Finanzkollektive

Mein Geld? Dein Geld? Unser Geld!

Das hart erarbeitete Einkommen außerhalb von Partnerschaft oder Familie teilen? Für viele unvorstellbar. Doch genau dieses Modell leben Finanzkollektive wie GemÖks.

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Christoph Raible ist gerade in Lima, als er profil Extra ein Interview gibt. Etwas blass sieht er noch aus. Montezumas Rache. Doch bis zu seinem Aufbruch ins Amazonasgebiet sind es ja noch ein paar Tage. Den Rest seiner sechsmonatigen Reise wird er hoffentlich genießen können. Sie ist Teil einer lang geplanten Auszeit. Nach seinem Studium an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz wollte er die Welt sehen.


So weit, so normal für viele junge Menschen, bevor sie ins Berufsleben starten. Warum also der Videoanruf gerade bei ihm? Weil ihn eines doch deutlich von den meisten Travellern unterscheidet: Er trägt die Kosten für seine Auslandserfahrung nicht allein. Und auch nach seiner Heimkehr wird er nicht gänzlich auf die Unterstützung von Eltern oder Vater Staat angewiesen sein, sollte es mit dem Jobeinstieg nicht gleich klappen. Denn Raible ist seit 2021 Teil einer so genannten Gemeinsamen Ökonomie (GemÖk).

Raibles derzeit siebenköpfige Gruppe hat sich entschieden, zwar nicht den Alltag gemeinsam zu bestreiten, wohl aber dessen Kosten. Die 25- bis 30-Jährigen betrachten ihre Einkommen – und gegebenenfalls später auch ihre Vermögenswerte – als etwas Kollektives. Von den Einzelnen verdientes Geld wird bedingungslos geteilt, individuelle Ausgaben sind ab einer gewissen Höhe gemeinsame Beschlusssache, so auch Raibles Reise. Die GemÖk geht damit eine finanzielle Verbindlichkeit mit- und füreinander ein, wie sie der Großteil sonst nur aus Partnerschaften oder der Kernfamilie kennt. Für Raible ist es ein Modell, dass ihm in unsicheren Zeiten genau das bietet, wonach er sucht: „Die Möglichkeit, mein Leben flexibel zu gestalten und dennoch ein stabiles Netz zu haben, auf finanzieller wie sozialer Ebene.“

Nichts Neues?

„Das Modell, das wir leben, ist im Grunde eine Beziehungsform, die es vorher nicht gab“, sagt Raible. Allgemein existieren solche Finanzkollektive aber natürlich auch in anderen Formen – und auch nicht erst seit gestern. Bis zu einem gewissen Grad bildet das bedingungslose Teilen von Ressourcen das soziale Fundament aller Gesellschaften. Der 2020 verstorbene US-Kulturanthropologe David Graeber, der an der London School of Economics and Political Science lehrte und einer der Initiatoren der Bewegung Occupy Wall Street war, nannte das ,baseline communism‘. In der Commons-Forschung finden sich dafür zahlreiche historische und zeitgenössische Beispiele. In der jüngeren Vergangenheit kennt man das etwa aus der Kommunenbewegung. Oder aus WGs mit Haushaltskasse. In wenig(er) entwickelten Ländern gibt es auch Praktiken des „Income Sharing“, etwa unter der bäuerlichen Landbevölkerung. Und Mikro-Finanz- und Micro-Insurance-Organisationen zählen – solange sie nicht einer Bank ähneln – ebenfalls am Rande dazu. Auch sie ermöglichen ein gewisses Maß an solidarischer Umverteilung von Geld. 

Mit GemÖks sind die erwähnten Formen aber nur bedingt vergleichbar. Zwar mögen sie teilweise ähnliche Intentionen und Effekte haben wie GemÖks. Jedoch sind sie ökonomisch weniger umfassend und sozialräumlicher be- oder auch entgrenzter. Im Gegensatz zu Kommunen wohnen die Mitglieder einer GemÖk zum Beispiel nicht zwingend in einem Haushalt, oft nicht einmal in derselben Stadt. Und im Unterschied zu Kreditzirkeln wird in GemÖk-Gruppen mit der „Du bekommst das, dafür gibst/machst du jenes“-Tauschlogik auch ein Stück weit gebrochen, weil sie Abhängigkeiten nur zementieren würde.

Natürlich muss bei den Gruppentreffen ausgehandelt werden, wer was wirklich braucht und was eigentlich gerecht ist. „Doch es geht eben nicht darum, dass man dem Topf nur so viel entnehmen darf, wie man eingebracht hat. Vielmehr sollen nach Möglichkeit die Bedürfnisse der Mitglieder erfüllt werden können“, so Raible. 

