Wie wir 100 Jahre alt werden
Was haben alle prähistorischen Grabfunde gemeinsam? Keiner der gefundenen Knochen gehörte einem über 50-jährigen Menschen. Mehr noch: In 99,9 Prozent unserer Zeit auf diesem Planeten betrug die menschliche Lebenserwartung kaum 30 Jahre. Diese Ära ist glücklicherweise vorbei. „Die Lebenserwartung hat sich in den letzten 160 Jahren um jährlich drei Monate erhöht“, rechnet Frank Schirrmacher in seinem Standardwerk „Das Methusalem-Komplott“ vor.
Demnach hat jedes zweite kleine Mädchen, das wir heute auf der Straße sehen, die reelle Chance, 100 zu werden, jeder zweite Bub könnte seinen 95er feiern. Ein Segen für den Einzelnen. Aber eine Herausforderung für die Gesellschaft. „Weil wir unvorbereitet sind, werden wir in unmittelbarer Zukunft nicht nur eine politische und ökonomische, sondern auch eine geistige Krise erleben“, so Schirrmacher.
Pensionsboom der Babyboomer
Am anfälligsten für altersbedingte Belastungsbrüche ist unser Sozialsystem. „Die alternde Bevölkerung ist das größte Langzeitrisiko für die öffentlichen Finanzen“, sagt das Finanzministerium. Es stützt sich dabei auf eine WIFO-Studie, laut der die demografieabhängigen öffentlichen Ausgaben bis 2060 auf 34,9 Prozent des BIPs steigen werden. Die größten Kostenfaktoren: die steigenden Pensionskosten der geburtenstarken Babyboomer-Generation.
Und die wachsenden Pflegekosten, die sich bis 2060 verdoppeln könnten. Denn in Österreich wächst nicht nur die Zahl der Senior:innen zügig, sondern auch jene der Hochbetagten. Jedes Jahr feiern mehr als 1.000 Österreicher:innen ihren 100. Geburtstag, mehr als 16.000 sind derzeit über 95 Jahre alt. Können wir uns die größte zivilisatorische Errungenschaft der Geschichte – ein langes Leben für alle – womöglich gar nicht leisten?
„Wir sollten der Zukunft mit ein bisschen weniger Angst und ein bisschen mehr Mut begegnen“, findet Ingrid Korosec. Mit 83 ist die ehemalige ÖVP-Generalsekretärin ein Paradebeispiel für die Best-Ager von heute: „Ein 60-Jähriger ist heutzutage so leistungsfähig wie früher ein 40-Jähriger, hat aber 20 Jahre mehr Erfahrung und Fachkenntnis“, sagt sie. „Darum müssen wir darauf schauen, dass mehr Menschen bis zum Pensionsalter Jobangebote und Weiterbildungen bekommen. Denn aktuell gehen nur 56 Prozent der 55- bis 65-Jährigen direkt von der Erwerbstätigkeit in Pension.“
So lange wie möglich aktiv und selbstständig zu bleiben, schlägt für sie zwei Fliegen mit einer Klappe: weil Sinn und Beschäftigung die gesunden Jahre verlängern und damit das individuelle Lebensglück fördern; und weil sie das Budget entlasten. „Wir sollten den Begriff Work-Life-Balance neu denken und unsere Arbeitslast flexibler über das Leben verteilen“, schlägt die Autorin des Buchs „Gesunde Zukunft“ vor.
