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Modegeschichte(n): Von der Fußnote zum Bestseller

Spätestens seit Birkenstock Teil des Pariser Luxusgüter-Konzerns LVMH ist, werden die einstigen Ökotreter als schicke Lifestyle-Schuhe gehandelt.

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Die Modeindustrie ist schnelllebig und volatil. Was heute en vogue ist, ist morgen schon wieder passé. Erfolg ist eine Frage der Flexibilität, Charakter eher von Nachteil. Es sei denn, man will die Moden überdauern – wie Birkenstock, ein 250 Jahre altes Unternehmen, das 1902 den ersten anatomisch geformten plastischen Leisten entwickelte.
Die Orthopädie sollte erst Mitte des 20. Jahrhunderts aufkommen, die Mediziner setzten auf Metalleinlagen, um kranke Füße zu behandeln. Konrad Birkenstock, Spross einer Schuhmacherdynastie, war von ersten wissenschaftlichen Theorien in der Schuhherstellung inspiriert. Als Nicht-Mediziner wurde er von der Ärzteschaft belächelt. Aber er verfolgte seine Idee unbeirrt weiter. Er entwickelte ein flexibles Fußbett, das aus Schichten von Jute, Kork und Latex aufgebaut war. Eine Konstruktion, die bis heute nahezu unverändert ist – nur die Materialien wurden etwas angepasst. So werden inzwischen fast ausschließlich wasserlösliche und lösungsmittelfreie Klebstoffe verwendet.

Der Schuh der Widerständigen

1963 ging die original Birkenstock-Fußbett-Sandale in Serienproduktion. In einer Branche, die sich über Eleganz definiert, war das relativ klobige Modell ein Außenseiter. Doch die erste Welle der Akzeptanz ließ nicht lange auf sich warten: 1966 brachte die Designerin Margot Fraser die Sandalen nach Kalifornien, wo sie „Birks“ genannt und zum Synonym der Hippiebewegung wurden. In den 1980er-Jahren entdeckten die Feministinnen das eigenwillige Schuhwerk. Und auch der Studienabbrecher Steve Jobs dürfte den ersten Macintosh in Birks entwickelt haben. Seine Arizona-Sandale blieb der Nachwelt erhalten und wurde im August 2023 um 220.000 US-Dollar versteigert. 
In den 1990er-Jahren folgten erste Kooperationen mit der Modeindustrie – darunter auch große Marken wie Dior und Valentino. Der Kipppunkt war aber erst im Frühjahr 2013 erreicht, als das Pariser Modehaus Celine eine glamouröse Interpretation der Gesundheitssandale präsentierte: Das Fußbett war mit Nerz ausgelegt und die Riemen mit Glitzersteinen besetzt. Andere Modehäuser machten es nach. Ein Fashion Item und Must-have war geboren, der Siegeszug zum Trend-Schuh nicht mehr aufzuhalten. Zumal er gleichzeitig auch zur globalen Sandale für Menschen mit Haltung wurde, zum Schuh der wachsenden Gruppe der LOHAS, die ihren Lifestyle of Health and Sustainability im Fußbett aus nachwachsendem Kork verfolgen.

Eigentümerwechsel

Damals hätte Birkenstock die Aufnahme in den Mode-Olymp finanziell nicht mehr notwendig gehabt. Kurz zuvor war der ehemalige Sportjournalist Oliver Reichert als Unternehmensberater eingestiegen. Er erinnerte sich in einem Interview mit dem „Handelsblatt“ an eine chaotische Struktur, eine zerstrittene Führung und ein Produkt, das sich trotzdem gut verkaufte. Reichert regte 2013 die erste Führungsetage an, deren Mitglieder nicht aus der Familiendynastie kamen. Die bisherigen Eigentümer – Alexander und Christian Birkenstock – zogen sich zurück und gaben in den Jahren darauf sukzessive Firmenanteile ab.
2021 wurde die Beteiligungsgesellschaft L Catterton – ein Private-Equity-Unternehmen, an dem auch der französische Luxuskonzern LVMH beteiligt ist – Mehrheitsgesellschafter. Mit dem neuen Investor will Birkenstock in Amerika und Asien expandieren – zwei Märkte, die schnelles Wachstum versprechen. Aber da der Tend zum Homeoffice die Nachfrage noch angetrieben hat, kann man im Moment kaum der Nachfrage am europäischen Markt nachkommen. Die aktuelle Produktionskapazität liegt bei 30 Millionen Paaren pro Jahr. Um auf 40 Millionen zu steigern, wurde unlängst eine neue Fertigung in Mecklenburg-Vorpommern eröffnet. Nach eigenen Angaben produziert Birkenstock noch heute zu 95 Prozent in Deutschland.

Wie im Film.

Einen Umsatzschub brachte zuletzt auch der Blockbuster „Barbie“, in dem mehrmals das Birkenstock-Modell Arizona in Rosa vorkommt. Product Placement macht es möglich.

