto des Geschlechts. Die restlichen vier Jahre sind auf mit dem Lebensstil in Verbindung stehende Faktoren zurückzuführen.

Stierhatz von Pamplona

Seit 1924 forderte dieses nicht nur von Tierschützer:innen scharf kritisierte Spektakel 15 Tote, in der Regel junge Männer.

Todesursache Nummer 1

Heißt: Zum Großteil ist die Gender Gap „menschgemacht“. Oder wie es US-Wissenschaftler Ralph L. Keeney formulierte: „Die häufigste Todesursache in der heutigen Zeit sind persönliche Entscheidungen.“ Und hier treffen Männer eindeutig schlechtere als Frauen. Der Erste Österreichische Männergesundheitsbericht und andere Studien zeigen: Weil sie im Verkehr oder in der Freizeit größere Risiken eingehen oder in potenziell gefährlicheren Jobs – etwa am Bau – arbeiten, verunfallen Männer öfter. Sie ernähren sich zudem weniger ausgewogen, rauchen und trinken noch immer mehr und sind auch häufiger suchtkrank als Frauen. 

Insbesondere Alkohol und Zigaretten nagen an der Gesundheits- und Lebenserwartung. Eine Studie der Universität Glasgow und des University College London belegte, dass zehn bis 30 Prozent der Gender Gap dem Alkoholgenuss zugeschrieben werden können. Auf das Rauchen sind sogar 40 bis 60 Prozent zurückzuführen. Marc Luy kam zu ähnlichen Ergebnissen: „Bis zur Hälfte des Beitrags der nicht-biologischen Faktoren zur Gender Gap kann durch den Zigarettenkonsum der Männer erklärt werden. Die verbleibenden zwei Jahre Lebenserwartungsdifferenz setzen sich aus vielen anderen nicht-biologischen Faktoren zusammen, deren Einzelbeiträge noch nicht so genau quantifiziert werden konnten.“

Ausgleich zum Gen-Lotto

Doch auch wenn hier noch Forschungsbedarf besteht, ist eines unbestritten: Lebenserwartung und Gesundheit sind durch eigenes Handeln stark beeinflussbar, sogar eine ungünstige genetische Prädisposition kann so kompensiert werden. Eine im Mai veröffentlichte Langzeitstudie zeigte, dass ein angepasster Lebensstil die Auswirkungen von Genen um 62 Prozent auszugleichen vermochte. 

Zu den wissenschaftlich anerkannten Big 8 eines gesunden Lebensstils zählen – neben Nikotinverzicht und wenig Alkohol – eine maßvolle, ausgewogene Ernährung, die Übergewicht vermeidet, regelmäßige Bewegung, ein guter Umgang mit Stress, erholsamer Schlaf, die Pflege positiver Sozialkontakte und das Nicht-Abhängig-Sein von Opioiden, zu denen Schmerzmittel wie Morphin gehören. 

Welchen Einfluss diese gesunden Verhaltensweisen haben, analysierten Xuan-Mai T. Nguyen und Yanping Li 2023. Die Wissenschaftlerinnen nutzen dafür die Daten von Ex-Angehörigen der US-Streitkräfte. Auf Basis der Lebensstil-Auskünfte von über 270.000 Männer und Frauen konnten sie erstmals berechnen, wie sich die Big 8 auswirken. Der Effekt ist gewaltig: Im Vergleich zu einem Mann, der sich an keine der Regeln hält, kann ein 40-Jähriger, der alle Verhaltensweisen annimmt, seine Lebenserwartung um 24 Jahre steigern. Er würde statistisch gesehen 87 Jahre alt werden. Eine 40-Jährige, die sich an die Tipps hält, darf sich auf 20,5 zusätzliche und insgesamt 87,5 Lebensjahre freuen. Rückendeckung erhalten die theoretischen Berechnungen durch praktische Erkenntnisse aus den Blue Zones (s. Seite 14), wo es besonders viele sehr alte Menschen gibt.