Wie wichtig ältere Menschen für den Arbeitsmarkt sind, betont auch Peter Kostelka, 78, der sich mit Korosec das Präsidium des Österreichischen Seniorenrats teilt. „Ältere Menschen sind in der Regel viel teamfähiger als testosteron- und adrenalingesteuerte Junge, dazu erfahrungsorientiert, selbstorganisiert und verantwortungsbewusst.“
Um ältere Arbeitnehmer:innen länger im Job zu halten, plädiert Kostelka für Anreize: „Wir brauchen Stressabbau, Zeitautonomie und altersadäquate Tätigkeiten – wobei die Zahl der schweren körperlichen Arbeiten ohnehin durch die Automatisierung abnimmt –, aber auch mehr Vorsorge-, Gesundheits- und Sportangebote.“
Das Leben neu denken
Holger Bonin, wissenschaftlicher Direktor am Institut für Höhere Studien (IHS), ist da noch radikaler. „Wenn sich unsere Lebensspanne um 20 Jahre verlängert, ist es nicht vorstellbar, dass wir weiterhin mit 65 in Pension gehen“, sagt Bonin, „Wenn sich die Lebenserwartung verlängert, muss sich auch die Lebensarbeitszeit verlängern.“ Sein Vorschlag: „Eine fixe Pensionsregelbindung, die man nicht jedes Jahr auf den Prüfstand stellen kann.“ Wenn wir alle 100 werden, brauchen wir nämlich nicht nur dickere Pensionskonten, so Bonin. Wir müssen uns auch auf niedrigere Zinssätze einstellen, „weil eine Langlebigkeitsgesellschaft für ihre Langlebigkeit vorsorgen muss, also mehr spart und weniger konsumiert.“
Wenn Sie wissen, dass Sie morgen sterben, fangen Sie nicht noch schnell ein Studium an.
Bonin, einst Forschungsdirektor am Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit, blickt trotzdem optimistisch in unsere faltige Zukunft. Dass wir „auf einem riesigen Altersheim um die Sonne kreisen“ – so ein Zitat aus Schirrmachers „Methusalem-Komplott“ – werde nämlich unsere gesamte Lebensplanung beeinflussen und unsere Welt zum Besseren verändern. „Warum haben wir in der Geschichte eine Bildungsexpansion gehabt? Warum ist irgendwann mal wo das Wachstum explodiert?
Weil die Menschen eine ausgedehntere Lebensperspektive bekommen haben. Wenn ich nach der Schulzeit 20 Arbeitsjahre vor mir habe, lege ich meine Ausbildung und meine Lebensplanung anders an als wenn meine Lebenserwartung 100, 120 oder – ein überzogenes Beispiel – 800 Jahre beträgt.“ Denn alle unsere langfristigen Lebensentscheidungen orientieren sich am erwartbaren Ertrag: „Wenn Sie wissen, dass Sie morgen sterben, fangen Sie nicht noch schnell ein Studium an. Aber wenn Sie hoffen dürfen, dass Sie noch sehr lange etwas davon haben, sehr wohl.“
Anders gesagt: Wenn alle länger leben, werden mehr von uns eine höhere Bildung und eine sinnstiftende Tätigkeit anstreben. Wir werden gesunde Beziehungen und kreative Selbstverwirklichung wichtiger nehmen. Und wir werden uns selbst mit mehr Mut aus beruflichen oder privaten Sackgassen manövrieren. Und zwar einfach nur deshalb, weil uns eine dreistellige Lebenserwartung vor Augen führt, wie toxisch das Konzept „Kopf einziehen und Zähne zusammenbeißen“ für unser Lebensglück ist. Oder?
„Prinzipiell ja“, sagt Bonin. „Es gilt aber vor allem dann, wenn Sie zu den Besserausgebildeten und Besserverdienenden zählen. Denn die Ungleichheiten werden zunehmen – und sich auch in der Lebenserwartung auswirken.“
Silver Ager als Goldesel
Die nicht unerhebliche Gruppe von Senior:innen, die nicht jeden Cent umdrehen müssen, könnte in der Welt von morgen demnach eine Rolle als Wirtschaftsmotor spielen, der ihre gesellschaftlichen Kosten weit übertrifft: Laut einer Studie der Consultingagentur McKinsey wird die globale Wirtschaftsleistung durch den Zuwachs aktiver und konsumfreudiger Senior:innen bis 2040 um zehn Billionen Euro beziehungsweise acht Prozent zulegen.
Einige Branchen könnten davon überdurchschnittlich stark profitieren: etwa Gesundheitsdienstleister, Pharma- und Biotechnologieunternehmen, aber auch der Robotikmarkt und die Automatisierungsbranche. Der Smarthome-Gesundheitsmarkt könnte ebenfalls einen Boom erleben: Die Consultingagentur P & S Intelligence rechnet in den kommenden Jahren mit einer Umsatzexplosion von neun auf 100 Milliarden US-Dollar.