In diesem Sinne ist die GemÖk auch eine Ermöglicherin. Hinsichtlich der Flexibilisierung von Lebensentwürfen. Und weil sie Dinge realisierbar macht, die man allein finanziell nicht stemmen könnte – ob es sich nun um eine Auszeit handelt, den Kauf eines Laptops, die Bezahlung einer Therapie oder Fortbildung oder die Verringerung der Arbeitszeit zugunsten von nicht monetarisierbaren Tätigkeiten. Dazu gehören etwa politisches Engagement, Kindererziehung und Pflege, aber auch Hobbys und Ehrenämter, die dem Leben die nötige Prise Sinn und Selbstverwirklichung geben. Gleichzeitig nimmt die GemÖk die Angst vor Zeiten, in denen Krankheit oder Arbeitslosigkeit das eigene Einkommen schrumpfen lassen. Manche Gruppen sorgen auch kollektiv fürs Alter vor.

Anspruch versus Alltag

Die Motivation der einzelnen Gruppen(mitglieder) für die Teilnahme an dem – geplant: lebenslangen – „Kommunismus im Kleinen“-Experiment ist höchst verschieden. Von vielen, aber auch in der Literatur über solidarische Ökonomien, wird gern ihr Potenzial für sozialen, gesellschaftlichen Wandel betont (s. Kasten). Raible, der das Modell nicht nur im Alltag lebt, sondern sich auch im Rahmen seiner Masterarbeit damit beschäftigt hat, warnt jedoch, dass die idealistischen Ansprüche oft nicht eingelöst werden könnten. „Die biografische Prägung durch Klassenverhältnisse, Rollenverteilung und Patriarchat ist tief ins individuelle (Konsum-)Verhalten eingeschrieben. Und Lohnunterschiede im Außen machen auch nicht vor dem Innenraum der Gruppe halt.“ 

Sie erschweren es zum Beispiel, sich gegenseitig bei der Erwerbsarbeit abzulösen. Pfadabhängigkeiten in den Ausbildungswegen können auch dazu führen, dass sich Einkommensdifferenzen und damit Abhängigkeiten im Laufe der Jahre noch vergrößern. Und überhaupt ist die GemÖk kein Garant, dass individueller Wert nicht doch an der finanziellen Leistungsfähigkeit bemessen werde. Und „da GemÖks zudem auf Freiwilligkeit und spezifischen Werthaltungen beruhen und eine Tendenz zur sozialen Homogenität aufweisen, erscheint es mir auch unrealistisch, dass sie tatsächlich soziale Gerechtigkeit in größerem Maßstab herstellen können“, so Christoph Raible.

Persönliche Transformation

Damit stellt er aber nicht das Transformationspotenzial von GemÖks grundsätzlich infrage. Der Wandel findet nur eben eher auf persönlicher Ebene statt. Dort passiert dafür sehr viel. „Man lernt Einiges über das Aushandeln von Bedürfnissen und den Umgang mit Geld. Man hinterfragt eigene Privilegien und das Verständnis von Gerechtigkeit. Und man nimmt auch emotionale Hürden in Bezug auf Scham und Vertrauen“, so Raible. Durch eine GemÖk würde zwar Ungerechtigkeit auch innerhalb der Gruppe nicht einfach aufgelöst. „Aber mit ihr fängt die wesentliche Arbeit an, kapitalistische Einschreibungen in Denken, Fühlen und Verhalten aufzubrechen.“ 

Wie viele Menschen sich wie Christoph Raible und seine Mitstreiter:innen bereits zu GemÖks zusammengeschlossen haben? Unklar. Es lässt sich auch schwer erfassen. Viele Gruppen fliegen lieber unterm Radar, schon aufgrund des Unverständnisses des Umfelds. Auch befindet man sich bislang, etwa im Vergleich zu Ehen, in einem juristisch weitgehend ungeregelten Raum. Und so gibt es denn auch weder einen Dachverband noch ein Regelwerk für GemÖks. Die Ausgestaltung ist den Mitgliedern überlassen. Das fängt bei der Gruppengröße und -zusammensetzung an und reicht bis zu den Vereinbarungen für einen Austritt. 

Dass sichtbare Vorbilder und eine zugängliche Sammlung von Best-Practices fehlen, ist auch eines der größten Probleme im gelebten Alltag. Letztere Lücke will Christoph Raible mit seiner Masterarbeit etwas schließen. In ihr finden sich unter anderem Antworten auf Fragen, die im Laufe der Gründungs- und Laufphase einer GemÖk auftreten. „Meine Motivation war, praktisch anwendbares Wissen zu generieren, um eine größere Verbreitung dieser Praxis zu fördern“, so Raible. „Um Schwellen für Gruppengründungen weiter zu senken, wären zentrale Ansatzpunkte etwa ein anwenderfreundliches Buchhaltungssystem, Kooperationen mit progressiven Banken zur einfacheren Einrichtung eines Gemeinschaftskontos und eine Reglung des rechtlichen Status von GemÖks, etwa als Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR).“ 
Die Zahl jener, die sich nach einem GemÖk-Modell sehnen, scheint jedenfalls im Steigen begriffen. So haben sich im DACH-Raum in den vergangenen fünf Jahren mindestens ein Dutzend Gruppen gegründet, schätzt die erste GemÖk „Finanzcoop“, die Ende der 1990er entstand. 2019 hat sie ein Buch über ihr Konzept veröffentlicht. Seitdem melden sich immer mehr, meist junge Menschen, die sich für die Idee, Solidarität und Revolution im Alltag zu leben, begeistern. Doch wie ins Handeln kommen? „Einfach machen. GemÖks sind keine Raketenwissenschaft“, macht Raible Mut. Seine Praxistipps finden sich im Kasten.