Gesund leben zahlt sich doppelt aus

Durch eine Lebensstiländerung könnten Männer wie Frauen zudem die Zahl ihrer Lebensjahre, die sie ohne gesundheitliche (Aktivitäts-)Einschränkungen verbringen, erhöhen. In Österreich gibt es jede Menge Luft nach oben. Denn während die Gesundheitserwartung bei der Geburt 2016 im EU-Schnitt für Frauen bei 64,2 und für Männer bei 63,5 Jahren lag, waren es hierzulande nur 57,1 beziehungsweise 57,0 Jahre. Im Vergleich zum Spitzenreiter Schweden hinken wir sogar noch deutlicher hinterher: Dort lag die Gesundheitserwartung für Frauen wie Männer gleich um je 16 Jahre höher.

Wenn Empfehlungen aber auch bei Männern auf fruchtbareren Boden fallen sollen, brauchen wir neue Ansätze

Manuela Birrer

Mitbegründerin der „Männersprechstunde“ am Schweizer Kantonsspital Baden

Die Zahlen zeigen, dass Männer und Frauen zwar gleichermaßen von einer gesünderen Lebensweise profitieren. Weil Frauen sie jedoch in der Praxis bereits jetzt schon häufiger für sich wirksam werden lassen, hätte es auch einen Effekt auf die Gender Gap, folgten die Herren ihrem Beispiel. „Mit einer Lifestyle-Anpassung blieben Männer nicht nur länger gesund, sondern würden auch jenen Krankheiten vorbeugen, die bereits in jüngeren Jahren für eine erhöhte Sterblichkeit sorgen. Dazu gehören Herzinfarkte und fast alle Arten von Karzinomen“, erklärt Manuela Birrer, Fachärztin für Innere Medizin und Angiologie am Schweizer Kantonsspital Baden und Mitbegründerin der dortigen „Männersprechstunde“. 

Dass Lebensstiländerungen nicht einfach sind, weiß natürlich auch die Expertin. Birrer empfiehlt den „Weg der kleinen Schritte“. Beginnen könne man etwa damit, im Alltag vermehrt zu Fuß zu gehen und auf Fast Food zu verzichte. „Wenn Empfehlungen aber auch bei Männern auf fruchtbareren Boden fallen sollen, brauchen wir neue Ansätze.“ Hilfreich könne der Einsatz von Technik sein – vom Schrittzähler bis zur Smartwatch. „Wenn Tracker zur Aufzeichnung des Schlafs oder der Pulsfrequenz nicht Mittel übertriebener Selbstoptimierung sind, sind sie durchaus geeignet, um bedenkliche Abweichungen frühzeitig zu entdecken. Über diese Tools kann man zudem Zugang zum Körper finden und Selbstwirksamkeit erleben. Man sieht genau, was man Positives bewegen kann.“ Ebenfalls bewährt haben sich Health-Apps mit Gamification- und Belohnungsansatz oder Angebote, die gesünderes Verhalten mit einem Wettbewerb verbinden. 

Mangelnde Vorsorge

Technik und Co könnten aber den regelmäßigen Gang zum Arzt und die empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen nicht ersetzen, betont Dr. Birrer. Für sie wie für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist es – neben dem Lebensstil – vor allem die mangelnde Früherkennung von Krankheiten, die zur Gender Gap beiträgt. Die Statistik zeigt deutlich: Männer gehen seltener und später zur Ärztin oder zum Psychotherapeuten als Frauen. 2021 erhob eine Studie, dass ambulante Psychotherapien zu zwei Dritteln von Frauen in Anspruch genommen werden. Und auch ÖGK-Zahlen aus demselben Jahr zeigten, dass nur 13 Prozent der Männer über 15 bei einer Vorsorgeuntersuchung waren. 2024 sieht es kaum besser aus. Mit fatalen, oft sogar letalen Folgen. Mehr als drei Viertel der Suizidtoten sind männlich. Männer versterben auch häufiger an Krebs, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Oft vermeidbar. Denn „würden sie sich regelmäßig checken lassen, könnten viele Krankheiten frühzeitiger entdeckt und besser behandelt beziehungsweise geheilt werden“, so Birrer. 