Die Wechseljahre der demografischen Entwicklung werden aber nicht nur für wirtschaftliche Wallungen sorgen. „Die 12-Jährigen von heute werden in einer Gesellschaft leben, in der die Hälfte des Landes älter als 48 Jahre sein wird, nach anderen Berechnungen sogar älter als 52“, schreibt Frank Schirrmacher. „[Die neue Gesellschaft] wird noch über die gleichen Autobahnen und Eisenbahnschienen verfügen, aber ihre seelische Infrastruktur – die Beziehungen zwischen den Generationen – wird völlig verwandelt sein.“
Der gesellschaftliche und technologische Wandel könnte dann tatsächlich jene Parallelgesellschaften produzieren, vor denen wir uns schon so lange fürchten – nur, dass die Kluft (auch) zwischen den Generationen verläuft. Die in eigenen Bubbles lebenden Bevölkerungsgruppen wären dann 15-, 30-, 45- oder 70-Jährige.
Für den daraus resultierenden Kultur- und Verteilungskampf bringt man sich in Österreich bereits in Stellung: Der Seniorenbund fordert von der neuen Bundesregierung ein eigenes Senioren-Ministerium. „Heute hat fast jede politische Entscheidung, die getroffen wird, Auswirkungen auf den älteren Teil der Bevölkerung“, sagt Peter Kostelka. „Aber wenn wir mit unseren Anliegen zum Sozialminister gehen, schickt er uns zum Finanzminister. Und der sagt uns, wir sollten lieber mit dem Arbeitsminister reden. Es sollte aber jemanden in der Bundesregierung geben, der uns als Ansprechpartner annimmt und sich um unsere Anliegen kümmert.“
Mein Enkel, der Alien
Werden wir einander fremder, wenn wir alle 100 werden? Schon jetzt verlaufen viele unserer gesellschaftlichen Minenfelder – von Me-Too bis Klimaprotest, von Gendersprache bis zur innerstädtischen Verkehrsberuhigung – entlang von Generationengrenzen. Schon jetzt können Eltern ihren Kindern in deren digitalen Lebenswelten keinen Beistand leisten, weil sie die neuen Spielregeln, Chancen und Gefahren schlicht nicht verstehen oder erst gar nicht erkennen. Und schon jetzt teilen Swifties oder Minecraft-Spieler aus Paris, Perth und St. Pölten mehr gemeinsame Lebensrealität als Opa und Enkel in der selben Stadt.
Szeanio 1:
Bis 2026 steigt das Defizit des staatlichen Pensionssystems auf 33 Milliarden an, warnt die Agenda Austria. Vor allem die steigenden Pflegekosten könnten zu einem Systemkollaps führen.
Szenario 2:
Die steigende Zahl kaufkräftiger und aktiver Senior:innen führt zu einem Wirtschaftsaufschwung, der die Kosten bei weitem übertrifft. Laut McKinsey könnte die globale Wirtschaftsleistung um zehn Billionen Euro zulegen.
Damit Alt und Jung einander auch künftig bereichern, wird es gegenseitige Integrationsmaßnahmen brauchen – also Orte, Anlässe und Institutionen, die eine Begegnung der Generationen ermöglichen, die Meinungs- und Erfahrungsaustausch fördern und die das Verbindende über das Trennende stellen. Wie das gehen könnte, lebt Japan vor, das Industrieland mit dem höchsten Altersmedian (derzeit 49 Jahre): Hier gibt es geförderte Wohnprojekte wie das „Share Kanazawa“, in denen Jugendliche und Senior:innen zusammenleben. Community-Cafés für den Austausch zwischen den Generationen. Und sogar eigene Miet-Enkel: Über Organisationen wie „Otosan Rent“ können Senior:innen Zeit mit jungen Menschen verbringen, die zum Plaudern oder für kleine Hilfstätigkeiten vorbeikommen.
Wenn das kein öffentlichkeitswirksames Kick-off-Projekt für das neue Senioren-Ministerium wäre …?
Text: Alexander Lisetz