Ugly for a reason

Bei der Übernahme wurde das Unternehmen mit 4,9 Milliarden Euro bewertet. Der Finanzinvestor hält seitdem rund 65 Prozent der Anteile. Etwa 20 Prozent liegen bei Bernard Arnault, dem Gründer des Luxuskonzerns LVMH, und seiner Holding Financière Agache. Die restlichen Anteile befinden sich laut „Handelsblatt“ weiterhin in den Händen der Gründerfamilie. 
Insider fragen sich, ob Birkenstock seine unangepasste Haltung unter dem Dach des Luxuskonzerns LVMH beibehalten kann. Studien belegen, dass Konsumentinnen und Konsumenten bei Übernahmen ablehnend reagieren könnten, weil sie denken, dass die Coolness der Marke verloren geht. Um Zweifel gleich von vornherein auszuschalten, launchte das Unternehmen 2022 eine dreiteilige Videoserie mit dem ironischen Titel „Ugly for a reason“. Darin geht es um die Entstehung des Fußbetts – und eine Sandale, die sich gängigen Vorstellungen von Schönheit entzieht.

Holpriges Börsendebüt

2022 – nur zwei Jahre nach Übernahme – kündigte Birkenstock den Börsengang an, um eine breitere Gruppe von Investorinnen und Investoren anzusprechen. Bei der „FAZ“ vermutete man „einen Fall für das Private-Equity-Lehrbuch: als Schnell-Deal, mit dem ein Finanzinvestor binnen weniger Jahre den Unternehmenswert beinahe verdoppelt und aussteigt“. Wie sich zeigte, war das Börsendebüt in New York Mitte Oktober 2023 holprig: Die Anlegerinnen und Anleger ließen die gehypte Aktie am ersten Handelstag fast 13 Prozent unter den Ausgabepreis fallen. Zwischenzeitlich stieg der Kurs aber wieder deutlich darüber. 
Investor:innen dürfen sich wohl einiges von ihren Birkenstock-Aktie versprechen. So steigerte das Unternehmen seinen weltweiten Umsatz 2023 um knapp 25 Prozent auf über 1,5 Milliarden Euro. Tendenz weiter steigend. Umsatztreiber sind Celebrities wie Kendall Jenner oder Oscar-Gewinnerin Frances McDormand, die die Gesundheitssandale bei Medienauftritten und sogar auf dem roten Teppich tragen.

Plötzlich begehrt

Die Aneignung von Bekleidungsteilen aus Nischen ist ein Phänomen der Jugendkultur. Oft sind es Produkte aus der Arbeits- und Sportbekleidung, die plötzlich von neuen Zielgruppen begehrt werden. Man denke an die Levi’s 501, die untrennbar mit Hollywood und der aufkommenden Jugendkultur nach dem 2. Weltkrieg verbunden ist. Ähnlich Carhartt, ein amerikanischer Hersteller von Arbeitskleidung, dessen robuste Baggy Pants, Kapuzenpullover und Jacken Anfang der 1980er-Jahre von der Hip-Hop-, Graffiti- und Skateboard-Szene entdeckt wurden und von dort in die Maintream-Kleiderkästen wanderten. 
Die Hip-Hop-Kultur dieser Zeit war es auch, die Sneakers und Trainingsanzüge von Adidas aus dem deutschen Herzogenaurach bei Nürnberg zum globalen Trend machten. Die US-Band Run-D.M.C. widmete der Marke 1986 sogar einen eigenen Song mit dem Titel „My Adidas“. Das soll zum ersten Werbevertrag zwischen einem Sportartikelunternehmen und einer Musikband geführt haben. Übrigens wurde auch Birkenstock schon in einem Song erwähnt – und zwar 1994 von der Punkband NOFX. 
Ein weiteres Beispiel für eine Marke, das aus der Nische zum Trendsetter wurde, ist Crocs, ein amerikanischer Hersteller von Bootsschuhen mit eigenwilligem Design. Der pantoffelartige Schuh aus Croslite™, ein patentiertes geschlossenzelliges Kunstharzgemisch, ist leicht, hygienisch und quietschbunt. 2022 verlor Crocs an der Börse zwar 12,6 Prozent an Wert. 2021 jedoch stand ein Gewinn in Höhe von 132,4 Prozent auf der Anzeigetafel. Das Jahr 2009 war bislang das erfolgreichste der Crocs-Aktie – mit einem Kursgewinn von 380,2 Prozent. 
Die Gesundheitssandale aus der deutschen 6.000-Einwohner-Gemeinde Linz am Rhein könnte also noch einiges vor sich haben. Die Zeiten, da sich Modejournalisten ihre Stilettos oder Chelsea Boots an ihnen abputzten, sind in jedem Fall lange vorbei. Und auch jene, in denen man die Sandale im Dorfschuhgeschäft für weit unter 50 Euro kaufen konnte. Das Einstiegspreis für die Klassiker „Madrid“ oder „Boston“ kletterte auf durchschnittlich 80 Euro, die aktuelle Sonderkollektion „Dior by Birkenstock“ kommt auf über 950 Euro.

Text: Hildegard Suntinger