Angsthase oder Vogel Strauß? 

Warum gerade Männer den Gang in die Ordination scheuen? Manuela Birrer hat mehrere Gründe identifiziert. Einer davon: Angst. „90 Prozent fürchten sich vor einer ernsthaften Erkrankung. Doch aus Sorge vor der Diagnose gehen sie lieber gar nicht erst zur Untersuchung.“ Die Ungewissheit steigert die Angst dann noch weiter. Ein Teufelskreis, in dem für Präventionsdenken wenig Platz bleibt. 

Vielen Männern fehlt laut Birrer zudem schlicht die Zeit, sich um das eigene physische und psychische Wohlergehen zu kümmern – insbesondere jenen in der Rushhour des Lebens. Das Problem: „Gerade in diesem Lebensabschnitt paart sich der Stress in Job und Familie mit weiteren gesundheitsbeeinträchtigenden Faktoren. Hier sehen wir besonders häufig ungesunde Ernährung, die Vernachlässigung von körperlicher Aktivität, den Griff zu Suchtmitteln oder aber risikoreiche Hobbys als vermeintlichen Ausgleich.“ 

Leider würden einige dieser Gesundheitsgefahren oft gar nicht als solche wahrgenommen werden, so die Expertin. Im Gegenteil. „Mit wenig Schlaf auszukommen, Extremsport zu treiben oder vermehrter Alkoholgenuss gelten als sozialer, symbolischer Ausdruck von Stärke“, sagt Birrer. „Hingegen herrscht nach wie vor das Diktum, dass es unmännlich ist, sich Hilfe zu suchen. Denn dafür müsste man sich eine – gesundheitliche – Schwäche eingestehen.“ 

Oft scheitere es aber sowieso schon weit vor diesem Eingeständnis „an einer blockierten Innenwahrnehmung, die dafür sorgt, dass viele Männer erste Warnzeichen nicht oder erst verspätet wahrnehmen“, meint Birrer. Und wenn der Körper dann doch einmal den Dienst versagt? „Pflegen immer noch viele eine Art Ersatzteilmentalität.“ Nach dem Motto: Streikt die Hüfte, wird sie ersetzt. Versagt die Pumpe, kommt der Stent. 

Sind Männlichkeitsbilder ungesund?

Frank Luck wundert das alles nicht. Der Professor für Pflegewissenschaft an der KH Freiburg arbeitet seit Jahren zu „Männlichkeitsbildern und Gesundheit“. Ein Ergebnis seiner Forschungen: „Männer stellen auch über den Umgang mit dem Thema Gesundheit Männlichkeit her. Sie wollen sich und dem Umfeld beweisen, dass sie – auch gesundheitliche – Probleme alleine lösen können. Und im Fokus steht, weiter zu funktionieren und Leistung zu erbringen.“

Sind also auch überzogene Männlichkeitsbilder für die Gender Gap mitverantwortlich? Noch vor ein paar Jahren hätte Lucks Antwort darauf wohl „Ja“ gelautet. Inzwischen ist er bei einem „Jein“. Denn Männer sind heute alles andere als eine homogene Gruppe. Sie unterscheiden sich immer deutlicher voneinander – nicht nur bezüglich der sozialen und beruflichen Situation, auch was das Verständnis von Männlichkeit und damit den Zugang zur Gesundheit angeht. 

