Wandel braucht Visionen
Vom demografischen Wandel über die Finanz- und Klimakrise bis hin zur demokratiebedrohenden Polarisierung der Bevölkerung: Die Liste gesellschaftlicher Herausforderungen, vor denen wir stehen, ist lang und wird immer länger. Bei ihrer Lösung stoßen wirtschaftlich-technologische Innovationen an Grenzen. KI und Co können nur bedingt zur Gestaltung einer gerechteren, nachhaltigeren und lebenswerteren Welt beitragen. Vielfach sind sie – schon aufgrund ihrer primären Gewinn- statt Werteorientierung – sogar Teil oder Verstärker der Probleme. Für unsere Zukunftsvorsorge müssen also andere Ansätze her. Ansätze, die Antworten darauf geben, wie wir künftig (zusammen)leben, (re)produzieren, konsumieren oder arbeiten. Und die auch gleich die nötigen neuen Organisationsformen und Regulierungen entwickeln, soziale Akzeptanz und Kooperation schaffen oder Verhaltens- und Lebensstiländerungen anstoßen, um den gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben. Die Akteur:innen: NPOs und NGOs, öffentliche Einrichtungen, private und Sozial-Unternehmen, Forschungs- und Bildungsinstitute, Stiftungen und Netzwerke, aber auch Einzelpersonen – von Social Entrepreneurs bis hin zu engagierten Bürger:innen. „Im Idealfall werden ihre Antworten zu sozialen Innovationen.
Nämlich dann, wenn sie Bedürfnisse und Probleme nicht nur besser als frühere Praktiken lösen, sondern sie auch nachgeahmt und institutionalisiert werden. Im Kleinen wie Großen“, so Klaus Schuch, wissenschaftlicher Leiter des Wiener Zentrums für Soziale Innovation (ZSI).
In der Vergangenheit haben soziale Innovationen bereits vielfach ihre transformative, empowernde Kraft bewiesen. Als historische Meilensteine gelten etwa die Einführung des Wahlrechts, der Schulpflicht oder der Sozialversicherung. Aktuellere Beispiele sind die zunehmende Verbreitung einer vegetarischen oder veganen Ernährungsweise im Dienst von Tierwohl und Klimaschutz oder die neuen Vernetzungs- und Organisationsmöglichkeiten, die Soziale Medien ermöglichen. Mit der Bildungskarenz wird lebenslanges Lernen gefördert. Straßenzeitungen schaffen niederschwellige Arbeitsplätze und Artikulationsmöglichkeiten für Obdachlose. Mehrgenerationen-Häuser oder „Social Prescribing“ von Tanzkursen gehen die zunehmende Vereinsamung an. Und Car-Sharing bringt die Mobilitätswende weiter …
„Schön wäre eine soziale Innovation, die die vertikale Struktur ,Schule – Arbeit – Pension‘ aufbricht und den Menschen ermöglicht, ihren Lebensweg individueller zu gestalten.“
Wandel-Wunsch von Klaus Schuch, wissenschaftlicher Leiter des ZSI
Große Erwartungen
Allen Initiativen, Dienstleistungen, Produkten, Praktiken und Prozessen ist eines gemein: „Sie nehmen Druck aus dem sozialen Kessel“, sagt Klaus Schuch. Barbara Glinsner, Leiterin des ZSI-Bereichs „Arbeit & Chancengleichheit“, sieht genau das aber auch kritisch: „Auf der Metaebene sind soziale Innovationen selten disruptiv. Viele wirken systemerhaltend – sie tragen dazu bei, Herausforderungen abzufedern, können das zugrunde liegende strukturelle Problem aber nicht lösen.“
Nichtsdestotrotz sind soziale Innovationen mit der enormen Erwartung konfrontiert, dass sie maßgeblich darüber entscheiden, in was für einer (freien) Gesellschaft die nächste Generation leben wird. Wo die Hauptinnovationsfelder der Zukunft liegen, zeichnet sich bereits ab. Ganz oben auf der Liste: das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele (SDGs) in den Bereichen Soziales, Wirtschaft und Umwelt. Der Bogen reicht vom „Leben im Metaverse“ und digitaler Inklusion über Integration und Migration, Wassermanagement, Bodengüte und Versorgungssicherheit im Bereich Energie und Landwirtschaft bis hin zu Long Term Care und Bubble-Building. „Ein großes Thema haben wir auch mit NEETS (,Not in Education, Employment or Training‘). Immer mehr junge Menschen klinken sich aus, brechen Schule oder Ausbildung ab, arbeiten nicht, sind ökonomisch inaktiv“, erklärt Glinsner. Die Pandemie hat zudem die Zunahme mentaler Gesundheitsprobleme noch einmal beschleunigt.
„Was ein gutes Leben ist, ist kulturell geprägt. Wir bräuchten soziale Innovationen für eine neue Definition von Wohlstand, die auch auf Freiheit und Solidarität fußt.“
Wandel-Wunsch von Barbara Glinsner, ZSI-Bereich „Arbeit & Chancengleichheit“
Pole-Position? Verspielt!
Ist Österreich für diese Challenges gerüstet? Sollte man meinen, können wir doch vor allem in der Arbeits- und Sozialpolitik auf eine lange Tradition sozialer Innovation zurückblicken. „Doch leider ist es uns trotz einiger Pionierleistungen und vorhandener Kapazitäten im Forschungsbereich nicht gelungen, unsere gute Ausgangsposition nachhaltig abzusichern“, so Schuch. Andere Länder sind vorbeigezogen – etwa Deutschland, wo das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) technologische und soziale Innovationen gleichermaßen fördert. „Österreichs FTI-Politik fehlt es hingegen an einem breiten Innovationsverständnis. Es mangelt an politischem Engagement, klarer Zuständigkeit und einem gesamtheitlichen Zugang zu sozialer Innovation – kurz: an einer Vision, die alle relevanten Politikbereiche einbezieht.“
Seine Forderung: Eine transformationsorientierte FTI-Politik sollte auch die Wichtigkeit sozialer Innovation stärker in den Blick nehmen. Ein Ziel, für das das ZSI bereits seit seiner Gründung im Jahr 1990 eintritt. „Es bedarf konkreter Maßnahmen, wie systematische Transformation und soziale Innovation, damit insbesondere Kreativität und Initiative der Gesellschaft mobilisiert werden können.“ Denn gesellschaftlicher Wandel braucht Visionen. Von uns allen.
Text: Daniela Schuster