Keimform der Zukunftsgesellschaft?

Raible hofft, dass das Momentum erhalten bleibt. So wertvoll GemÖks als Mikro-Experimentierfeld für kooperatives Wirtschaften aber auch sein mögen, „die Notwendigkeit politischer Makro-Maßnahmen zum Abbau von Ungerechtigkeit, wie etwa eine konsequente Besteuerung von Erbschaften, darf deshalb nicht vernachlässigt werden“, betont er. Ansonsten könnten GemÖks schlimmstenfalls zur bloßen Kompensation einer mangelhaften Sozialpolitik werden und Gefahr laufen, „sich mit den Verhältnissen abzufinden und nur noch zu versuchen, innerhalb der bestehenden Ordnung ein möglichst angenehmes Leben zu verwirklichen.“ 

In diesem Spannungsfeld müssen Mitglieder ihre politischen, gesellschaftlichen, finanziellen und sozialen Ansprüche und Ideale navigieren. „Für viele mag es schon revolutionär anmuten, eigenes Geld mit einer Gruppe zu teilen“, so Raible. „Doch erst wenn solche Praktiken auch jenseits persönlicher Vertrauensbeziehungen den Bruch mit kapitalistischen Handlungslogiken ermöglichen, scheint darin wirklich die Keimform einer commons-basierten Zukunftsgesellschaft auf“, in die Aktivist:innen wie etwa Kulturanthropologe David Graeber ihre Hoffnung setz(t)en.

 

Text: Daniela Schuster

Was können GemÖks?

Wandel, Reform oder gar Revolution?

Von GemÖk-Mitgliedern und in der Forschungsliteratur über Finanzkollektive und solidarische Ökonomien wird oft ihr Potenzial betont, zu sozialem, gesellschaftlichen Wandel beizutragen. Sie könnten zum Beispiel …

…. als Kompensator einer misslichen sozialen Herkunft dienen, soziale Mobilität fördern sowie klassenbedingte Machtdifferenzen in Bezug auf Einkommensungerechtigkeit – von Lohnspreizung bis zur Gender Pay Gap – oder familiäres Vermögen innerhalb der Gruppe ausgleichen.

… zu einer gleichen Wertschätzung unterschiedlicher Arbeit beitragen. Gruppenmitglieder wären nicht mehr gezwungen, die eigene Arbeitskraft marktförmig zu verwerten und würden nicht mehr aufgrund ihrer Leistung bewertet. Dies würde mehr Handlungsfähigkeit in Bezug auf die eigene Arbeits- und Lebensgestaltung schaffen, da auch risikoreiche Entscheidungen von der Gruppe abgefangen werden.

… einzelnen Mitgliedern ermöglichen, unbezahlter (politischer) Arbeit nachzugehen und so durch einen aktivistischen Lebensstil gesellschaftliche Veränderungen voranzutreiben. 

… insgesamt Existenzdruck mindern, Sicherheit schaffen und eine höhere Lebensqualität gewährleisten. Durch die Kollektivierung ökonomischer Sachzwänge und Schicksalsschläge könnten Individuen resilienter und handlungsfähiger werden. 

… als langfristiger, verbindlicher Bezugspunkt allgemein zu einem Gefühl von sozialer Sicherheit und Stabilität beitragen und aus queerfeministischer Perspektive auch ein Gegenmodell zum Primat der bürgerlichen (heterosexuellen) Kleinfamilie darstellen. 

… das offene Sprechen über Geld und finanzielle Verhältnisse enttabuisieren. 

… das gesellschaftliche Leitbild individueller Wohlstandsmaximierung in Frage stellen und eine gelebte Alternative zum kapitalistischen Wirtschaftssystem auf der Mikro-Ebene präsentieren.

„Diese Transformationspotenziale gewinnen zusätzliche Relevanz vor dem gesellschaftlichen Hintergrund wachsender sozialer Ungleichheit und der sozialen Fragmentation, die mit neoliberalen Anforderungen an die Flexibilisierung individueller Lebensentwürfe einhergeht“, so Christoph Raible.