Zumindest in der Ober- und Mittelschicht fühlen sich viele Männer zunehmend verantwortlich für die eigene Gesundheit. Sie sorgen laut Luck bereits deutlich achtsamer für sich selbst. In bildungsferneren, einkommensschwächeren Schichten, aber auch unter Älteren gebe es jedoch immer noch „ein eher traditionelles, auch als toxisch bezeichnetes Männlichkeitsbild. Mitglieder dieser Gruppe treiben dann zum Beispiel Sport vor allem deshalb, weil sie fitter für den Arbeitsmarkt oder attraktiver für potenzielle Partner:innen sein möchten“, erklärt der Wissenschaftler. „Sie leben nicht in ihrem Körper, sondern benutzen ihn, um etwas zu erreichen.“

Für Luck ist daher klar: Es würde auf das Schließen der Gender Gap einzahlen, würde man schon Buben zu Selbstfürsorge und Achtsamkeit ermutigen und die „Männer sind das starke Geschlecht“-Sozialisation beenden. Es gelte zu vermitteln, dass es keine Schwäche ist, sich einzugestehen, dass etwas nicht stimmt. „,Ich kümmere mich um mich‘ ist eine Kompetenz, die es zu fördern gilt.“

Gendersensibles System

Für entscheidend hält Luck, dass sich nicht nur ungesunde Männlichkeitsbilder wandeln, sondern auch das Gesundheitssystem. „Es setzt derzeit noch vielfach voraus, dass sich Patienten selbst und frühzeitig melden und ihre Probleme schnell und aktiv ansprechen. Doch genau das kann Männer schwerfallen. Sie fühlen sich dann verletzlich.“ Es sei daher wichtig, dass bereits in der Ausbildung des medizinischen Personals mehr gendersensibles Wissen vermittelt werde, um auch Männer abzuholen. Etwa indem Patientengespräche nicht auf Gesundheitsdefizite abstellen, sondern die Vorteile der Für- und Vorsorge klar kommunizieren – wie eine höhere Leistungsfähigkeit im Beruf und im Privaten. 

Bislang würden Symptome und Krankheiten zudem vielfach nicht gesehen oder falsch gedeutet, weil nach wie vor Stereotype in den Köpfen vorherrschen. Ein Beispiel sei etwa, dass sich Depressionen bei Männern (Aggression) und Frauen (Antriebslosigkeit) unterschiedlich darstellen können. „Und während bei Frauen im Krankheitsfall oft psychologisiert wird, wird bei Männern häufig erst mal nach somatischen Ursachen gesucht“, so Luck. 

Auch Manuela Birrer betont, dass die „geschlechtsspezifische Behandlung und Prophylaxe in Zukunft immer bedeutender werden wird, um die Gesundheits- und Lebenserwartung des Mannes im 21. Jahrhundert an die der Frau anzugleichen.“ Braucht es dafür auch eigene Männerärzt:innen – analog zu Gynäkolog:innen, die ja auch Frauen fast ihr ganzes Leben lang begleiten? Frank Luck hält es für zielführender, Männern Räume zu eröffnen, in denen ihnen genügend Zeit – auch außerhalb der klassischen Sprechstunden – eingeräumt wird, um ihre gesundheitlichen Anliegen zu besprechen. „Und das ohne Bewertung ihrer Männlichkeit.“ Wichtig sei auch ein ganzheitlicher Ansatz, der etwa soziale, biografische und gesellschaftliche Aspekte miteinbezieht, also Lebensverhältnisse und -situation im Blick behält. „Denn was nützt regelmäßiges Ausdauertraining, wenn das Herz gebrochen ist?“

Männergesundheitsbewegung

Ansätze in diese Richtung gibt es bereits. Das Wiener Gesundheitszentrum für Männer, Väter und Burschen (MEN) bietet zum Beispiel nicht nur Beratung in Gesundheitsfragen an, sondern auch Unterstützung bei Beziehungs- und Jobproblemen. Auch im Netz finden sich zahlreiche Hilfsangebote – wie etwa das „Männergesundheitsportal“ der deutschen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, das neben klassischen Präventions- und Gesundheitsthemen auch Glücksspielsucht oder Familienplanung behandelt. Und am Schweizer Kantonsspitals Baden, an dem Manuela Birrer tätig ist, setzt die erwähnte Männersprechstunde ebenfalls auf einen interdisziplinären Ansatz. Patienten werden durch verschiedene Fachärzte wie Urolog:innen, Endokrinolog:innen, Angiolog:innen und Psycholog:innen untersucht und ganzheitlich behandelt. Im Fokus stehen nicht, wie so oft gewitzelt wird, Erektionsstörungen – die im Übrigen ein Frühwarnsymptom für das Vorliegen einer generalisierten Arteriosklerose sein können, wie Birrer betont –, sondern die Prävention. „Unser Ziel ist es, Männer dazu zu bringen, Verantwortung für sich, ihre Gesundheit und damit auch für ihre Familie zu übernehmen.“ 

In jedem Fall „hat die Männergesundheitsbewegung Fahrt aufgenommen“, konstatiert der Männergesundheitsforscher Theodor Klotz, der in seinem 1998 erschienen Buch „Der frühe Tod des starken Geschlechts“ noch das Fehlen von Gesundheitsangeboten und Kampagnen zur Förderung der Männergesundheit bemängelt hatte. 

Für den Fall der Notfälle 

Einen wichtigen Schritt setzte die ÖGK Anfang 2024: Dem Prostatakarzinom, der häufigsten Krebserkrankung bei Männern, wurde der Kampf angesagt. Prostata-MRT und Coronar-CT sind als diagnostische Maßnahmen zur Früherkennung nun fester Bestandteil des Leistungskatalogs. Die persönliche Einladung zur Vorsorgeuntersuchung, die nicht nur von Urolog:innen gefordert, sondern auch von Männern aller Altersgruppen in Umfragen am häufigsten als wichtige Maßnahme zur Erhaltung der Gesundheit genannt wird, gibt es jedoch nach wie vor nicht. Frauen hingegen werden regelmäßig an ihre Mammografie erinnert. Hier besteht sicher Nachschärfbedarf. 

Am Ende aber lässt sich die Verantwortung für die eigene Gesundheit(svorsorge) nicht an andere delegieren. Und weil Krankheit eine Lebensfrage ist, vor die jeder Mann irgendwann gestellt wird, empfiehlt Frank Luck, „sich schon beizeiten ein Netz aus Mediziner:innen, Beratungsstellen und Vertrauenspersonen aufzubauen, auf das man im Fall der Notfälle zurückgreifen kann – auch innerhalb des Familien- und Freundeskreises.“

Familien und Freunden rät Luck für Gesundheits(krisen)gespräche mit Männern Folgendes: „Fallen Sie nicht mit der Tür ins Haus. Das gilt für ungesunde Verhaltensweisen im Alltag, aber insbesondere dann, wenn es im Leben des Mannes zu bedeutenden Einschnitten oder kritischen Ereignissen gekommen ist, wie etwa der Geburt eines Kindes oder dem Verlust einer nahestehenden Person.“ Wichtig sei, zuzuhören, nicht zu bewerten und sich Zeit zu nehmen. „Wenn ein Mann sagt, es gehe ihm gut und er hätte keine Probleme, ist das nicht unbedingt das Ende der Kommunikation. Es kann der Anfang sein.“  

Die Gender Gap wird kleiner 

Apropos Anfang: Er scheint gemacht. Die Gender Gap schließt sich in der westlichen Welt jedenfalls seit Anfang der 1980er-Jahre, weil „die Lebenserwartung der Männer etwas stärker ansteigt als die der Frauen“, so Marc Luy. Wenig überraschend, sie hatten und haben ja auch mehr Luft nach oben, etwa was Lebensstiländerungen betrifft. Jedoch geht derzeit immer noch ein Gutteil der Differenzreduktion nicht auf eine neue Achtsamkeit der Männer zurück. Vielmehr nähert sich die Lebensweise der Frauen jener der Männer ungesund an – etwa beim Faktor Stress durch eine höhere Erwerbsquote oder in Bezug auf Zigaretten- und Alkoholkonsum. 

„Da sich Frauen und Männer in den nicht-biologischen Faktoren zunehmend angleichen, wird sich auch die Gender Gap in der Zukunft mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit weiter verringern“, sagt Bevölkerungswissenschaftler Luy. 2070 wird sie laut Schätzungen für neugeborene Buben und Mädchen nur noch etwas mehr als drei Jahre betragen. 

Reiches Leben

Jeanne Calment, die übrigens bis kurz vor ihrem Tod rauchte und gerne Portwein trank, führte ihr Rekordalter auf den Genuss von viel Aioli zurück. „Vor allem aber hatte ich ein reiches Leben“, sagte sie einmal. Und damit meinte sie nicht, dass sie einen vermögenden Ladenbesitzer geheiratet hatte oder sich lange über Raffrays Rentenzahlungen freuen konnte – auch wenn die gute Finanzsituation ihrer Lebenserwartung sicher zuträglich war (siehe Kasten). „Ich habe einfach viel davon gemacht, was mir Freude bereitete. Und wer Freude am Leben hat, stirbt einfach nicht gern früh.“

 

Text: Daniela Schuster

Neue Herausforderung

Während sich die Gender Gap schließt, reißt die Lücke bei der Lebens- und Gesundheitserwartung an anderen Stellen auf. Zeit, Forschung und Gegenmaßnahmen auch darauf zu fokussieren.

 

Armutsrisiko: 17 Prozent der Österreicher:innen sind arm oder armutsgefährdet. Und Armut ist eines der größten Gesundheitsrisiken. 43   Prozent der Personen mit niedrigem Einkommen haben ein chronisches Leiden, bei jenen mit hohem Einkommen sind es 33 Prozent. Wer lange in Armut lebt, stirbt zudem zehn Jahre früher, zeigt Statistik Austria auf. Österreichs Gesundheits- und Sozialsystem schafft noch keine „Gleichheit“ in Sachen Gesundheit. Es bestehen Unterschiede in der medizinischen Versorgung. Zusätzlich belastet etwa finanzieller Druck die Psyche und bringt oft auch einen ungesunden Lebenswandel oder eine schlechte Wohnsituation in unbeheizten, schimmeligen Räumen mit sich. Zusätzliche Anstrengungen des Systems sind zwar wichtig, damit auch die sozial am meisten Benachteiligten mehr Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen und gesünder leben (können). Noch dringlicher wäre es aber, die Einkommensungleichheit zu verringern. „Das betrifft vor allem die unter 40-Jährigen mit Prekarisierung und Nichtanstellungen“, so Martin Schenk, Mitbegründer der Armutskonferenz.

 

Bildungsdefizit: Studien zeigen: Ein niedrigeres Bildungsniveau geht mit einer erhöhten Krankheits- und Sterbewahrscheinlichkeit einher. Die Ursachen? Vielfältig. Unter anderem  ist Bildung ein Schlüssel zu einem guten Einkommen (s.  o.). Zudem nehmen Personen mit niedriger Bildung seltener Vorsorgeangebote wahr oder kennen deutlich weniger der typischen Symptome für Schlaganfall und Herzinfarkt. „In Bildungskontexten sollten daher auch Lernprozesse über Gesundheit und präventives Verhalten gefördert werden“, so Bettina Hannover von der Freien Universität Berlin. 

 

Gender Health Gap: Laut einem Bericht des Weltwirtschaftsforums verbringen Frauen um 25 Prozent mehr Lebensjahre in schlechter Gesundheit als Männer. Ein Grund: die Gender Health Gap bei der medizinischen Forschung und Versorgung. Gendermedizinerin Alexandra Kautzky-Willer von der MedUni Wien warnt, dass sich diese Kluft mit dem zunehmenden Einsatz von KI in der Medizin weiter verschärfen könnte.